Aktenzeichen 11 CS 16.1646
StVG StVG § 3 Abs. 1 S. 1, § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 2, Nr. 3, Abs. 6, Abs. 8 S. 1
FeV FeV § 46 Abs. 1 S. 1
Leitsatz
Eine analoge Anwendung der Punktereduzierungsvorschriften käme wohl nur dann in Betracht, wenn die verzögerte Übermittlung des Punktestands durch das Kraftfahrt-Bundesamt als rechtsmissbräuchlich einzustufen wäre (Fortführung VGH München ZfS 2016, 415). Dies kann der Fall sein, wenn die Verzögerung der Mitteilung nicht nur auf einem bloßen Versehen beruht, sondern willkürlich, insbesondere mit dem Ziel, eine Punktereduzierung zu verhindern, hervorgerufen wurde. Hierfür ist der Antragsteller darlegungs- und beweisbelastet. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
B 1 S 16.310 2016-07-21 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth
Tenor
I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Streitwert wird unter Abänderung der Nr. 3 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf 6.250,- Euro festgesetzt.
Gründe
I. Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem.
Mit Schreiben vom 31. Januar 2013 verwarnte ihn die Stadt Bamberg bei einem der Stadt bekannten Punktestand von neun Punkten (alt) im Verkehrszentralregister nach § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG a. F.. Die Behörde wies darauf hin, dass der Antragsteller die Möglichkeit habe, freiwillig an einem Verkehrsseminar teilzunehmen, bei dem bei einem Punktestand von neun bis 13 Punkten zwei Punkte abgezogen würden, wenn die Teilnahmebestätigung drei Monate nach Beendigung des Seminars vorgelegt werde.
Mit Schreiben vom 23. April 2014, beim Landratsamt Bamberg (im Folgenden: Landratsamt) eingegangen am 5. Mai 2014, teilte das Kraftfahrt-Bundesamt mit, durch drei weitere Ordnungswidrigkeiten, begangen am 20. Dezember 2012 (rechtskräftig geahndet am 7.8.2013), 7. Mai 2013 (rechtskräftig geahndet am 11.7.2013) und 5. September 2013 (rechtskräftig geahndet am 3.12.2013, gespeichert im VZR am 16.12.2013) habe sich der Punktestand des Antragstellers auf 16 Punkte (alt) erhöht. Daraufhin verwarnte das Landratsamt den Antragsteller mit Schreiben vom 9. Mai 2014, zugestellt am 13. Mai 2014, gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n. F., da nach Umrechnung ein Punktestand von sieben Punkten (neu) erreicht sei. Die Behörde wies den Antragsteller darauf hin, dass er freiwillig ein Fahreignungsseminar besuchen könne, wofür aber kein Punktabzug gewährt werde. Des Weiteren sei zu beachten, dass bei Erreichen von acht Punkten die Fahrerlaubnis zwingend zu entziehen sei.
Mit Schreiben vom 5. Januar 2016 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Landratsamt mit, der Antragsteller habe durch eine am 2. Juni 2015 begangene Ordnungswidrigkeit, rechtskräftig geahndet am 21. Dezember 2015, nunmehr acht Punkte im Fahreignungs-Bewertungssystem erreicht.
Mit Bescheid vom 22. März 2016 entzog das Landratsamt ihm nach Anhörung die Fahrerlaubnis der Klassen AM, A1 (79.03, 79.04), A (79.03, 79.04), B, BE, C1 C1E, C, CE, L und T gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n. F..
