Verwaltungsrecht

Reintegrationshilfe ermöglicht Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern in sichere Landesteile Afghanistans

Aktenzeichen  Au 3 K 16.31161

Datum:
18.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK EMRK Art. 3
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG AsylG § 77 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Jedenfalls nachdem die Reintegrationshilfen durch das Europäische Reintegrationsprogramm “ERIN” erheblich ausgeweitet und erheblich effektiver gestaltet wurden, besteht für afghanische Familien mit zwei minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr nach Kabul, Bamiyan oder in einen anderen relativ sicheren Landesteil im Allgemeinen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen. (amtlicher Leitsatz)
2 Einer afghanische Familie mit zwei minderjährigen Kindern droht jedenfalls in Kabul, Bamiyan, Balkh oder in einem anderen relativ sicheren Landesteil nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen (Abweichung von VGH München BeckRS 2015, 42433). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, die gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG maßgeblich ist, haben die Kläger keinen Anspruch auf die Feststellung, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Die Voraussetzungen hierfür liegen nicht vor.
Sowohl das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG sind zielstaatsbezogen. Es handelt sich nicht um absolute, sondern relative, auf einen bestimmten Staat bezogene Abschiebungsverbote, die dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegenstehen, sondern lediglich zu deren Einschränkung führen (vgl. BT-Drucks. 12/2062, S. 44). Es geht jeweils (nur) um Gefahren, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen. Bezüglich § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG folgt dies unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorschrift („wenn dort für diesen Ausländer eine … Gefahr … besteht“). Hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt sich dies aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Gesetz sowie ihrem Sinn und Zweck (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12/27 Rn. 35 f. unter Hinweis auf BVerwG, U. v. 11.11.1997 – 9 C 13.96 – BVerwGE 105, 322/324 ff. zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG).
1. Selbst wenn man von der Richtigkeit der klägerischen Angaben im Verwaltungs- und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren – insbesondere über ihre (afghanische) Staatsangehörigkeit – ausgeht, droht den Klägern in Afghanistan jedenfalls in Kabul, Bamiyan, Balkh oder in einem anderen relativ sicheren Landesteil nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK aufgrund allgemeiner Gewalt oder schlechter humanitärer Bedingungen (vgl. VGH BW, U. v. 24.7.2013 – A 11 S 727/13 – juris; U. v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris; a.A. BayVGH, U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris ohne Erwähnung der genannten gegensätzlichen Urteile des VGH BW im Hinblick auf die zum Zeitpunkt der Entscheidung („derzeit“) in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen; zur Zumutbarkeit der Rückkehr afghanischer Familien mit minderjährigen Kindern vgl. auch OVG NW, B. v. 5.9.2016 – 13 A 1697/16.A – juris).
a) Aus Art. 3 EMRK folgt, dass die Abschiebung eines Ausländers in einen Staat unzulässig ist, in dem ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr droht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden. Die Bestimmung zielt ebenso wie die gesamte Europäische Menschenrechtskonvention hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Ihre grundlegende Bedeutung macht nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12/22 f. Rn. 25). Dies gilt jedenfalls insoweit, als die schlechten humanitären Bedingungen nicht nur oder überwiegend auf Aktionen von Konfliktparteien, sondern überwiegend auf Armut oder Naturereignisse zurückzuführen sind (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 a. a. O.). Für die Beurteilung, ob ganz außergewöhnliche Umstände vorliegen, die nicht in die unmittelbare Verantwortung des Abschiebungszielstaats fallen und die dem abschiebenden Staat nach Art. 3 EMRK eine Abschiebung verbieten, ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob solche Umstände an dem Ort vorliegen, an dem die Abschiebung endet (vgl. BVerwG, U. v. 31.1.2013 a. a. O. S. 23 Rn. 26).
