Verwaltungsrecht

Überwiegendes Ausweisungsinteresse bei schweren Körperverletzungs- und Eigentumsdelikten

Aktenzeichen  M 24 K 20.1583

Datum:
10.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 48663
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53, § 55
EMRK Art. 8
GG Art. 6

 

Leitsatz

1. Bei einer auf spezialpräventive Gründe gestützten Ausweisungsentscheidung haben die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Ausweisung kann regelmäßig auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 9. März 2020 wird in Nr. 2 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 4/5, die Beklagte 1/5.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Das Gericht war vorschriftsmäßig besetzt; insbesondere steht aufgrund der Zurückweisung der Ablehnungsgesuche hinsichtlich der Vorsitzenden und der Berichterstatterin mit Beschluss vom 18. Dezember 2020 fest, dass auch diese zur Mitwirkung an der Entscheidung berufen waren.
Die mündliche Verhandlung, in welcher die Ablehnungsgesuche erstmals vorgebracht wurden, konnte gemäß § 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 47 Abs. 2 ZPO unter Mitwirkung der abgelehnten Richter fortgesetzt werden, da die Entscheidung über die Ablehnungsgesuche im konkreten Fall eine Vertagung der Verhandlung erfordert hätte. Die unterschriebene Urteilsformel wurde erst nach Ergehen des die Ablehnungsgesuche rechtskräftig zurückweisenden Beschlusses am 18. Dezember 2020 der Geschäftsstelle übergeben (§§ 116 Abs. 2, 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO), so dass das Urteil erst zu diesem Zeitpunkt Wirkungen entfaltete (§ 173 VwGO i.V.m. § 318 ZPO). Selbst wenn man in den Tatsachen, dass die abgelehnten Richter an der unmittelbar im Anschluss an die mündliche Verhandlung durchgeführten Schlussberatung teilgenommen haben, obwohl die sie betreffenden Ablehnungsanträge zu diesem Zeitpunkt noch nicht beschieden waren, und dass das Urteil zu einem Zeitpunkt der Geschäftsstelle übergeben wurde, als der Beschluss über die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs zwar bereits gefasst, aber dem Prozessbevollmächtigten des Klägers noch nicht übermittelt worden war, einen Verstoß gegen das auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach § 54 Abs. 1 VwGO geltende Tätigkeitsverbot des § 47 Abs. 1 ZPO sehen wollte, wäre dieser Mangel mit Blick auf die mit Beschluss vom 18. Dezember 2020 rechtskräftig zurückgewiesenen Ablehnungsgesuche als unbeachtlich bzw. geheilt anzusehen (BVerwG, B.v. 25.1.2016 – 2 B 34/14 – juris Rn. 16; zum insoweit einhelligen Streitstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung vgl. BGH, B.v. 15.7.2004 – IX ZB 280/03 – ZVI 2004, 753 Rn. 4 ff).
II.
Die zulässige Klage hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Der Bescheid vom 9. März 2020 ist in Bezug auf die darin ausgesprochene Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig und verletzt ihn daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Allerdings steht ihm unter Aufhebung der Nummer 2 des Bescheids gegenüber der Beklagten ein Anspruch auf erneute Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu (§ 113 Abs. 5, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der angefochtenen Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr., vgl. z.B. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 -juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252-juris Rn. 25). Nach der gegenwärtigen Sach- und Rechtslage erweist sich die Ausweisung gemessen an ihren rechtlichen Grundlagen (§ 53 Abs. 1 und 2 AufenthG) als rechtmäßig. Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet stellt auch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar (1.1.). Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (1.2.).
1.1. Mit der rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung vom … September 2019 zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten wegen gemeinschaftlichen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Führen einer Schreckschuss-, Reizstoff- und Signalwaffe hat der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse geschaffen. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG u. a. dann besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Dies ist beim Kläger der Fall.