Über die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Bayreuth nach Aktenlage noch nicht entschieden (Az. B 1 K 16.311). Den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. Juli 2016 abgelehnt. Die Klage werde voraussichtlich erfolglos sein. Zwar hätte der Antragsteller bei früherer Mitteilung des Punktestands von 16 Punkten durch das Kraftfahrt-Bundesamt noch die Möglichkeit gehabt, zwei Punkte abzubauen. Das Landratsamt habe die Verzögerung aber nicht verschuldet. Ein mögliches Verschulden des Kraftfahrt-Bundesamts an der verzögerten Übermittlung müsse sich das Landratsamt nicht zurechnen lassen. Es seien keinerlei Anhaltspunkte erkennbar, dass diese Verzögerung nicht nur auf einem Versehen, sondern willkürlich erfolgt sei.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt. Der Antragsteller macht geltend, das Kraftfahrt-Bundesamt habe den Punktestand von 16 Punkten (alt) nach Eintragung der Ordnungswidrigkeit vom 5. September 2013 am 16. Dezember 2013 nicht unverzüglich übermittelt. Zwischen der Tat und der Mitteilung hätten fast 35 Wochen gelegen, zwischen Rechtskraft und Mitteilung immer noch 22 Wochen. Die beträchtliche Verzögerung stelle ein Indiz für eine willkürliche Vorgehensweise dar. Rechtsmissbrauch müsse angenommen werden, wenn die Übermittlungszeit drei Mal so lange wie gewöhnlich sei. Dem Antragsteller sei dadurch die Möglichkeit genommen worden, durch eine verkehrspsychologische Beratung zwei Punkte abzubauen (§ 4 Abs. 4 Satz 2 1. Halbs. StVG a. F.). Die Verwarnung erfülle auch nicht die Warn- und Erziehungsfunktion, wenn sie nicht zeitnah erteilt werde. Das Stufensystem sei nicht ordnungsgemäß durchlaufen, dem Antragsteller müsse daher eine Punktereduzierung zugute kommen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II. Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig wäre.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Juni 2015 (BGBl I S. 904), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 18. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Oktober 2015 (BGBl I S. 1674), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist.
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungsregister ergeben. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, denn unter Berücksichtigung der beiden Ordnungswidrigkeiten vom 5. September 2013 und 2. Juni 2015 hat der Antragsteller einen Stand von acht Punkten (neu) erreicht.
Einen Abzug von zwei Punkten nach § 4 Abs. 4 Satz 2 StVG a. F. kann der Antragsteller nicht beanspruchen, denn er hat nicht an einer verkehrspsychologischen Beratung teilgenommen. Dass der Antragsteller so gestellt werden müsste, als hätte er an der verkehrspsychologischen Beratung teilgenommen, weil das Landratsamt ihn nicht gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 StVG a. F. verwarnt und ihn nicht auf die Möglichkeit einer verkehrspsychologischen Beratung und den dadurch möglichen Abbau von zwei Punkten hingewiesen hat (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Satz 3 StVG a. F.), ergibt sich aus dem Gesetz nicht.
Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch darauf, dass die Punkte für die am 5. September 2013 begangene Ordnungswidrigkeit wegen eines Verstoßes gegen § 4 Abs. 8 Satz 1 StVG n. F. oder § 4 Abs. 6 StVG a. F. nicht berücksichtigt werden, denn eine solche Rechtsfolge sehen die straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften ebenfalls nicht vor. Danach hat das Kraftfahrt-Bundesamt zur Vorbereitung der Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem und dem früheren Punktesystem den Fahrerlaubnisbehörden bei Erreichen der jeweiligen Punktestände die Eintragungen mitzuteilen. Eventuelle Vergünstigungen für den Fahrerlaubnisinhaber bei einem Verstoß gegen diese Pflicht, sind im Gesetz nicht vorgesehen.
Der Antragsteller hat auch keinen Anspruch auf eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 2 StVG n. F., denn er hat das Punktesystem ordnungsgemäß durchlaufen. Danach ist, sofern die Maßnahme der davor liegenden Stufe noch nicht ergriffen worden ist, diese zu ergreifen. In diesem Fall verringert sich der Punktestand mit Wirkung vom Tag des Ausstellens der ergriffenen Ermahnung auf fünf Punkte und der ergriffenen Verwarnung auf sieben Punkte, wenn der Punktestand zu diesem Zeitpunkt nicht bereits durch Tilgungen oder Punktabzüge niedriger ist (§ 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 2 StVG). Dieser Fall liegt hier nicht vor.
Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift zur Beseitigung der Folgen (etwaig) rechtswidrigen Verwaltungshandelns ist – jedenfalls im vorliegenden Fall – nicht geboten. Eine analoge Anwendung der Punktereduzierungsvorschriften käme wohl nur dann in Betracht, wenn die verzögerte Übermittlung des Punktestands durch das Kraftfahrt-Bundesamt als rechtsmissbräuchlich einzustufen wäre (vgl. BayVGH, B.v. 28.4.2016 – 11 CS 16.537 – ZfSch 2016, 415 = juris; B.v. 24.5.2016 – 11 CS 16.660 – juris; OVG NW, B.v. 7.10.2015 – 16 B 554/15 – VRS 129, 164 = juris Rn. 27; VGH BW, B.v. 6.8.2015 – 10 S 1176/15 – DAR 2015, 658 = juris Rn. 23). Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn die Verzögerung der Mitteilung nicht nur auf einem bloßen Versehen beruht, sondern willkürlich, insbesondere mit dem Ziel, eine Punktereduzierung zu verhindern, hervorgerufen wurde. Die Punktereduzierung dient aber nach dem neuen Fahreignungs-Bewertungssystem nicht mehr dazu, die Warn- und Erziehungsfunktion des Punktesystems zu gewährleisten, denn der Gesetzgeber hat bei der Rechtsänderung zum 1. Mai 2014 zugunsten der Verkehrssicherheit von dieser Zielsetzung Abstand genommen (BayVGH, U.v. 11.8.2015 – 11 B 15.909 – VRS 129, 27 = juris Rn. 25). Eine Reduzierung der Punkte nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG soll nach der Gesetzesbegründung nur noch erfolgen, um das Verfahren übersichtlich zu gestalten und ein Auseinanderfallen von Punktestand und Maßnahmenstufe zu verhindern (OVG NW, B.v. 7.10.2015 a. a. O. Rn. 27; BR-Ds. 799/12 S. 79 f.). Es soll damit nur vermieden werden, dass die Fahrerlaubnisbehörde bei gleichzeitiger Kenntniserlangung von mehreren Verkehrsverstößen diese zum Anlass nimmt, zeitlich gestaffelt mehrere Maßnahmen des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG zu ergreifen.
Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller nicht nachvollziehbar vorgetragen, aus welchen Umständen sich eine willkürliche Verzögerung ergeben soll. Vielmehr stellt sich die versäumte unverzügliche Übermittlung des Punktestands nach Eintragung der Ordnungswidrigkeit vom 5. September 2013 nach Aktenlage als Versehen dar. Die bloße Überschreitung der Zeitspanne von drei Monaten seit der Eintragung der Ordnungswidrigkeit in das Verkehrszentralregister am 16. Dezember 2013 bis zur Mitteilung an die Fahrerlaubnisbehörde Ende April 2014 um ca. fünf Wochen gibt für eine willkürliche Verzögerung nichts her. Im Übrigen ist zu berücksichtigten, dass der Antragsteller die Verwarnung vom 9. Mai 2014 am 13. Mai 2014 erhalten und die nächste Ordnungswidrigkeit über ein Jahr später am 2. Juni 2015 begangen hat. Der Antragsteller hat sich die Maßnahme offensichtlich nicht zur Warnung gereichen lassen, sondern erneut eine Verkehrsordnungswidrigkeit begangen, obwohl er mit der Verwarnung darauf hingewiesen worden war, dass ein weiterer Punkt zwingend zum Entzug seiner Fahrerlaubnis führt.
Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG i. V. m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedr. in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anhang zu § 164 Rn. 14).
Die Befugnis des Verwaltungsgerichtshofs, die Streitwertfestsetzung der Vorinstanz von Amts wegen zu ändern, ergibt sich aus § 63 Abs. 3 GKG. Es sind dabei die Fahrerlaubnisklassen B und C zu berücksichtigen. Die Fahrerlaubnisklasse AM ist nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV in der Klasse B enthalten und die Klasse C1 nach § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 FeV in der Klasse C. Die Fahrerlaubnisklassen A und A1 sind nicht gesondert zu berücksichtigen, da sie mit den Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04 versehen sind.