b) Die allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan sind zumindest nicht in allen Landesteilen so ernst/schlecht, dass die Abschiebung einer vierköpfigen Familie wie die der Kläger, die keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände aufweisen, eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde. Die Sicherheitslage und damit auch die wirtschaftliche Situation in Afghanistan weisen starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Es gibt Regionen, z. B. in den Provinzen Kabul, Balkh, Herat, Bamiyan und Panjshir, die im Vergleich mit anderen Landesteilen relativ sicher sind und wirtschaftlich moderat prosperieren (vgl. Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 6.11.2015, Stand November 2015 – Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015 – Zusammenfassung S. 4). Dass jedenfalls die drei Provinzen Kabul, Bamiyan und Panjshir relativ sicher sind, hat auch der afghanische Minister für Flüchtlinge und Repatriierung Balkhi bestätigt, obwohl dieser im Gegensatz zur offiziellen Linie der afghanischen Regierung der Rückführung afghanischer Flüchtlinge aus den EU-Ländern grundsätzlich ablehnend gegenübersteht (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 24). Daran ändert auch der Anschlag zweier Selbstmordattentäter nichts, die sich am 23. Juli 2016 inmitten eines Demonstrationszugs der Hazara auf einem zentralen Platz in Kabul in die Luft sprengten und mindestens 80 Menschen töteten und 230 Menschen verletzten (vgl. www.tagesschau.de/ausland/kabulexplosion-105.html). Die Demonstration richtete sich gegen die geplante Trassenführung einer Hochspannungsleitung. Bei dem Anschlag, zu dem sich der sog. Islamische Staat bekannte und von dem sich die Taliban distanzierten, handelt es sich um ein singuläres Ereignis, das die allgemeine Sicherheitslage für die Bevölkerung Kabuls im allgemeinen und die Volksgruppe der Hazara im besonderem nicht wesentlich verändert hat. Weil bei der Niederlassung in einem bestimmten Landesteil ethnische Gesichtspunkte nicht außer Acht gelassen werden können (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, Zusammenfassung S. 4), ist es für Angehörige der Volksgruppe der Hazara, zu denen auch die Kläger gehören, von besonderer Bedeutung, dass gerade ihr Hauptsiedlungsgebiet, nämlich die Provinz Bamiyan zu den (relativ) sicheren Provinzen gehört. Wie das Beispiel der rund 100.000 pakistanischen Paschtunen zeigt, die wegen der Kämpfe mit der pakistanischen Armee allein im Juni 2014 laut UNHCR aus dem pakistanischen Nord-Waziristan nach Afghanistan gekommen sind und oft direkt von paschtunischen Familien in den afghanischen Nachbarprovinzen Paktika und Khost aufgenommen worden sind, gibt es in Afghanistan über den eigenen Familienverband hinaus eine große Solidarität und Hilfsbereitschaft innerhalb des eigenen Stammesverbandes bzw. der eigenen Volksgruppe (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, III. 5. Lage ausländischer Flüchtlinge S. 22). Dementsprechend erachtet auch der UNHCR eine interne Schutzalternative dann als zumutbar, wenn die (erweiterte) Familie oder die ethnische Gemeinschaft der Person willens und in der Lage sind, diese in der Praxis tatsächlich zu unterstützen (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016, 3. f.).
c) Trotz kontinuierlicher Fortschritte, die z. B. zu einem Anstieg der Lebenserwartung bei Geburt um 22 Jahre und einem deutlichen Rückgang der Mütter- und Kindersterblichkeit über das letzte Jahrzehnt geführt haben, belegte Afghanistan im Jahr 2015 nur Platz 171 von 188 im Human Development Index der Vereinten Nationen (im Jahr 2011 Platz 172). Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung. Das World Food Programm reagiert das ganze Jahr hindurch in verschiedenen Landesteilen auf Krisen bzw. Notsituationen wie Dürre, Überschwemmungen oder extremen Kälteeinbruch. Gerade der Norden – eigentlich die „Kornkammer“ des Landes – ist extremen Natureinflüssen wie Trockenheiten, Überschwemmungen und Erdverschiebungen ausgesetzt. Die aus chronischer Unterentwicklung zusammen mit bewaffneten Konflikten resultierenden Folgeerscheinungen haben im Süden und Osten Afghanistans dazu geführt, dass dort ca. 1 Mio. oder fast ein Drittel aller Kinder als akut unterernährt gelten (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.1 Grundversorgung S. 24). Der Anteil der Menschen, die unterhalb der nationalen Armutsgrenze leben, beträgt im landesweiten Durchschnitt rund 36 Prozent. Die Arbeitslosenquote stieg im Oktober 2015 auf 40 Prozent (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Rückkehrfragen S. 23).
