Verwaltungsrecht

Sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung einer Fahrerlaubnis und der Pflicht zur Ablieferung eines Führerscheins – Zeitpunkt der Abkehr von der “Warnfunktion” durch Gesetzesänderung

Aktenzeichen  11 CS 16.1875

Datum:
25.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, Abs. 5 Nr. 2, Abs. 6 S. 4, Abs. 9

 

Leitsatz

1 Es ist im Eilverfahren nicht zu entscheiden, ob die Abkehr von der Warn- und Erziehungsfunktion des früheren Punktesystems schon mit der Änderung des Straßenverkehrsgesetzes zum 01.05.2014 (BGBl I S. 3313) oder erst mit der Gesetzesänderung zum 05.12.2014 (BGBl I S. 1802) erfolgt ist. (redaktioneller Leitsatz)
2 Es spricht jedoch vieles dafür, dass erst mit der Einfügung des § 4 Abs. 6 S. 4 StVG nF zum 05.12.2014 die Abkehr von der Warn- und Entziehungsfunktion im Gesetzestext hinreichend zum Ausdruck gebracht worden ist (Anschluss OVG DÖV 2015, 714). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 7 S 16.997 2016-08-22 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 22. August 2016 wird in Nr. I abgeändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 30. Juni 2016 wird angeordnet und wiederhergestellt.
II.
Der Antragsgegner trägt unter Abänderung der Nr. II des Beschlusses des Verwaltungsgerichts die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klasse B (einschließlich Unterklassen) und der Pflicht zur Ablieferung seines Führerscheins.
Mit Schreiben vom 28. Januar 2014 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt Aichach-Friedberg (im Folgenden: Landratsamt) mit, der Antragsteller habe einen Stand von 18 Punkten im Verkehrszentralregister erreicht. Es seien Ordnungswidrigkeiten vom 29. September 2008, 12. April 2009, 7. Mai 2011, 16. Juni 2011, 20. Juni 2011, 4. Januar 2013, 11. Februar 2013, 11. August 2013 und vom 2. November 2013 sowie verschiedene Maßnahmen nach dem Punktesystem erfasst. Zuletzt war der Antragsteller am 11. Dezember 2013 nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 StVG a. F. bei einem Punktestand von 14 verwarnt worden.
Mit Schreiben vom 3. Februar 2014 teilte das Landratsamt dem Kraftfahrt-Bundesamt mit, die durchgeführte Punktebewertung habe nur 17 Punkte ergeben.
Am 26. Mai 2014 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt mit, der Antragsteller habe sieben Punkte im Fahreignungsregister erreicht. Zum 1. Mai 2014 seien die zuletzt im Verkehrszentralregister gespeicherten 13 Punkte in fünf Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem umgerechnet worden. Am 2. Mai 2014 sei die Mitteilung über eine am 30. Mai 2013 begangene Ordnungswidrigkeit (Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h außerorts um 41 km/h) eingegangen, die am 26. März 2014 rechtskräftig geahndet und am 5. Mai 2014 mit zwei Punkten nach dem neuen System in das Fahreignungsregister eingetragen worden sei.
Mit Schreiben vom 31. Juli 2014 verwarnte das Landratsamt den Antragsteller gemäß § 4 Abs. 5 Nr. 2 StVG und wies ihn darauf hin, dass ihm bei Erreichen von acht Punkten die Fahrerlaubnis entzogen werde.
Mit Schreiben vom 22. April 2016 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt mit, der Antragsteller habe acht Punkte im Fahreignungsregister erreicht. Durch eine am 13. Januar 2016 begangene Ordnungswidrigkeit, rechtskräftig geahndet am 6. April 2016, sei ein weiterer Punkt eingetragen worden.
Daraufhin entzog das Landratsamt dem Antragsteller nach Anhörung mit Bescheid vom 30. Juni 2016 die Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn unter Anordnung des Sofortvollzugs sowie unter Androhung eines Zwangsgelds zur unverzüglichen Ablieferung des Führerscheins. Er habe am Tattag (13.1.2016) acht Punkte erreicht und die Fahrerlaubnis sei daher nach § 4 Abs. 5 Nr. 3 StVG zwingend zu entziehen. Der Antragsteller gab seinen Führerschein am 8. Juli 2016 ab.
