Aktenzeichen M 12 K 18.227
Leitsatz
Für die Feststellung der Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG BeckRS 2012, 59367). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom 14. Dezember 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er hat auch keinen Anspruch auf Verkürzung der Wiedereinreise- und Aufenthaltssperre (§ 113 Abs. 5 VwGO).
1. Die in Nr. 1 des Bescheids der Beklagten vom 14. Dezember 2017 verfügte Ausweisung ist rechtmäßig.
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch die Beklagte getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Ein Ausländer, dem – wie dem Kläger – nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
a) Vom Kläger geht eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht vom Kläger eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die der Ausweisungsentscheidung und der Verurteilung des Amtsgerichts … vom … Mai 2017 zu Grunde liegenden Straftaten (unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Erwerb von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) sind schwerwiegend. Eine schwerwiegende Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, liegt bei schweren Betäubungsmitteldelikten vor, die regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden sind und das Leben und die Gesundheit anderer Menschen in schwerwiegender Weise gefährden. Der Schutz der Bevölkerung vor Betäubungsmitteln stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar, da der Handel mit Drogen eine Abhängigkeit von Drogenkonsumenten hervorruft oder aufrechterhält. Das Handeltreiben des Klägers mit Kokain stellt ebenso wie die Beihilfe zum Handeltreiben mit Kokain, indem er Drogendealern in seiner Wohnung einen sicheren Umschlagplatz gewährt hat, eine schwere Straftat dar. Kokain ist eine harte und besonders gefährliche Droge. Die nicht geringe Menge war jedenfalls in Bezug auf die Beihilfehandlung deutlich überschritten. Der Kläger verfügt zudem offensichtlich über zahlreiche Kontakte im Drogenmilieu. Ein minder schwerer Fall wurde vom Amtsgericht … ausdrücklich verneint.
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht. Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe: So hat der Kläger seit dem Jahr 2008 eine Vielzahl von Straftaten, insbesondere im Bereich der Körperverletzungs- und Betäubungsmitteldelikten, mit stetig steigender Delinquenz begangen. Er wurde bereits sechs Mal strafrechtlich verurteilt, zuletzt wegen Betäubungsmitteldelikten, insbesondere auch wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und Beihilfe hierzu, zu einer Freiheitstrafe von zwei Jahren und neun Monaten. Bereits am … April 2010 wurde der Kläger u.a. wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln verurteilt. Bewährungsstrafen konnten den Kläger ebenso wenig von erneuter Straffälligkeit abhalten wie erste Hafterfahrungen. Die seiner letzten Verurteilung zugrunde liegenden Straftaten hat der Kläger in offener Bewährung begangen. Es ist nicht ersichtlich, dass es einen einmaligen Anlass für diese Straftaten gab, der nunmehr weggefallen ist. Der psychiatrische Sachverständige hat im letzten Strafverfahren eine psychische Abhängigkeit des Klägers von Kokain festgestellt, so dass das Strafgericht davon ausgegangen ist, dass diese für die zuletzt begangenen Straftaten ursächlich war. In Fällen, in denen Straftaten aufgrund einer bestehenden Suchtmittelproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.). Zwar befindet sich der Kläger derzeit aufgrund einer Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 64 StGB in Therapie. Diese ist jedoch weder abgeschlossen noch hat sich der Kläger bislang über eine gewisse Zeit in Freiheit bewährt. Im Gegenteil ist der Kläger sogar im gesicherten Umfeld des Maßregelvollzugs am 16. August 2018, also nur gut einen Monat vor der mündlichen Verhandlung, rückfällig geworden, indem er Amphetamine konsumiert hat.
Eine erhebliche Wiederholungsgefahr besteht zudem auch für weitere Gewaltdelikte. Zwar hat der Kläger bereits ein Antiaggressionstraining (Bestätigung lt. JVA … … … aus dem Jahr 2010) absolviert und ist seit seiner Verurteilung vom … Oktober 2011 nicht mehr wegen Körperverletzungsdelikten strafrechtlich in Erscheinung getreten. Abgesehen davon, dass ihn das Antiaggressionstraining offenbar nicht von der Begehung einer vorsätzlichen Körperverletzung am … Juni 2011 (Urteil vom … Oktober 2011) abhalten konnte, ist der Kläger am 9. November 2017 in der JVA … … … aber wegen einer Tätlichkeit gegen einen Mitgefangenen disziplinarisch in Erscheinung getreten, weswegen seitens der JVA die Teilnahme an einer Gewaltpräventionsgruppe als indiziert angesehen wurde. Hierfür wurde der Kläger jedoch mangels ausreichender intrinsischer Motivation nicht berücksichtigt. Dass die Aggressionsproblematik des Klägers nicht ausreichend therapiert ist, zeigen im Übrigen auch die weiteren disziplinarischen Verstöße in der JVA am 5. Februar 2018 (Randalieren, Beschädigung von Anstaltseigentum) und im Maßregelvollzug am 7. September 2018 (Anschreien des Stationspersonals mit der Folge der Isolierung im Kriseninterventionszimmer).