Die mit der Verwirklichung dieses Tatbestands indizierte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung besteht auch noch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung. Sie ergibt sich sowohl aus dem persönlichen Verhalten des Klägers (spezialpräventive Ausweisungsgründe; 1.1.1) als auch aus dessen weiterem Aufenthalt im Bundesgebiet (generalpräventive Ausweisungsgründe; 1.1.2).
1.1.1. Bei einer auf spezialpräventive Gründe gestützten Ausweisungsentscheidung haben die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 14.2.2017 – 19 ZB 16.2570). Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, B.v. 22.11.2016 – 10 CS 16.2215 – juris Rn. 6; B.v. 16.11.2016 – 10 ZB 16.81 – juris Rn. 11; B.v. 16.3.2016 – 10 ZB 15.2109 – juris). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
Gemessen daran besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass es im Falle des Klägers in absehbarer Zeit wieder zu Straftaten kommen wird. Beim Kläger bestand ausweislich der strafgerichtlichen Feststellungen, denen eine ausführliche gutachterliche Bewertung zugrunde liegt, seit dem 15. Lebensjahr eine massive Betäubungsmittelabhängigkeit. Die Betäubungsmittelabhängigkeit war nach den strafgerichtlichen Feststellungen und den eigenen Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung der maßgebliche Motor für die Anlasstat des besonders schweren Raubes. Eine erfolgreiche Bewährung wird darüber hinaus durch erhebliche, tiefgreifende Persönlichkeitsdefizite des Klägers erschwert. Nach den Ausführungen des in dem entsprechenden Strafverfahren hinzugezogenen psychiatrischen Sachverständigen zeigt der Kläger starke Ansätze einer Impulskontrollstörung. Er hat bereits in der Vergangenheit ein aggressives Verhalten an den Tag gelegt, dass sowohl schulische Disziplinarmaßnahmen als auch strafrechtliche Ahndungen zur Folge hatte. Sowohl die Abhängigkeitsproblematik als auch die zutage getretenen Persönlichkeitsdefizite bedürfen daher der Bearbeitung in einer längeren Therapie; eine erfolgreich abgeschlossene Therapie kann der Kläger jedoch nicht vorweisen, was allerdings Voraussetzung für das Entfallen einer Wiederholungsgefahr wäre (vgl. BayVGH, B. v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 17; B. v. 26.11.2015 – 10 ZB 14.1800 – juris Rn. 7 m. w. N.; VG München, U.v. 21.4.2016 – M 12 K 16.649 – juris Rn. 41).
Auch die sonstigen Lebensumstände des Klägers stellen sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht als besonders günstig für eine erfolgreiche Bewährung dar. Der Kläger kann zwar einen Schulabschluss, aber im Alter von 20 Jahren noch keine berufliche Ausbildung oder auch nur konkrete Pläne hierfür vorweisen. Nach alledem bestehen gewichtige, eine erfolgreiche weitere Bewährung infrage stellende Indizien bzw. Risikofaktoren, die angesichts der schwerwiegenden Gewalt- und Vermögensstraftaten in der Gesamtschau die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr rechtfertigen.
1.1.2. Unabhängig hiervon bzw. daneben gefährdet der weitere Aufenthalt des Klägers aus generalpräventiven Gründen die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – BVerwGE 162, 349 juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019- 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 – juris Rn. 17). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es – anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. – nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (vgl. BayVGH, B.v. 12.11.2020 – 10 ZB 20.1852 – juris Rn. 7 f; BayVGH, B.v. 6.3.2020 – 10 ZB 19.2419 – juris Rn. 5). Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – BVerwGE 42, 133 – juris Rn. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 64; Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 27). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 -1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 – juris Rn. 17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (so auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 63).
Gemessen daran besteht im Fall des Klägers auch ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Bei dem vom Kläger begangenen Anlassdelikt des besonders schweren Raubes zur Finanzierung der Drogensucht besteht nach der oben dargestellten Rechtsprechung ein erhebliches öffentliches Interesse, andere Ausländer davon abzuhalten, vergleichbare Verstöße zu begehen, da derartige Gewaltstraftaten sowohl den Schutz der körperlichen Unversehrtheit und der freien Willensbetätigung und -entschließung als auch des Eigentums berühren und damit in erheblichem Maß die öffentliche Sicherheit und Ordnung beeinträchtigen.
