Verwaltungsrecht

Systemische Mängel im Asylverfahren und/oder den Aufnahmebedingungen in Ungarn

Aktenzeichen  M 6 S 16.50271

Datum:
1.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 34a
VO (EU) 2013/604 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
GRCh GRCh Art. 4

 

Leitsatz

In Ungarn bestehen möglicherweise systemische Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 26. April 2016 (M 6 K 16.50270) gegen die in Nr. 1 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. April 2016 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Mit Bescheid vom 18. April 2016 ordnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn an (Nr. 1 des Bescheids) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 2).
Der Bescheid wurde am … April 2016 zugestellt.
Am … April 2016 erhoben die Bevollmächtigten des Antragstellers für diesen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage auf Aufhebung des Bescheids (M 6 K 16.50270) und beantragten,
die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Sie begründeten die Klage und den Antrag mit systemischen Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn.
Die Antragsgegnerin legte mit Schriftsatz vom 26. April 2016 ihre Behördenakte vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakte der Antragsgegnerin ergänzend Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid ist zulässig und begründet.
1. Nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zwischen dem sich aus der Regelung des § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse der jeweiligen Antragspartei an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragspartei regelmäßig zurück. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht die Interessenabwägung hier zugunsten der Antragspartei aus, da nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage die Erfolgsaussichten der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts zumindest als offen anzusehen sind.
1.1 Dass die Erfolgsaussichten der von der Antragspartei erhobenen Klage hinsichtlich des Ziellandes Ungarn als offen anzusehen ist ergibt sich aus Folgendem:
Die Frage systemischer Mängel im ungarischen Asylsystem und in den ungarischen Aufnahmebedingungen wird von den Verwaltungsgerichten der Bundesrepublik Deutschland nicht einheitlich beurteilt.
Allein schon innerhalb des Bayerischen Verwaltungsgerichts München haben Einzelrichterinnen und Einzelrichter sowohl das gegenwärtige Vorliegen solcher systemischer Mängel verneint (z. B. B. v. 28.4.2016 – M 3 S 16.50249) als auch bejaht (z. B. B. v. 24.5.2016 – M 24 K 16.50135 -; B. v. 22.6.2016 – M 8 S 16.50295).
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf ist in einem Gerichtsbescheid vom 2. Dezember 2015 (22 K 3263/15.A) auf der Grundlage eines Rechtsgutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Küpper, Wissenschaftlicher Referent für ungarisches Recht am Institut für Ostrecht München, vom 2. Oktober 2015 über das ungarische Asylrecht mit den im August 2015 erfolgten Änderungen zu der Überzeugung des Vorliegens systemischer Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens gelangt.
Zudem hat die Europäische Kommission bereits im Dezember 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen asylrechtlicher Verstöße eingeleitet (Pressemitteilung vom 10.12.2015).
Schließlich gibt der Bericht „Hungary as a Country of Asylum“ des UNHCR vom Mai 2016 ebenfalls Anlass zu Bedenken hinsichtlich einer Rückführung nach Ungarn im Rahmen des Dublin-Systems.
1.2 Wegen der zumindest offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache verbleibt es wie oben dargelegt bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Vorliegend sieht der erkennende Einzelrichter das Interesse der Antragspartei an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage als gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids überwiegend an. Es kann der Antragspartei nicht zugemutet werden, dass bereits zu diesem Zeitpunkt eine Abschiebung tatsächlich durchgeführt wird. Voraussichtlich würde damit rein faktisch ein nicht revidierbarer Zustand eintreten. Das würde den Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht gerecht.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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