Aktenzeichen M 13 K 16.32187
VwGO § 101 Abs. 2, § 117 Abs. 3
Leitsatz
Tenor
I. Unter Aufhebung von Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Juli 2016 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Das Gericht kann mit Einverständnis der Prozessparteien ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg, da der Kläger Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG hat (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich
1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
§ 3 Abs. 2 und 3 AsylG beinhalten Exklusionsklauseln u.a. für den Fall des Verdachts der Begehung bestimmter schwerer Straftaten (Abs. 2) sowie bei anderweitiger Schutzgewährung durch eine Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR (Abs. 3).
Einzelheiten zum Begriff der Verfolgungshandlung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen, den Verfolgungs- bzw. Schutzakteuren sowie zur Frage eines etwaigen internen Schutzes regeln die §§ 3a bis e und 28 Abs. 1a und Abs. 2 AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU.
Einem Ausländer, der Flüchtling nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 AufenthG (weitere Ausschlussklausel bei Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bzw. bei Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit; bei Vorliegen der Voraussetzungen des Satzes 3 nur, wenn das Bundesamt von einer Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG absieht).
2. Die hier einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen bei dem Kläger vor. Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob der Kläger vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend gegeben.
2.1 Das erkennende Gericht geht (wie auch eine Vielzahl anderer Gerichte; vgl. hierzu etwa HessVGH, B.v. 21.1.2014 – 3 A 917/13.Z.A.; VGH BW, B.v. 19.6.2013 – A 11 S 927/13 und B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13; OVG LSA, U.v. 18.7.2012 – 3 L 147/12; VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid v. 10.8.2016 – 3 K 7501/16.A; VG Regensburg, U.v. 6.7.2016 – RN 11 K 16.30889; VG Köln, U.v. 26.6.2014 – 20 K 4130/13.A; VG Frankfurt, U.v. 26.9.2014 – 3 K 1489/13.A; VG Augsburg, U.v. 25.11.2014 – Au 2 K 14.30422, VG Trier, U.v. 7.10.2016 – 1 K 5093/16.TR; alle in juris) auf der Grundlage einer Gesamtschau der Verhältnisse in Syrien davon aus, dass Rückkehrer, die im westlichen Ausland gelebt und dort ggf. einen Asylantrag gestellt haben, im Falle einer Abschiebung eine obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte unter anderem zur Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten hätten und bereits diese Befragung eine Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslösen würde (Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylG; zur Situation in Syrien siehe Auswärtiges Amt – AA -, Stellungnahme der Botschaft Beirut v. 3.2.2016 – u.a. zur Gefahr von Sanktionen und Übergriffen gegenüber Rückkehrern -; Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.2.2012: zu Repressionsmaßnahmen gegen echte und vermeintliche Oppositionelle allgemein siehe S. 7 f.; zur Menschenrechtslage – Foltergefahr, Haftbedingungen – siehe S. 10 ff.; zur Beobachtung exilpolitischer Aktivitäten durch syrische Geheimdienste siehe S. 10; zu Rückkehrbefragungen und damit zusammenhängend der Gefahr, verhaftet bzw. Opfer von Misshandlungen zu werden, vgl. auch AA, Lagebericht vom 27.9.2010, S. 19 f., AA, Ad hoc-Ergänzungsbericht vom 7.4.2010 und Amnesty International – AI -, Bericht vom 14.3.2012, „Menschenrechtskrise in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-Syrischen Rückübernahmeabkommens“; siehe zur aktuellen Situation weiter die AI-Jahresberichte 2012 bis 2015 – dort auch zur Praxis des „Verschwindenlassens“ und Bundesamt, Syrien – Situation in den Provinzen, April 2014; dazu, dass das Fehlen von „Referenzfällen“ einer prognostischen Wertung in diesem Sinne nicht entgegensteht, vgl. OVG NRW, U.v. 14.2.2012 – 14 A 2708/10.A – juris; zu § 60 Abs. 2 AufenthG a.F.).