Über die gegen den Bescheid vom 30. Juni 2016 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Augsburg noch nicht entschieden (Au 7 K 16.996). Den Antrag auf Anordnung und Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 22. August 2016 abgelehnt.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Der Antragsteller macht geltend, dass die Punkte für die Tat vom 30. Mai 2013 nicht berücksichtigt werden könnten, da der Tatzeitpunkt vor der Verwarnung und damit einhergehenden Reduzierung des Punktestandes am 11. Dezember 2013 gelegen habe. Wegen der zum Zeitpunkt des Verstoßes fehlenden Anordnung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 StVG a. F. sei auch diese Tat von der Reduzierung betroffen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Erfolgsaussichten der Klage gegen den Bescheid vom 30. Juni 2016 sind offen, weshalb es unter Abwägung der Interessen der Verfahrensbeteiligten gerechtfertigt erscheint, die aufschiebende Wirkung des Klage hinsichtlich der Nummer 1 des Bescheids gemäß § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO anzuordnen und hinsichtlich der Nummer 2 wiederherzustellen.
In der Rechtsprechung des Senats ist nicht abschließend geklärt, ob eine Abkehr von der Warn- und Erziehungsfunktion des früheren Punktesystems schon mit der Änderung des Straßenverkehrsgesetzes zum 1. Mai 2014 (BGBl I S. 3313; im Folgenden: StVG a. F.) oder erst mit der Gesetzesänderung zum 5. Dezember 2014 (BGBl I S. 1802; im Folgenden: StVG n. F.) erfolgte. Daher erscheint fraglich, ob die für die Ordnungswidrigkeit vom 30. Mai 2013 anfallenden Punkte berücksichtigt werden konnten (offen gelassen z. B. in BayVGH, B.v. 23.05.2016 – 11 CS 16.585 u. a. – NJW 2016, 3193), da sie erst nach der Verwarnung vom 11. Dezember 2013 im Fahreignungsregister eingetragen worden sind. Dieser Frage wird im noch anhängigen Hauptsacheverfahren nachzugehen sein.
Es spricht jedoch vieles dafür, dass erst mit der Einfügung des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG n. F. die Abkehr von der Warn- und Entziehungsfunktion im Gesetzestext hinreichend zum Ausdruck gebracht worden ist (vgl. SächsOVG, B.v. 7.7.2015 – 3 B 118/15 – juris Rn. 14; OVG NW, B.v. 14.4.2015 – 16 B 257/15 – DÖV 2015, 714). Der Wortlaut des § 4 Abs. 6 S. 1 und 2 StVG a. F. entsprach dem Wortlaut des § 4 Abs. 5 Satz 1 und 2 StVG in der bis zum 30. April 2014 gültigen Fassung des Straßenverkehrsgesetzes. Daraus konnte deshalb wohl nicht gefolgert werden, dass mit der Rechtsumstellung zum 1. Mai 2014 eine Abkehr von der Warn- und Entziehungsfunktion einhergehen sollte. Auch die Gesetzesbegründung zu § 4 Abs. 6 StVG a. F. (BR-Drs. 799/12, S. 79 und BT-Drs. 17/12636, S. 42), der im Gesetzesentwurf ursprünglich § 4 Abs. 7 StVG war, legt eine solche Auslegung nicht nahe. Erst in der Gesetzesbegründung zu § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG n. F. wird ausgeführt, dass dort eine Ausnahme von dem in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG a. F. geregelten Tattagprinzip normiert wird (BT-Drs. 18/2775, S. 10).
Unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs erscheint es im Rahmen der Interessenabwägung auch unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit gerechtfertigt, den in § 4 Abs. 9 StVG für die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordneten Sofortvollzug aufzuheben und diesbezüglich die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Hinsichtlich der Pflicht zur Abgabe des Führerscheins ist die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen.
Der Beschwerde war mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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