Verwaltungsrecht

Rechtmäßigkeit der Anordnung eines Platzverweises, einer Ingewahrsamnahme und einer ärztlichen Überprüfung der Gewahrsamstauglichkeit bei häuslicher Auseinandersetzung

Aktenzeichen  10 C 16.637

Datum:
1.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 40 Abs. 1 S. 1, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
BayPAG BayPAG Art. 16, Art. 17 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3, Art. 18
BayKG BayKG Art. 1 Abs. 1 S. 1, Art. 2 Abs. 1 S. 1, Art. 10 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5

 

Leitsatz

1. Streitverfahren zur nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung (polizeiliche Ingewahrsamnahme) sind gemäß Art. 18 Abs. 2, Abs. 3 S. 2 BayPAG der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen. Die Verweisung eines solchen Rechtsstreits durch die Verwaltungsgerichte kommt für Verfahren, die einen isolierten, für eine noch zu erhebende Klage gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe betreffen, nicht in Betracht (VGH München BeckRS 2014, 57769 Rn. 28 mwN; stRspr). (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine ärztliche Prüfung der Gewahrsamstauglichkeit desjenigen, gegen den ein sog. Sicherheits- oder Unterbringungsgewahrsam bzw. ein Gewahrsam zur Durchsetzung einer Platzverweisung angeordnet worden ist, kann aus Fürsorgegründen im Falle einer erheblichen Alkoholisierung und wegen möglicher Folgen einer Kopfverletzung erforderlich sein. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 7 KO 15.1383 2016-02-29 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