2.2 Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen dabei auch die Bejahung des mit dem Kriterium der begründeten Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) der Sache nach vorgegebenen bzw. geforderten Gefährdungsgrades hinsichtlich einer entsprechenden Rechtsgutsverletzung nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; juris Rn. 23 zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Insoweit die subjektive Seite in den Blick nehmend („begründete Verfolgungsfurcht“) ist nach Auffassung des Gerichts offenkundig, dass aufgrund der realen und ernst zu nehmenden Gefahr, selbst ohne Kenntnisse von der hiesigen Exilszene auf die bloße Möglichkeit von Kenntnissen hin einem Verhör unter Folter unterzogen zu werden, es einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen nicht zuzumuten wäre, jetzt als ehemaliger Asylbewerber nach Syrien zurückzukehren.
Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung wegen der Entwicklungen in jüngerer Zeit nicht mehr gerechtfertigt wäre, liegen nicht vor. Soweit das Auswärtige Amt in einer aktuellen Stellungnahme der Botschaft Beirut vom 3. Februar 2016 ausführt, dass keine Erkenntnisse dazu vorliegen, dass ausschließlich aufgrund des vorausgegangenen Auslandsaufenthalts Rückkehrer nach Syrien Übergriffe/Sanktionen zu erleiden hätten, so bedeutet dies nicht, dass eine derartige Behandlung von Rückkehrer aus dem westlichen Ausland unwahrscheinlich ist. Denn es sind nach der Auskunft Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer nach Syrien befragt, zeitweilig inhaftiert oder dauerhaft verschwunden seien. Diese stehen überwiegend in Zusammenhang mit oppositionsnahen Aktivitäten (beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern), aber auch in Zusammenhang mit einem nicht abgeleisteten Militärdienst.
Auch dürfte nach Meinung des Gerichtes insofern von einer Verschärfung der Gefährdungslage für Rückkehrer auszugehen sein, weil sich die Gewinnung von Erkenntnissen über exilpolitische Aktivitäten aus Sicht des syrischen Staates gerade auch vor dem Hintergrund der Parteinahme einer Vielzahl westlicher Staaten für Teile der Opposition (der syrische Bürgerkrieg weist auch Elemente eines Stellvertreterkrieges auf) als bedeutsamer als zu Beginn der Unruhen darstellen dürfte.
2.3 Die (für den Fall einer Rückkehr mit Kontakt zu den syrischen Behörden anzu-nehmende) Gefährdung der Kläger (Foltergefahr bei Rückkehrbefragung) würde des Weiteren zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmale anknüpfen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG zur Zuschreibung relevanter Merkmale durch den Verfolger; siehe hierzu auch VGH BW, B.v. 29.10.2013 – A 11 S 2046/13; Hess VGH, B.v. 27.1.2014 – 3 A 917/13.Z.A; OVG Berlin-Bbg, B.v. 9.1.2014 – 3 N 91.13; a.A. OVG NRW, B.v. 13.2.2014 – 14 A 215/14.A; alle in juris).
2.4 Eine zumutbare inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG innerhalb des Herkunftslandes besteht derzeit zur Überzeugung des Gerichts nicht.
Da eine geordnete Rückkehr aus Deutschland im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) stets nur über den vom syrischen Regime kontrollierten Flughafen in Damaskus unter vorheriger Ankündigung bei den syrischen Behörden erfolgen würde, besteht die wahrscheinliche Gefahr, im Falle einer Rückkehr bereits an der Grenze zum Zwecke einer Rückkehrerbefragung verhaftet und von menschenrechtswidriger Behandlung bedroht zu sein.
2.5 Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 AufenthG entgegenstehen könnte.
Im Ergebnis ist danach festzustellen, dass der Kläger Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist und sie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG beanspruchen kann.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Gemäß § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.