Die medizinische Versorgung leidet trotz erkennbarer und erheblicher Verbesserungen landesweit weiterhin an unzureichender Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausstattung der Kliniken, insbesondere aber an fehlenden Ärzten und Ärztinnen sowie gut qualifiziertem Assistenzpersonal (v.a. Hebammen). Im Jahr 2013 stand 10.000 Einwohnern Afghanistans statistisch gesehen eine medizinisch qualifizierte Person gegenüber. Durch die gute ärztliche Versorgung im „French Medical Institute“ und dem Deutschen Diagnostischen Zentrum in Kabul können allerdings Patienten einschließlich Kinder auch mit komplizierteren Krankheiten in Kabul behandelt werden (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.2 Medizinische Versorgung S. 24 f.).
Das rapide Bevölkerungswachstum stellt eine weitere Herausforderung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes dar. Zwischen 2012 und 2015 wird das Bevölkerungswachstum auf rund 2,4 Prozent pro Jahr geschätzt, was in etwa einer Verdoppelung der Bevölkerung innerhalb einer Generation gleichkommt. Die Möglichkeiten des afghanischen Staates, die Grundbedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu befriedigen und ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen, etwa im Bildungsbereich, zur Verfügung zu stellen, geraten dadurch zusätzlich unter Druck (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 23 f.).
Allerdings gibt es traditionell ein eklatantes Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten. Während es in ländlichen Gebieten vielerorts etwa an grundlegender Infrastruktur für Energie, Trinkwasser und Transport fehlt, ist die Situation in der Hauptstadt Kabul und in den Provinzhauptstädten erheblich besser (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1. Situation für Rückkehrer und allgemeine wirtschaftliche Rahmenbedingungen S. 23). Gleiches gilt für die medizinische Versorgung. Auch hier gibt es bedeutende regionale Unterschiede innerhalb des Landes, wobei die Situation in den Nord- und Zentralprovinzen um ein Vielfaches besser ist als in den Süd- und Ostprovinzen (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 1.2 Medizinische Versorgung S. 25).
Bei der prognostischen Einschätzung der Zumutbarkeit der Rückkehr afghanischer Asylbewerber in ihr Herkunftsland ist zu berücksichtigen, dass afghanische Asylbewerber mit oder ohne Familie vor ihrer Ausreise nicht zu dem Teil der Bevölkerung gehört haben, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, weil sich diese Bevölkerungsgruppe eine Schleusung nach Europa nicht leisten kann. Vielmehr handelt es sich in der Regel um junge, verhältnismäßig gut ausgebildete und moderat wohlhabende Personen (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, Zusammenfassung S. 6), die schon aus diesem Grund bei einer Rückkehr jedenfalls gegenüber denjenigen im Vorteil sein dürften, die seit jeher unterhalb der Armutsgrenze leben und deren Kinder oft von Unterernährung akut bedroht sind. Obwohl Norwegen auch afghanische Familien mit minderjährigen Kindern abschiebt, sind diesbezüglich offenbar keine Bezugsfälle bekannt, in denen diesen Familien die Reintegration in Afghanistan nicht gelungen wäre (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 2.3.2015, Stand Oktober 2014, IV 2.1 Freiwillige Rückkehr und Rückführungen anderer EU-Staaten S. 24; Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2.1 S. 26). Auch wurde die norwegische Abschiebungspraxis offenbar nie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandet. Zudem wurde anlässlich der letzten Geberkonferenz Anfang Oktober 2016, bei der die internationale Gemeinschaft Afghanistan für die kommenden vier Jahre Finanzhilfen in Höhe von 15,2 Milliarden Dollar (umgerechnet ca. 13,6 Milliarden Euro) zugesagt hat, ein Rückübernahmeabkommen zwischen der Europäischen Union und Afghanistan geschlossen (vgl. www.faz.net/aktuell/politik/ausland/geberkonferenzafghanistanerhaelt-15-mrddollarfinanzhilfen-14468268.html). Da auch Familien mit minderjährigen Kindern von diesem Rückübernahmeabkommen erfasst werden, lässt dies den Schluss zu, dass es allgemeiner Konsens unter den EU-Staaten (und Afghanistan) ist, dass auch diesem Personenkreis bei Wahrung der Familieneinheit die Rückkehr nach Afghanistan zumutbar ist (vgl. Joint Way Forward on migration issues between Afghanistan and the EU, Part I. Nr. 4. Satz 1). Um die Reintegration zu erleichtern, entwickelt und finanziert die EU Hilfsprogramme, wobei besondere Beachtung den Bedürfnissen von Frauen, Kindern und anderen schutzbedürftigen Gruppen gegeben werden soll (vgl. Joint Way Forward on migration issues between Afghanistan and the EU, Part IV. Nr. 3).
