Aktenzeichen AN 1 K 17.00832
Leitsatz
1. Für die Rücknahme eines von einer früher zuständigen Behörde erlassenen Verwaltungsakts ist die Behörde zuständig, die zum Zeitpunkt der Entscheidung für den Erlass des aufzuhebenden Verwaltungsakts zuständig wäre, da sie am besten geeignet ist für die Rücknahmeentscheidung, bei der es maßgeblich um die Prüfung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts und die Ausübung des Rücknahmeermessens unter Beachtung aller im Einzelfall relevanten Umstände geht (vgl. BVerwG BeckRS 1999 30088122). (Rn. 85) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die in Art. 48 Abs. 4 S. 1 BayVwVfG normierte Jahresfrist ist erst dann überschritten, wenn die Behörde trotz Kenntnis der Rechtswidrigkeit und aller für die Rücknahmeverfügung erforderlichen Umstände mehr als ein Jahr benötigt, denn bei der Jahresfrist handelt es sich um eine Entscheidungsfrist und nicht um eine Bearbeitungsfrist (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 47175). (Rn. 87) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
3. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid des Landesamts für Finanzen – Dienststelle … – Bezügestelle Dienstunfall – vom 26. Oktober 2016 in der Fassung, die er durch die Erklärung des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung erhalten hat und der Widerspruchsbescheid des Landesamts für Finanzen – Dienststelle … – Bezügestelle Dienstunfall – vom 28. März 2017 sind nicht rechtswidrig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheids vom 26. Oktober 2016 ist Art. 48 Abs. 1 Satz 1 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 20. Dezember 2015 (GVBL 2015, S. 456). Nach dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind im Falle der Klägerin gegeben.
Der bestandkräftige Bescheid des für die Klägerin als seinerzeitiger Polizeibeamtin des Landes … zuständigen Polizeipräsidiums … vom 22. November 2004 ist rechtswidrig, da – wie bereits im rechtskräftigem Urteil der Kammer vom 15. März 2016 (AN 1 K 14.00134) ausgeführt – mit diesem Bescheid das von der Klägerin ihrem damaligen Dienstherrn gemeldete Unfallereignis vom 22. August 2004 zu Unrecht als Dienstunfall im Sinne des damals noch bundesweit anzuwendenden § 31 BeamtVG anerkannt wurde. Denn nach dieser Vorschrift ist, ebenso wie gemäß Art. 46 Abs. 1 BayBeamtVG, ein Dienstunfall ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist. Das mit Bescheid des Polizeipräsidiums … vom 22. November 2004 fälschlicherweise als Dienstunfall mit der Dienstunfallfolge einer Ruptur der Kreuzbandplastik links anerkannte Unfallereignis vom 22. August 2004 trat jedoch unstreitig während eines privaten Fußballspiels der Klägerin mit Freundinnen, also gerade nicht im Dienst auf, so dass die Grundvoraussetzung für eine Anerkennung als Dienstunfall nicht gegeben war. Anders als ursprünglich vom Polizeipräsidium … angenommen hatte dieses Ereignis eine eigenständige rechtliche Bedeutung und war nicht lediglich als rechtlich unselbstständiger Folgeunfall zu sehen, wie sich aus dem Gutachten des Dr. med. … vom 4. November 2015 ergibt, auf das sich die Kammer schon im rechtskräftigem Urteil vom 15. März 2016 (AN 1 K 14.00134) bezogen hat.
Das Landesamt für Finanzen – Dienststelle … – Bezügestelle Dienstunfall – war als sachlich zuständige Behörde des Beklagten auch zur Aufhebung des Bescheids des Polizeipräsidiums … vom 22. November 2004 befugt. Das Bayerische Verwaltungsverfahrensgesetz enthält zwar keine explizite Regelung der Frage, welche Behörde für die Rücknahme eines von einer früher zuständigen Behörde erlassenen Verwaltungsakts zuständig ist. Die Vorschrift des Art. 48 Abs. 5 BayVwVfG regelt, wie die Bezugnahme auf Art. 3 VwVfG zeigt, lediglich Fragen der örtlichen Zuständigkeit. Daher ist nach allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen für die Rücknahme die Behörde zuständig, die zum Zeitpunkt der Entscheidung für den Erlass des aufzuhebenden Verwaltungsakts zuständig wäre. Dadurch soll eine Entscheidung durch die am besten geeignete Behörde gewährleistet werden; am besten geeignet für eine Rücknahmeentscheidung – bei der es maßgeblich um die Prüfung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts und die Ausübung des Rücknahmeermessens unter Beachtung aller im Einzelfall relevanten Umstände geht – ist im Regelfall die Behörde, die gegenwärtig für den Erlass dieses Verwaltungsakts zuständig wäre (vgl. BVerwG, U.v. 20.12.1999 – 7 C 42/98 -, BVerwGE 110,226; VGH Mannheim, U.v. 25.8.2008 – 13 S 201/08).
