Verwaltungsrecht

Rechtswidrige Offensichtlichkeitsentscheidung wegen Annahme eines Verstoßes gegen Mitwirkungspflichten

Aktenzeichen  M 23 S 17.70510

Datum:
6.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 7566
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 15 Abs. 2 Nr. 4, § 30 Abs. 3 Nr. 5, § 36 Abs. 4 S. 1

 

Leitsatz

Ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG setzt voraus, dass sich der Ausländer tatsächlich im Besitz eines Passes befindet (OVG NRW BeckRS 2004, 21406, BayVGH BeckRS 2000, 22196). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 28. Dezember 2017 (Az. M 23 K 17.70509) gegen Nummer 5 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. Dezember 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), durch den sein Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt worden ist.
Er stellte am 13. August 2013 beim Bundesamt einen Asylantrag.
In der am 17. August 2017 erfolgten persönlichen Anhörung gemäß § 25 AsylG gab der Antragsteller unter anderem an, er habe sich nach seiner im Jahre 2007 erfolgten Ausreise aus Pakistan bis Mitte 2013 in Griechenland aufgehalten und sei anschließend von dort nach Deutschland ausgereist. Niederschriftlich festgehalten wurde zudem, dass er angegeben hatte, seine Personalpapiere in Griechenland zurückgelassen zu haben, damit ihn die deutschen Behörden nicht zurückschicken. Zu seinem Verfolgungsschicksal befragt gab der Antragsteller nach der zur Anhörung angefertigten Niederschrift an, es sei in seinem Heimatort bei Gujrat gefährlich. Im Jahr 2000 habe es einen Bombenangriff auf sein Elternhaus gegeben. Hierbei seien seine Großmutter und eine Schwester umgekommen. Dergleichen sei jeden Tag passiert. Er habe auch versucht, in einen anderen Landesteil zu gehen. Nachdem man ihn dort schlecht behandelt habe, habe er dies aufgegeben. Seine Arbeitgeber würden ihn nicht bezahlen. Er fürchte im Falle einer Rückkehr von diesen verletzt zu werden. Zu seinem Gesundheitszustand befragt gab der Antragsteller an, sich derzeit in ärztlicher Behandlung zu befinden und Schlafsowie Kopfschmerztabletten einzunehmen. Hierzu reichte er fünf ärztliche Bescheinigungen einer Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde ein. In den Überweisungen vom 26. September 2016 sowie vom 8. Dezember 2016 werden die Diagnose einer schweren depressiven Reaktion sowie der Verdacht auf eine Posttraumatische Belastungsstörung gestellt. In weiteren Überweisungen vom 10. Januar 2017 und 5. April 2017 werden Kalmottenkopfschmerzen sowie eine Posttraumatische Belastungsstörung sowie in der Überweisung vom 5. April 2017 eine reaktive depressive Verstimmung diagnostiziert.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 19. Dezember 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) jeweils als „offensichtlich unbegründet“ ab, stellte fest, dass nationale Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 4), drohte dem Antragsteller die Abschiebung nach Pakistan oder einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Staat an (Nr. 5) und befristete das im Fall einer Abschiebung eintretende gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate (Nr. 6). Zur Begründung der „offensichtlichen“ Unbegründetheit führte das Bundesamt aus, der Antragsteller habe seine Mitwirkungspflichten gröblich verletzt, indem er seine Identitätskarte und seinen pakistanischen Reisepass vorsätzlich in Griechenland zurückgelassen habe, um bei der Aufklärung seiner Fluchtumstände nicht mitwirken zu können. Hierin sei eine schuldhafte Mitwirkungspflichtverletzung zu sehen. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.
Gegen diesen – am 16. Dezember 2017 als Einschreiben zur Post aufgegebenen – Bescheid erhob der Antragsteller am 28. Dezember 2017 über seinen Prozessbevollmächtigten Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 23 K 17.70509) und stellte gleichzeitig den Antrag,
die sofortige Vollziehbarkeit des streitgegenständlichen Bescheids außer Vollzug zu setzen.
Mit Schriftsatz vom 4. Januar 2018 nahm der Antragsteller zur Begründung der Klage und des Eilantrags über seinen Prozessbevollmächtigten im Wesentlichen mit der Begründung Stellung, dass die Anhörung durch einen voreingenommenen Anhörer erfolgt sei und die Niederschrift lediglich sinngemäß und unter Weglassung von Aussagen angefertigt worden sei.