An der Therapie- und Veränderungsmotivation des Klägers im Hinblick auf die Gewalt- und Suchtmittelproblematik bestehen für das Gericht angesichts der zahlreichen disziplinarischen Verstöße sowohl in der JVA als auch im Maßregelvollzug, seinem Rückfall im Maßregelvollzug trotz bereits verfügter Ausweisung, weiteren disziplinarischen Verstößen im Maßregelvollzug trotz des Rückfalls, der in der JVA festgestellten geringen intrinsischen Motivation zur Bearbeitung der Gewalt- und Drogenproblematik und der Erklärung des Klägers im Strafverfahren, an einer Unterbringung bzw. stationären Therapie nicht mitwirken zu wollen, erhebliche Zweifel. Zwar hat das kbo …-Klinikum dem Kläger zuletzt dennoch bestätigt, therapie- und veränderungsmotiviert zu sein. Auch seitens des kbo …-Klinikums kann derzeit aber keine sichere Prognose getroffen werden, dass der Kläger außerhalb des Maßregelvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (vgl. Schreiben vom 24. September 2018). Der Kläger ist nach seiner Rückstufung noch weit davon entfernt, eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen zu haben. Eine (erneute) therapeutische Bearbeitung der Gewaltproblematik hat er offenbar noch nicht in Angriff genommen. Eine neuerliche Straffälligkeit des Klägers nach Haftentlassung ist nach alledem wahrscheinlich und somit von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den Verlauf einer begonnenen Therapie abzuwarten, bevor sie über eine Ausweisung entscheidet (vgl. BVerwG, B.v. 15.4.2013 – 1 B 22.12 – juris).
b) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
Im Fall des Klägers besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Denn er wurde mit Urteil des Amtsgerichts … vom … Mai 2017 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt.
Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteresse überwiegt bei Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände im Fall des Klägers das öffentliche Interesse an der Ausreise sein Bleibeinteresse. Die Ausweisung ist angesichts der Gesamtumstände und unter Berücksichtigung der Anforderungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
Die Ausweisung von Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist, kann den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen (BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8/96 – juris Rn. 30). Obwohl der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, hier die Schule besucht, den qualifizierenden Hauptschulabschluss erreicht hat, er seine wesentliche Prägung und Entwicklung in Deutschland erfahren hat und die Mehrzahl seiner Verwandten hier leben, erscheint eine Verweisung auf ein Leben in seinem Heimatland nicht unzumutbar. Trotz seiner fast ausschließlichen Sozialisation im Bundesgebiet ist es angesichts der vom Kläger begangenen schwerwiegenden Straftaten im Bereich der Betäubungsmittel- und Gewaltdelikte und der von ihm auch weiterhin ausgehenden erheblichen Wiederholungsgefahr für den Kläger zumutbar, in das Land seiner Staatsangehörigkeit zu übersiedeln. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration des Klägers im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass er über keine gesicherte berufliche Position verfügt. Der Kläger hat keine Berufsausbildung abgeschlossen und war vor seiner Inhaftierung zuletzt arbeitslos. Er ist in Deutschland nicht beruflich integriert, sondern war nur in unregelmäßigen Abständen mit Hilfstätigkeiten erwerbstätig. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger, der bei seinen türkischen Eltern, die selbst aus der Türkei zugezogen sind, aufgewachsen ist, die Sprache seines Heimatlands jedenfalls insoweit beherrscht, dass er etwaige Defizite mit zumutbarer Anstrengung ohne Weiteres ausgleichen kann und dem Aufbau einer Existenz in der Türkei daher auch keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegensteht. Zudem hat der Kläger bereits sein Heimatland besucht. Er kann die ggf. vorhandenen kulturellen Hürden mit einiger – zumutbarer – Anstrengung überwinden und sich in sein Heimatland integrieren. Jedenfalls die Eltern des Klägers dürften über Kontakte in der Türkei verfügen, die der Kläger als erste Anlaufstelle nutzen könnte. Darüber hinaus ist der Kläger als erwachsener Mann in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Daher wird sich der Kläger in seinem Heimatland, insbesondere – angesichts seiner guten deutschen Sprachkenntnisse – in den Tourismusgebieten, eine neue Existenz aufbauen können. Weiter ist vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK und des Art. 6 GG zu berücksichtigen, dass große Teile der Familie des Klägers in Deutschland leben und er guten Kontakt zu diesen pflegt. Allerdings handelt es sich dabei mit Ausnahme seines Sohnes nicht um die Kernfamilie des Klägers. Der Kläger ist volljährig und damit nicht mehr auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen. Den Kontakt zu seinen im Bundesgebiet lebenden Verwandten kann der Kläger auch von der Türkei aus über Telekommunikationsmittel und Besuchsaufenthalte aufrechterhalten, auch wenn dies mit Schwierigkeiten verbunden sein mag. Zudem besteht auch die Möglichkeit der Erteilung von Betretenserlaubnissen (§ 11 Abs. 8 AufenthG). Soweit die Mutter des Klägers der Unterstützung und Pflege bedarf, ist es angesichts der erheblichen Straffälligkeit des Klägers dessen zahlreichen in Deutschland lebenden Verwandten zuzumuten, diese Pflege ohne Inanspruchnahme des Klägers zu organisieren.
Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung des minderjährigen Sohnes mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar. Bzgl. der Beziehung zu seinem Sohn ist nicht nur auf das Elternrecht des Klägers, sondern auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – NVwZ 2006, 682 f.). Die Rechtsprechung stellt bei der Gewichtung der Kindesinteressen maßgeblich auch darauf ab, ob „… ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt“ (BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – BVerfGK 14, 458 ff.; B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – NVwZ 2009, 387 f.). Ein solcher Fall ist hier aber nicht gegeben. Der Sohn des Klägers ist mittlerweile fünf Jahre alt und damit alt genug, um zu verstehen, dass die Trennung vom Vater nur vorübergehender Natur ist. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Kläger zwar nach eigenen Angaben vor seiner Inhaftierung am 11. August 2016 etwa 2 ½ Jahre mit seinem Sohn zusammengelebt, nach der Trennung von der Kindsmutter sein Umgangsrecht ausgeübt und Unterhalt gezahlt hat. Seit seiner Inhaftierung und damit bereits über zwei Jahre hat es jedoch keinerlei Besuchskontakte oder telefonische Kontakte des Klägers mit seinem Sohn gegeben. Für den minderjährigen Sohn ist die Trennung vom Kläger daher gelebte Realität, so dass auch ein längerer Auslandsaufenthalt – unterbrochen durch ggf. länger andauernde Betretenserlaubnisse (§ 11 Abs. 8 AufenthG) – für das Kind keine grundlegende Umwälzung seiner bisherigen Lebensbedingungen bewirkt. Zudem kann der Kontakt auch durch die verschiedenartigen Formen moderner Kommunikation aufrechterhalten werden. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass den Kläger auch die Geburt seines Sohnes im Jahr 2013 nicht zur Einsicht bewogen hat, ein straffreies Leben zu führen. Vielmehr ist er im Jahr 2016 mit noch höherer krimineller Energie erneut massiv straffällig geworden.
Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Schwere der vom Kläger begangenen Taten und der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
2. Die in der Klage gegen die Ausweisungsverfügung regelmäßig als „Minus“ enthaltene Verpflichtungsklage auf Verkürzung der Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung nach § 11 AufenthG bleibt ebenfalls ohne Erfolg (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Nr. 2 des angegriffenen Bescheids in der durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung geänderten Fassung auf fünf Jahre im Falle nachgewiesener Straf- und Drogenfreiheit, anderenfalls auf sieben Jahre, weist keine Rechtsfehler auf.
Die Ausweisung des Klägers hat gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Dieses ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – Rn. 50).
Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf fünf Jahre bei nachgewiesener Straf- und Drogenfreiheit, anderenfalls auf sieben Jahre, nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Rahmen. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde und außerdem von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (s.o). Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck sowie die familiären und persönlichen Bindungen des Klägers berücksichtigt. Angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der hohen Wiederholungsgefahr wäre – ohne Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet – auch eine höher bemessene Frist zur Erreichung des Zwecks der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt. Da sich die Frist aber an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK messen lassen muss, ist unter Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers eine Frist von fünf Jahren unter o.g. Bedingungen, anderenfalls von sieben Jahren, nicht zu beanstanden. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
3. Die Abschiebung unmittelbar aus der Haft ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 4 AufenthG. In diesem Fall bedarf es keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen wird, ergeben sich aus §§ 58 Abs. 1 und 59 Abs. 1 AufenthG und sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).