Das nach alledem nunmehr für die Rücknahme des rechtswidrigen Dienstunfallanerkennungsbescheids des Polizeipräsidiums … vom 22. November 2004 zuständige Landesamt für Finanzen – Dienststelle … – Bezügestelle Dienstunfall – hat auch die in Art. 48 Abs. 4 Satz 1 BayVwVfG normierte Jahresfrist für die Rücknahme eingehalten.
Es ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung seit dem Beschluss des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19. Dezember 1984 (BVerwG Gr. Sen.1.84 und 2.84 – BVerwG 70,356 = Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 33) geklärt, dass diese Frist erst zu laufen beginnt, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr die für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollkommen bekannt sind. Es kommt daher nicht darauf an, dass die die Rücknahme rechtfertigenden Umstände bereits im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids bekannt gewesen sind. Auch wenn der Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts darauf beruht, dass die Behörde den ihr vollständig bekannten Sachverhalt rechtswidrig rechtsfehlerhaft gewürdigt oder das anzuwendende Recht verkannt hat, beginnt die Jahresfrist vielmehr erst mit der Kenntnis der Rechtsfehler zu laufen (vgl. BVerwG, U.v. 28.6.2012 – 2 C 13.11 – NVwZ-RR 2012, 933 Rn.28). Die Frist wird daher nur dann überschritten, wenn die Behörde für ihre Entscheidung trotz Kenntnis der Rechtswidrigkeit und aller für die Rücknahmeverfügung erforderlichen Umstände mehr als ein Jahr benötigt. (vgl. BVerwG, B.v. 28.1.2013 – 2 B 62/12 – Rn. 6, juris). Somit kann die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts für sich allein die Rücknahmefrist nicht in Lauf setzen. Vielmehr beginnt die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG bzw. hier des inhaltsgleichen Art. 48 Abs. 4 Satz 1 BayVwVfG erst zu laufen, wenn die Behörde ohne weitere Sachaufklärung objektiv in der Lage ist, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens über die Rücknahme des Verwaltungsakts zu entscheiden. Hierzu ist die vollständige Kenntnis des für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Sachverhalts nötig (BVerwG, B.v. 29.8.2014 – 4 B 1.14), zu dem vorliegend auch die Einzelheiten gehören, die es dem Beklagten ermöglicht haben, über die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in den Bestand des Dienstunfallanerkennungsbescheids sowie über die Ausübung seines Rücknahmeermessens zu entscheiden. Wollte man die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts für den Fristbeginn ausreichen lassen, so könnte der drohende Fristablauf die Behörde zu einer Entscheidung über die Rücknahme zwingen, obwohl ihr diese mangels vollständiger Kenntnis des insofern erheblichen Sachverhalts nicht möglich wäre. Damit würde die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG zu einer Bearbeitungsfrist für die Behörde, obwohl es sich nach dem Wortlaut der Vorschrift und ihrem Sinn und Zweck um eine Entscheidungsfrist handelt (BayVGH, B.v. 25.2.2016 – 14 ZB 14.874 -, Rn. 8, juris).