Die Antragsgegnerin legte die Behördenakte elektronisch vor; eine Antragstellung unterblieb.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Behördenakte und die Gerichtsakte in diesem wie im Verfahren M 23 K 17.70509 verwiesen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der nach § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung hat in der Sache Erfolg.
Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, wobei Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166 ff.). Die gerichtliche Überprüfung der vom Bundesamt getroffenen Offensichtlichkeitsfeststellung hat im Hinblick auf den nach Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen effektiven Rechtsschutz aufgrund der als asylerheblich vorgetragenen oder zu erkennenden Tatsachen und in Anwendung des materiellen Asylrechts erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren zu erfolgen (BVerfG, B.v. 19.6.1990 – 2 BvR 369/90 – juris Rn. 20). Die Anforderungen entsprechen insofern denjenigen der Ablehnung einer asylrechtlichen Klage als offensichtlich unbegründet (BVerfG, B.v. 19.6.1990 a.a.O. juris Rn. 21). Anknüpfungspunkt für die Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs durch das Gericht ist daher die Prüfung, ob das Bundesamt den Antrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und ob diese Ablehnung auch weiterhin Bestand haben kann. Dabei hat das Gericht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Einschätzung des Bundesamtes, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG), zum Gegenstand der Prüfung zu machen. Dies ist zwar der gesetzlichen Regelung des § 36 AsylG nicht ausdrücklich zu entnehmen, jedoch gebieten die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 103 Abs. 1 GG die diesbezügliche Berücksichtigung auch im Verfahren nach § 36 AsylG (vgl. zur insoweit vergleichbaren Rechtslage nach § 51 Ausländergesetz 1990 BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166/221).
Nach Maßgabe der oben dargelegten Grundsätze bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils. Das Bundesamt stützt die entsprechende Bewertung auf § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG. Diese Bewertung des Bundesamts begegnet ernstlichen rechtlichen Bedenken. Nach § 30 Abs. 3 Nr. 5 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer seine Mitwirkungspflichten nach § 13 Abs. 3 Satz 2, § 15 Abs. 2 Nr. 3 bis 5 oder § 25 Abs. 1 AsylG gröblich verletzt hat, es sei denn, er hat die Verletzung der Mitwirkungspflichten nicht zu vertreten oder ihm war die Einhaltung der Mitwirkungspflichten aus wichtigen Gründen nicht möglich.
Der Antragsteller hat seine Mitwirkungspflicht entgegen der Ansicht des Bundesamts insbesondere nicht gemäß § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylG gröblich verletzt. Danach ist der Ausländer verpflichtet, seinen Pass oder Passersatz den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Diese Verpflichtung setzt jedoch voraus, dass sich der Ausländer tatsächlich im Besitz eines Passes befindet (OVG NRW, B.v. 9.2.2004 – 18 B 811/03; vgl. BayVGH, U.v. 11.7.2000 – 10 B 99.3200, jeweils juris; BeckOK AuslR/Sieweke/Kluth, 16. Ed. 1.11.2017, AsylG § 15 Rn. 5). Dies ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut, wonach es heißt, dass er „seinen“ Ausweis zu überlassen hat und geht zudem aus der Systematik der nummerisch in § 15 Abs. 2 AsylG aufgezählten Mitwirkungspflichten hervor. Ist der Ausländer nämlich nicht im Besitz der Dokumente, hat er gestuft nach § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG ausschließlich die Pflicht, an deren Beschaffung mitzuwirken. Im Übrigen begründet § 15 AsylG ausschließlich Mitwirkungspflichten von Ausländern im laufenden Asylverfahren und statuiert keine Pflichten im Vorgriff auf ein Asylverfahren.
Nachdem der Antragsteller angegeben hat, nicht im Besitz der Identitätsdokumente zu sein und sich dem Verwaltungsvorgang auch keine widersprechenden Angaben entnehmen lassen, scheiden Verstöße gegen Mitwirkungspflichten nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 und Nr. 5 AsylG aus. Das Bundesamt hätte dem Antragsteller die Gelegenheit geben müssen, an der Beschaffung der Identitätsdokumente mitzuwirken, wie es § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG auch vorsieht.
Die aufschiebende Wirkung der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO anzuordnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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