d) Für eine reale, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehende Chance afghanischer Familien, nach einer Rückkehr eine ausreichende Existenzgrundlage für alle Familienmitglieder zu finden, sprechen vor allem die Start- und Reintegrationshilfen, die sie erhalten können. Für eine vierköpfige Familie wie diejenige der Kläger beträgt die Starthilfe nach dem von Bund und Ländern finanzierten GARP-Programm insgesamt 1.500 EUR (500 EUR pro Erwachsener, 250 EUR pro Kind unter 12 Jahren). Hinzu kommen die kumulativ zur Verfügung stehenden Reintegrationsleistungen nach dem Europäischen Reintegrationsprogramm „ERIN“. Diese umfassen als Maßnahmen zur Wiedereingliederung folgende individuellen Reintegrationshilfen:
– Ankunftsservice:
– Abholung/Empfang am Ankunftsort (z. B. Flughafen)
– Kurzfristige Unterkunft am Ankunftsort (bis zu 2 Nächte)
– Dringende medizinische Versorgung (Notfallversorgung)
– Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheiten
– Unterstützung bei Wohnungssuche/Wohnraumbeschaffung (ggf. Mietzuschuss)
– Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen
– Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen
– Unterstützung bei Existenzgründungen
– Sonstige individuelle Hilfsangebote zum Aufbau einer eigenen Existenz
Die Unterstützung, die vor allem den Abbau anfänglicher Hürden nach einer Rückkehr sowie die dauerhafte Reintegration zum Ziel hat, wird über eine vor Ort tätige Partnerorganisation (Service Provider) weitgehend als Sachleistung gewährt. Diese erstellt mit dem Rückkehrer einen individuellen Rückkehr- und Reintegrationsplan. Die maximale Förderhöhe beträgt bei freiwilligen Rückkehrern bis zu 1.300 EUR oder 2.000 EUR bei Existenzgründung (Höchstbetrag), bei rückgeführten Personen bis zu 700 EUR. Bei freiwilliger Rückkehr im Familienverbund wird für den Ehegatten eine Förderung im Wert bis zu 500 EUR und für jedes minderjährige Kind zusätzlich bis zu 100 EUR gewährt; der Maximalbetrag für die Familie beträgt bis zu 2.300 EUR. Auch wenn auf diese Leistungen ein Rechtsanspruch nicht besteht, kann davon ausgegangen werden, dass die Kläger als vierköpfige Familie Reintegrationshilfen im Gesamtwert bis zu 3.500 EUR in Anspruch nehmen können. Gerade vor dem Hintergrund, dass professionelle Hilfe bei der Arbeitsplatz- und Wohnungssuche gewährt wird, erscheint dies ausreichend für die Prognose, dass es den Klägern zu 1. und 2. jedenfalls bis zum Ablauf der Zeitspanne, während der ihr Lebensunterhalt durch die Reintegrationshilfen gesichert ist, gelingt, sich und ihren Kindern zumindest mit Gelegenheitsarbeiten einschließlich Heimarbeit eine ausreichende Existenzgrundlage zu schaffen. Dabei ist mit zu berücksichtigen, dass die Familie im Notfall voraussichtlich aus dem Kreis der in Afghanistan im Allgemeinen und in Kabul im Besonderen tätigen internationalen Hilfsorganisationen langfristig die notwendige Unterstützung bekommen würde.