Von diesen rechtlichen Gegebenheiten ausgehend hat das Landesamt für Finanzen – Dienststelle … – Bezügestelle Dienstunfall – die in Art. 48 Abs. 4 Satz 1 BayVwVfG normierte Jahresfrist für die Rücknahme des Dienstunfallanerkennungsbescheids des Polizeipräsidiums … vom 22. November 2004 eingehalten. Denn die positive Kenntnis des Beklagten von der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 22. November 2004 ergibt sich erst aus dem Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 2. Dezember 2015 im Verfahren AN 1 K 14.00134, wo folgendes ausgeführt wird:
„Stellt das zweite Unfallereignis (gemeint ist das Unfallereignis vom 22.8. 2004) somit einen eigenständigen Unfall und nicht nur eine Gelegenheitsursache d.h. einen Folgeunfall dar, wäre die Anerkennung zu Unrecht erfolgt und zurückzunehmen. Das Fußballspiel hat in der Freizeit stattgefunden, nicht im Dienst. Die Reruptur ist deshalb als solche anerkannt worden, weil man seinerzeit davon ausgegangen ist, dass es sich um einen Folgeunfall gehandelt habe. Sollte der gerichtlich bestellte Sachverständige weiterhin die Auffassung vertreten, dass dem Unfall eigenständige Bedeutung zukomme, wäre die Anerkennung zurückzunehmen und eine weitere eigenständige Schädigung abzulehnen, da es an der Dienstbezogenheit des Ereignisses fehlt.“
Denklogisch kann diese Erkenntnis sich erst nach Berücksichtigung des Gutachtens des Dr. med. … vom 4. November 2015 ergeben haben, weshalb die Aufhebung des Bescheids binnen Jahresfrist im Oktober 2016 erfolgt ist.
Der Beklagte hat auch durch die Beschränkung der Rücknahme auf die Zukunft dem in Art. 48 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BayVwVfG normierten Vertrauensschutz der Klägerin Rechnung getragen und das vorgeschriebene Rücknahmeermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt.
Denn der Beklagtenvertreter hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, der Bescheid vom 26. Oktober 2016 werde dahingehend abgeändert, dass die Aufhebung des Bescheids vom 22. November 2004 erst mit Eintritt der Bestandskraft des Bescheids vom 26 Oktober 2016, also mit Wirkung für die Zukunft wirksam werde und zugleich klargestellt, dass eine Rückforderung ohnehin nicht beabsichtigt gewesen sei. Diese im Hinblick auf die Rücknahme des Dienstunfallanerkennungsbescheids des Polizeipräsidiums … vom 22. November 2004 vorgenommenen Ermessenserwägungen des Beklagten lassen somit keine Ermessensfehler erkennen.
Schließlich kann sich die Klägerin auch nicht darauf berufen, sie habe aufgrund ihres Vertrauens in die Bestandskraft des Bescheids vom 22. November 2004 nicht im Rahmen der Zehnjahresfrist des § 45 Abs. 2 BayBeamtVG nach dem Geschehen vom 10. November 1998 überprüft, ob hieraus weitere Folgeschäden eingetreten seien, sondern sich darauf verlassen, dass durch die Anerkennung des Unfalls vom 22. August 2004 eine weitere Zehnjahresfrist zu laufen begonnen habe.
Dieses Vorbringen erscheint lebensfremd und konstruiert. Denn laut Gesundheitszeugnis vom 16. Mai 2008 kam der ärztliche Dienst der Bayerischen Polizei aufgrund einer erneuten Untersuchung der Klägerin am 14. Mai 2008, also knapp ein halbes Jahr vor der am 10. November 2008 ablaufenden Zehnjahresfrist des Art. 47 Abs. 2 BayBeamtVG im Hinblick auf den anerkannten Dienstunfall vom 10. November 1998 zu dem Ergebnis, die Klägerin sei zum Zeitpunkt der Untersuchung voll polizeidienstfähig und die dienstunfallbedingten Körperschäden seien als ausgeheilt anzusehen. Schon aus diesem Grund erscheint es nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin zum Zwecke der eventuellen Geltendmachung weiterer Dienstunfallschäden aus dem anerkannten Dienstunfall vom 10. November 1998 ihr Augenmerk auf den damals bevorstehenden Ablauf der Zehnjahresfrist gerichtet haben sollte.
Das insoweit von der Klägerin geschilderte Vorgehen, kurz vor Ablauf der Zehnjahresfrist eine Begutachtung vorzunehmen, steht mit der Regelung des § 45 Abs. 2 BeamteVG nämlich nicht in Einklang, da diese von aufgetretenen (also positiv bemerkten) Beschwerden ausgeht. Eine anlasslose Untersuchung (ohne Symptome) hätte daher auch der Dienstherr nicht veranlassen müssen.
Nach alledem war die Klage daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe, die Berufung nach § 124a Abs. 1 VwGO zuzulassen, liegen nicht vor.