Mit der Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihren in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, ihr für eine noch zu erhebende Anfechtungsklage gegen die Kostenrechnung des Polizeipräsidiums München vom 11. März 2015 sowie eine beabsichtigte Klage auf (nachträgliche) Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme der Antragstellerin Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihr ihren Prozessbevollmächtigten beizuordnen.
Die zulässige Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für dieses Klageverfahren zu Recht abgelehnt, weil die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht vorliegen. Denn die beabsichtigte Rechtsverfolgung bot zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungs- oder Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (st. Rspr.; vgl. z. B. BayVGH, B.v. 10.2.2016 – 10 C 15.849 – juris Rn. 3 m. w. N.) keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Bewilligungs- oder Entscheidungsreife tritt regelmäßig nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie nach einer Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme ein, also im vorliegenden Fall spätestens mit Eingang der Erwiderung des Polizeipräsidiums München beim Verwaltungsgericht am 6. Juli 2015.
Zur beabsichtigten Feststellungsklage der Antragstellerin hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass insoweit schon der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht eröffnet ist, weil Streitverfahren zur nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung (polizeiliche Ingewahrsamnahme der Antragstellerin) gemäß Art. 18 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 PAG der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen sind, und es deshalb bereits an dieser Sachentscheidungsvoraussetzung fehlt. Die Verweisung dieses Rechtsstreits an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtswegs kommt für Verfahren, die wie hier einen isolierten, für eine noch zu erhebende Klage gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe betreffen, nicht in Betracht (st. Rspr.; vgl. BayVGH, B.v. 29.9.2014 – 10 C 12.1609 – juris Rn. 28 m. w. N.).
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht auch fehlende hinreichende Erfolgsaussichten einer gegen die Kostenrechnung des Polizeipräsidiums München vom 11. März 2015 gerichteten Anfechtungsklage angenommen, weil der Antragsgegner von der Antragstellerin in rechtlich nicht zu beanstandender Weise die Kosten der ärztlichen Prüfung ihrer Gewahrsamstauglichkeit im Rahmen des Gewahrsams am 1. Februar 2015 gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 Satz 1, Art. 10 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 5 KG, Nr. 2.II.5/4 Kostenverzeichnis verlangt. Dabei ist das Verwaltungsgericht ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass sowohl die der ärztlichen Prüfung zugrunde liegende polizeiliche Maßnahme – polizeiliche Ingewahrsamnahme der Antragstellerin am Sonntag, 1. Februar 2015, bis 9:35 Uhr (Entlassungszeitpunkt) – rechtmäßig als auch die ärztliche Prüfung der Gewahrsamstauglichkeit der Antragstellerin erforderlich war. Die unmittelbar gegen die ärztliche Gebührenrechnung dem Grunde und der Höhe nach erhobenen Einwendungen der Antragstellerin hat das Verwaltungsgericht ebenfalls zu Recht als nicht durchgreifend erachtet. Auf die zutreffende Begründung des Erstgerichts wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug genommen.
Im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen der Antragstellerin wird ergänzend auf Folgendes hingewiesen:
Es kann letztlich dahinstehen, ob die polizeiliche Ingewahrsamnahme der Antragstellerin am 1. Februar 2015 ihre gesetzliche Stütze in der Befugnis nach Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 1. Halbs. PAG (sogenannter Sicherheits- oder Unterbindungsgewahrsam; vgl. die diesbezügliche Angabe der Polizeibeamten auf dem ausgefüllten Formblatt zum Gewahrsam am 1.2.2015, Bl. 6 f. der Behördenakte) oder – entsprechend der Begründung des Verwaltungsgerichts – nach Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 PAG (Gewahrsam zur Durchsetzung der gegenüber der Antragstellerin zuvor ausgesprochenen Platzverweisung nach Art. 16 PAG) findet. Denn die Voraussetzungen beider Befugnistatbestände lagen in der konkreten Situation vor.
Die gegenüber der Antragstellerin mündlich verfügte Platzverweisung in Form eines Betretungsverbots (Rückkehrverbot) für ihre Wohnung gemäß Art. 16 Satz 1 2. Alt. PAG war rechtmäßig, weil es durch diese Maßnahme eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Form weiterer Körperverletzungs- bzw. Gewalthandlungen durch eine Fortsetzung der häuslichen Auseinandersetzung zwischen der Antragstellerin und ihrem noch in der Wohnung befindlichen Lebensgefährten zu verhindern galt. Bei der dabei anzustellenden Gefahrenprognose kommt es entscheidend auf die konkreten Verhältnisse und Gegebenheiten zum Zeitpunkt der Maßnahme an (ex-ante-Betrachtung aus der Sicht des für die Polizei handelnden Amtswalters; vgl. z. B. BayVGH, B.v. 23.6.2016 – 10 ZB 14.1058 – Rn. 22).
Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat das Verwaltungsgericht die Verhältnisse und Gegebenheiten in der konkreten Situation nicht falsch bewertet. Aufgrund der heftigen auch körperlichen Auseinandersetzung zwischen der Antragstellerin und ihrem Lebensgefährten und Mitbewohner mit den festgestellten jeweiligen Verletzungen, des von den herbeigerufenen Polizeibeamten in der Wohnung gefundenen Küchenmessers mit einem darauf befindlichen Blutstropfen, der erheblichen Alkoholisierung beider Bewohner und nicht zuletzt des äußerst uneinsichtigen, aggressiven und unkooperativen Verhaltens der Antragstellerin mussten die Polizeibeamten von einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch erneute wechselseitige Körperverletzungs- und Gewaltdelikte im Fall der angekündigten Rückkehr der Antragstellerin in die gemeinsame Wohnung ausgehen. Dabei ist letztlich unerheblich, ob bei der zu erwartenden unmittelbaren Fortsetzung der körperlichen Auseinandersetzung auch von einer (erneuten) Bedrohung des Mitbewohners durch die Antragstellerin mit einem Messer auszugehen war. Unerheblich für die anzustellende Gefahrenprognose ist entgegen der Auffassung der Antragstellerin auch, dass die Staatsanwaltschaft das gegen sie geführte Ermittlungsverfahren wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung schließlich mit Verfügung vom 24. Juni 2015 aus tatsächlichen Gründen eingestellt hat, weil ein strafbares Handeln aus tatsächlichen Gründen (es stehe letztlich Aussage gegen Aussage) nicht nachzuweisen sei. Dass (auch) die Antragstellerin erheblich alkoholisiert war, ergibt sich nicht nur aus den diesbezüglichen Wahrnehmungen der beteiligten Polizeibeamten (vgl. Sachverhaltsschilderung vom 6.5.2015, Bl. 19 der Behördenakte), sondern vor allem aus dem aufgrund eines freiwilligen Atemalkoholtests ermittelten Werts bei der Antragstellerin von 0,63 mg/l.
Zur Durchsetzung des gegenüber der Antragstellerin als Störerin (Art. 7 Abs. 1 PAG) rechtmäßig verfügten Platzverweises konnte die Polizei diese nach Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 PAG auch in Gewahrsam nehmen, weil eine erfolgreiche Durchsetzung der Anordnung mit Mitteln des Zwangs gemäß Art. 53 ff. PAG nicht zu erwarten war. Da die Antragstellerin offensichtlich trotz eindringlicher Belehrung nicht bereit war, dem polizeilichen Platzverweis nachzukommen, sondern unter allen Umständen in ihre Wohnung zurück wollte, war die Ingewahrsamnahme zur Durchsetzung des Rückkehrverbots auch unerlässlich.
Aufgrund der festgestellten Umstände zum Zeitpunkt der polizeilichen Maßnahme lagen daneben auch die Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 1. Halbs. PAG vor. Denn die Ingewahrsamnahme der Antragstellerin war in der konkreten Situation unerlässlich, um die unmittelbare Fortsetzung insbesondere von Körperverletzungsdelikten im Rahmen der häuslichen Auseinandersetzung mit dem Lebensgefährten zu verhindern. Die Annahme, dass die Begehung derartiger Taten gegen die körperliche Unversehrtheit unmittelbar bevorsteht, war dabei schon aufgrund des bisherigen Verlaufs der Auseinandersetzung und des Polizeieinsatzes sowie des uneinsichtigen, aggressiven und unkooperativen Verhaltens der Antragstellerin gerechtfertigt.
Der Einwand, die Ingewahrsamnahme sei ohne Einholung einer richterlichen Entscheidung nach Art. 18 Abs. 1 PAG rechtswidrig gewesen, weil diese Entscheidung vom zeitlichen Ablauf her ohne weiteres hätte ergehen können, verkennt, dass der Gewahrsam am Sonntag, 1. Februar 2015, lediglich von 2:15 Uhr bis 9:35 Uhr gedauert hat. Deshalb war die Annahme, die Entscheidung des Richters würde erst nach Wegfall des Grundes der polizeilichen Maßnahme ergehen (Art. 18 Abs. 1 Satz 2 PAG), aus der ex-ante-Sicht der handelnden Polizeibeamten keine Fehleinschätzung.
Auch wenn ihre bei der Auseinandersetzung mit ihrem Lebensgefährten erlittene Verletzung (Platzwunde an der Stirn) durch den herbeigerufenen Rettungsdienst bereits notfallmäßig versorgt worden war, war die Prüfung der Gewahrsamstauglichkeit entgegen der Ansicht der Antragstellerin schon aus Fürsorgegründen im Hinblick auf ihre erhebliche Alkoholisierung und mögliche Folgen der Kopfverletzung erforderlich.
Die gegen die Abrechnung der ärztlichen Leistungen bei der am 1. Februar 2015 um 4:45 Uhr durchgeführten Untersuchung der Gewahrsamstauglichkeit vorgebrachten Einwendungen greifen ebenfalls sämtlich nicht durch. Die Antragstellerin ist ausweislich des bei den Akten (Bl. 1 der Behördenakte) befindlichen und von ihr unterzeichneten Formulars über die polizeiliche Maßnahme (Ingewahrsamnahme) und in dem Zusammenhang auch über möglicherweise entstehende Kosten (z. B. Arztkosten) belehrt worden. Dass der sie untersuchende Arzt approbiert und (damals) in der ärztlichen Praxis seiner Mutter angestellt war, ist nicht zweifelhaft; die gegenteiligen Behauptungen in der Beschwerdebegründung sind offensichtlich aus der Luft gegriffen. Auch die weiteren abrechnungsbezogenen Rügen, der angesetzte Betrag für eine 15-minütige Untersuchung sei zu hoch, der Zuschlag für Sonntag unberechtigt, eine vollständige körperliche Untersuchung habe nicht stattgefunden, die Berechnung des Wegegeldes sei nicht nachvollziehbar, die Kostenansätze Nr. 19a („kurze Bescheinigung“) und Nr. 21 bis 23 (oxymetrische Untersuchung, eingehende neurologische Untersuchung, Blutzuckerbestimmung) seien mangels Nichterbringung dieser Leistungen unberechtigt, sind – wie bereits das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat – lediglich unsubstantiierte Behauptungen. Dass die entsprechenden ärztlichen Untersuchungen bei der Antragstellerin tatsächlich durchgeführt wurden, ergibt sich nicht zuletzt aus den Befundangaben des herbeigerufenen Arztes auf dem zur Feststellung der Gewahrsamstauglichkeit ausgestellten „Notfall-/Vertretungsschein“ (Bl. 4a der Behördenakte).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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