Wenn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten Urteil vom 21. November 2014 (a. a. O. Rn. 29) ausführt, die Unterstützungsleistungen würden nur einen vorübergehenden Ausgleich schaffen, seien aber nicht geeignet, auf Dauer eine menschenwürdige Existenz zu gewährleisten, orientiert er sich nicht an dem allgemein anerkannten, auch dem Kindeswohl in dem gebotenen Maße Rechnung tragenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Demnach genügt es, dass die Reintegrationshilfen, die seit der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs durch das Europäische Reintegrationsprogramm „ERIN“ erheblich ausgeweitet und erheblich effektiver gestaltet wurden, der rückkehrenden Familie eine reale Chance geben, ebenso wie ein großer Teil der bereits ortsansässigen Familien zumindest mit Gelegenheitsarbeiten eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden. Die Reintegrationshilfen sollen die Nachteile ausgleichen, die Rückkehrer in der Phase des Neustarts vorübergehend gegenüber der ortsansässigen Bevölkerung haben, sie aber nicht auf Dauer besser stellen. Dauerhafte Hilfen wären im Hinblick auf die für eine gelungene Reintegration erforderliche Eigeninitiative kontraproduktiv.
Auch bei § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG reicht es nicht aus, dass sich die Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit irgendwann verwirklichen kann. Vielmehr ist für die Bejahung eines Abschiebungsverbots erforderlich, dass alsbald mit ihrer Realisierung gerechnet werden kann (vgl. BVerwG, U. v. 29.7.1999 – 9 C 2.99 – juris). Abgesehen davon zählt der UNCHR in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 Kinder nicht generell zu den besonders schutzbedürftigen Personengruppen, sondern nur Kinder mit bestimmten Profilen oder in spezifischen Umständen oder Kinder im Kontext der (Zwangs-)Rekrutierung von Minderjährigen. (vgl. 3. b. Nr. 3, 10). Im Vergleich mit den zigtausenden Rückkehrerfamilien aus den Nachbarstaaten Pakistan und Iran haben die aus Deutschland zurückkehrenden Familien ohnehin einen großen Startvorteil (siehe unten f)).
Die Kläger können sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die genannten Reintegrationshilfen ganz oder teilweise nur für „freiwillige“ Rückkehrer gewährt werden, also (teilweise) nicht bei einer zwangsweisen Rückführung (Abschiebung). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können schlechte humanitäre Verhältnisse ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK nur begründen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Davon kann aber keine Rede sein, wenn der Betroffene seine individuelle Lage dadurch entscheidend verbessern kann, dass er seiner Ausreiseverpflichtung von sich aus nachkommt und es nicht auf eine Abschiebung ankommen lässt. Zudem kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein Asylbewerber, der durch eigenes zumutbares Verhalten – wie insbesondere durch freiwillige Rückkehr – im Zielstaat drohende Gefahren abwenden kann, vom Bundesamt nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbots verlangen (vgl. BVerwG, U. v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris; VGH BW, U. v. 26.2.2014 – A 11 S 2519/12 – juris S. 40; a.A. VG Augsburg, U. v. 16.6.2011 – Au 6 K 11.30153 – juris Rn. 22). Abgesehen davon gibt die Internationale Organisation für Migration (IOM), die Abschiebungen nicht unterstützt und keine Abschiebungsprogramme durchführt, auch abgeschobenen Asylbewerbern Unterstützung nach der Ankunft im Land (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2.1 Freiwillige Rückkehr und Rückführungen anderer EU-Staaten S. 26).
