Verwaltungsrecht

Rechtsverletzung durch Verlagerung der Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse auf die Ausländerbehörde

Aktenzeichen  RO 4 K 15.32008

Datum:
19.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 20 Abs. 3

 

Leitsatz

Wurde den Eltern eines minderjährigen, in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Asylantragstellers bereits in einem anderen Staat der Europäischen Union der Flüchtlingsstatus zuerkannt, begründen der Schutz und die Wahrung der Familieneinheit – Anlehnung an Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO – die Zuständigkeit des Mitgliedsstaates für die Prüfung des Asylantrags. (redaktioneller Leitsatz)
Die durch Erlass einer Abschiebungsandrohung – anstelle einer zu treffenden Abschiebungsanordnung – erfolgte Verlagerung der Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse auf die Ausländerbehörde verstößt gegen die in § 34a Abs. 1 AsylG angeordnete ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamtes. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26.11.2015 wird in Ziffer 2 Sätze 1 bis 3 und in Ziffer 3 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III.
Die Kosten des Verfahrens haben der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige .Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Anfechtungsklage ist zulässig und begründet, soweit sie gegen Ziffer 2 Sätze 1 bis 3 (dazu 3) und Ziffer 3 (dazu 4) des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes vom 26.11.2015 gerichtet ist, da der Bescheid insoweit rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)). Soweit die Aufhebung von Ziffer 2 Satz 4 des Bescheides des Bundesamtes vom 26.11.2015 begehrt wird, ist die Klage unzulässig (dazu 1), soweit sie gegen Ziffer 1 gerichtet ist, ist sie unbegründet (dazu 2).
1. Für die Anfechtungsklage gegen Ziffer 2 Satz 4 des Bescheides des Bundesamtes vom 26.11.2015 fehlt dem Kläger die Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO). Der Kläger wird durch die auf §60 Abs. 10 Satz 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) beruhende Feststellung, dass für ihn ein Abschiebungsverbot in den Iran besteht nicht beschwert.
2. Zutreffend hat die Beklagte in Nr. 1 des Bescheids festgestellt, dass der gestellte Asylantrag nach § 27a AsylVfG unzulässig ist. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Eine solche Zuständigkeit kann sich z. B. aus der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABI L 180 S. 31, Dublin NI-VO), ergeben (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17. August 2015 – 11 B 15.50110 -, juris). Die Zuständigkeit Ungarns für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers begründet sich hier aus dem Schutz und der Wahrung der Familieneinheit und einer insoweit über Art 20 Abs. 3 Dublin lIl-VO vermittelten verfahrensrechtlichen Akzessorietät zum Verfahren seiner Eltern. Danach ist nämlich für die Zwecke der Dublin lIl-VO die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist., auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Ebenso wird bei Kindern verfahren, die – wie hier – nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss. Der Umstand, dass die Eltern des Klägers zum jetzigen Zeitpunkt selbst keine Antragsteller (mehr) im Dublin-Verfahren sind bzw. sie wegen des ihnen in Ungarn zuerkannten internationalen Schutzes aktuell auch nicht mehr von der Dublin-lll-VO erfasst werden, ändert daran nichts. Entscheidend ist vielmehr, dass Ungarn nach den Kriterien der Dublin lll-VO für die Durchführung ihres Asylverfahrens zuständig war und infolge dessen zur Wahrung der Familieneinheit auch für das des Klägers, dem in Ungarn ebenso Familienflüchtlingsschutz zustehen dürfte. Dies steht auch im Einklang mit den Erwägungen des europäischen Verordnungsgebers, nach denen mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat sichergestellt werden kann, dass die Anträge sorgfältig geprüft werden, diesbezügliche Entscheidungen kohärent sind und dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden (siehe zum Ganzen Verwaltungsgericht Meiningen, Beschluss vom 4.12,2014, Az.: 5 E 20238/14 -juris).
3. Die in Ziffer 2 Satz 1 bis 3 des streitgegenständlichen Bescheides angeordnete Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig, weil es hierfür an einer Rechtsgrundlage fehlt und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt wird.
a. § 34 Asylgesetz (AsylG) kommt hier als Rechtsgrundlage für den Erlass der Abschiebungsandrohung nicht in Betracht, da dessen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Die hierfür erforderliche inhaltliche Prüfung des Asylantrags des Klägers (§ 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist nicht erfolgt.
b. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann die Abschiebungsandrohung hier auch nicht anstelle einer Abschiebungsanordnung nach §§ 34a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. 26a AsylG erlassen werden, weil sie als „Minus“ zu dieser anzusehen sei. Abschiebungsandrohung und Abschiebungsanordnung stellen gerade keine teilidentischen Vollstreckungsmaßnahmen dar (BVerwG, Beschluss vom 23.10.2015, Az.: 1 B 41/15 -juris). Der Gesetzgeber hat in § 34a AsylG – abweichend von der grundsätzlichen Aufgabenverteilung im Asylverfahrens- und im Ausländerrecht – das Bundesamt ausdrücklich dazu bestimmt, bereits bei Erlass einer Entscheidung nach den §§ 26a, 27a AsylG auch inländische Vollstreckungshindernisse zu prüfen, um den Ausländer rasch und ohne die Möglichkeit einer entgegenstehenden Entscheidung der Ausländerbehörde abschieben, zu können. Durch die gewählte Vorgehensweise entzieht sich die Beklagte dieser in § 34a AsylG vorgesehenen ausdrücklichen Zuständigkeitsverteilung. Die Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse wird nämlich dadurch auf die Ausländerbehörde verlagert (Verwaltungsgericht Ansbach, Urteil vom 15.1.2016, Az.: AN 14 K 15.50060-juris mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung, siehe auch Verwaltungsgericht Ansbach, Urteil vom 30.3.2016, Az.: AN 3 K 15.50318 – juris).
c. Darin liegt hier die Rechtsverletzung des Klägers. Durch die Verlagerung der Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse auf die Ausländerbehör- de wird nämlich der Rechtsschutz für den Kläger verkürzt. Gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG wäre es dem Kläger möglich, gegen eine Abschiebungsanordnung einen Antrag nach § 80 Abs. 5 AsylG zu stellen. Bis zur gerichtlichen Entscheidung über diesen Antrag wäre die Abschiebung unzulässig
(§ 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG). Demgegenüber können Anträge im vorläufigen Rechtsschutz, mit denen im Rahmen von § 34 Abs. 1 AsylG zu berücksichtigende Abschiebungsverbote geltend gemacht werden, nur über § 123 Abs. 1 VwGO verfolgt werden, was den Kläger vor höhere Darlegungshürden stellen würde (Verwaltungsgericht Ansbach, Urteil vom 15.1.2016, Az,: AN 14 K 15.50060 -juris mit weiteren Hinweisen auf die Rspr.).
4. Soweit sich die Klage gegen die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides ausgesprochene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG richtet, ist sie begründet. Das in § 11 Abs. 1 AufenthG geregelte gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot kommt zwar erst zum Tragen, wenn der Ausländer ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist. Im Falle des Klägers fehlt es dafür im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Sätze 1 bis 3 der Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides derzeit an einer Vollstreckungsmaßnahme, aufgrund derer die Abschiebung durchgeführt werden könnte. Die Ziffer 3 läuft daher im entscheidungserheblichen Zeitpunkt ins Leere. Dennoch entfaltet sie einen Rechtsschein, der dazu geeignet ist, den Kläger zu belasten. Aus diesem Grund war der Klage auch insoweit stattzugeben.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
6. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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