e) Die Kläger können sich auch nicht mit Erfolg auf individuelle gefahrerhöhende Umstände berufen. Die Klägerin zu 2., bei der nach den vorgelegten ärztlichen Diagnosen der Verdacht auf Asthma bronchiale besteht und der als alleinige Behandlung (bis zum Wiedervorstellungstermin (Kontrolltermin) nach 6 Monaten) die Anwendung der Medikamente Foster 100/6µg DA und Salbutamol DA (2H) verordnet wurde, ist in der Lage, sich diese Medikamente in Afghanistan zu beschaffen. Nach der „National Essential Medicines List of Afghanistan July 2014“ sind beide Medikamente bzw. gleichartige Medikamente mit gleichem Wirkstoff auch in Afghanistan erhältlich. Was die finanziellen Mittel zur Beschaffung anbelangt, so ist davon auszugehen, dass jedenfalls diese Kosten vom Vater der Klägerin zu 2., der in …, Iran, lebt und dort einen Schuhmacherbetrieb führt, getragen würden, falls die Klägerin zu 2. oder ihr Ehemann dazu nicht in der Lage wären.
Sonstige gefahrenerhöhende Umstände sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist die Annahme eines Abschiebungsverbots nicht dadurch gerechtfertigt, dass der Kläger zu 1. vor der Flucht nach Deutschland mehr als 16 Jahre und die Klägerin zu 2. sowie deren Kinder ausschließlich im Iran gelebt haben. Denn die Kläger sprechen die afghanische Landessprache Dari und haben sich bisher auch in einer islamisch geprägten Umgebung aufgehalten; ein besonderes „Vertrautsein mit den afghanischen Verhältnissen“ ist nicht erforderlich (vgl. BayVGH, B. v. 15.06.2016 – 13a ZB 16.30083 – juris).
f) Die Richtigkeit der Prognose, dass sich die Kläger nach einer Rückkehr in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine ausreichende Existenzgrundlage schaffen können, wird dadurch bestätigt, dass unter der Regie des UNHCR allein in den ersten zehn Monaten des letzten Jahres fast 56.000 afghanische Flüchtlinge aus den Nachbarländern zurückgekehrt sind, davon über 53.000 aus Pakistan (vgl. Lagebericht Afghanistan vom 6.11.2015, IV. 2. Behandlung von Rückkehrern S. 26). Diese Rückkehrer werden in der ersten Zeit vom UNHCR unterstützt, doch dürfte diese Unterstützung weitaus geringer sein als diejenige, die Rückkehrer aus Deutschland erhalten. Obwohl unter den Rückkehrern aus Pakistan und dem Iran offenkundig auch zahlreiche Familien mit minderjährigen Kindern sind, sind nennenswerte Probleme offenbar nicht aufgetreten. Vielmehr haben Afghanistan, Pakistan und der UNHCR im August 2015 die Rückführung weiterer afghanischer Flüchtlinge in vier Phasen bis Ende 2017 vereinbart (vgl. Lagebericht Pakistan vom 30.5.2016, III. 5. Lage ausländischer Flüchtlinge S. 26 f.).
g) Da, wie dargelegt, selbst bei unterstellter Richtigkeit ihrer Angaben, insbesondere auch zu ihrer afghanischen Staatsangehörigkeit, bereits kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zugunsten der Kläger festgestellt werden kann, kann dahingestellt bleiben, ob die Kläger überhaupt Afghanen sind (was Voraussetzung für eine Berufung auf ein Abschiebungsverbot wäre). Weiter kann dahingestellt bleiben, ob auch eine ggf. zu erwartende finanzielle Unterstützung der Kläger durch den im Iran lebenden Vater/Schwiegervater (über die Mittel zur Beschaffung von Medikamenten hinaus, siehe oben e) ein Abschiebungsverbot ausschließen würde (vgl. OVG NW, B. v. 5.9.2016 a. a. O.).
2. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Wie sich aus den Ausführungen unter 1. ergibt, besteht für sie in Afghanistan jedenfalls landesweit keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit.
Nach alledem ist die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).

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