Das Ausweisungsinteresse ist auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8). Da Straftaten nach § 250 StGB nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB in 20 Jahren verjähren, besteht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zwei Jahre nach der Tat an der Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses kein Zweifel.
1.2. Auch unter Berücksichtigung des besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses sowie der grundrechtlich geschützten Interessen des Klägers überwiegt bei der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) AufenthG durchzuführenden Abwägung das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden.
In die erforderliche Abwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG sind sämtliche Umstände des Einzelfalls einzustellen, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Klägers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat. Auch die Gefahrenprognose kann im Rahmen der Gesamtabwägung unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung sein. Ferner sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie sowie die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 18 f). Danach besteht zwar auch für sogenannte faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Dies schließt es aus, selbst bei Begehung schwerwiegender Straftaten schematisch auf ein Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses zu schließen. Vielmehr sind der der Verurteilung zugrundeliegende konkrete Sachverhalt, die Zeitdauer seit Begehung der Tat, das Nachtatverhalten des Ausländers sowie der Verlauf der Strafhaft einschließlich etwaiger Therapien zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 19; EGMR, U.v. 25.4.2017, Nr. 41697/12 , Rn. 46).
Dem Kläger steht gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse zur Seite, da er eine Niederlassungserlaubnis besitzt. Darüber hinaus sind das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie das grundrechtlich geschützte Interesse des Klägers, hier sein Berufs-, Privat- und Familienleben (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) fortsetzen zu können, zu berücksichtigen. Der Kläger ist in der Bundesrepublik Deutschland geboren und aufgewachsen und hat hier seine gesamte soziale und kulturelle Prägung erfahren. Das Land seiner Staatsangehörigkeit Jordanien kennt er lediglich aus Urlaubsaufenthalten und hat dort eigenen Angaben zufolge keine Verwandten. Die Mutter des Klägers sowie die Geschwister, die den Kläger unterstützen, leben ebenfalls in Deutschland, und das Strafgericht hat in der Anlassverurteilung bedingt durch die Reifeverzögerungen des Klägers eine noch enge emotionale sowie finanzielle Abhängigkeit von den Eltern und Geschwistern festgestellt.
Dennoch ist von einem Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses auszugehen. Der Kläger hat bereits mehrere Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit begangen. Insbesondere die Anlasstat des besonders schweren Raubes hat er mit hoher krimineller Energie begangen (Maskierung, Verwendung von Handschuhen, Zurücklassen von Identifizierungsgegenständen und Mobiltelefonen vor der Tat). Das in der Tat zutage getretene Ausmaß der Gewaltanwendung gegenüber den beiden Geschädigten, nämlich in Form des brutalen Schlages gegen den Kopf eines Geschädigten, welcher aus reiner Ungeduld mit dessen Verhalten resultierte, und die gegen dessen Kopf gehaltene Mündung der PTB-Waffe überschreiten dabei das durchschnittliche Maß der Gewaltanwendung und Drohung erheblich. Die Tat ist daher Ausdruck einer besonderen Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit gegen fremde Rechtsgüter und damit auch Ausdruck der Persönlichkeit des Klägers und seiner charakterlichen Haltung. Auch der Anlass der Tat (finanzielle Probleme wegen des Kokainkonsums) und die sich darin manifestierende niedrige Hemmschwelle begründen die Schwere der Schuld. Diese erheblichen Persönlichkeitsdefizite des Klägers sind nach der überzeugenden Einschätzung des im Strafverfahren hinzugezogenen psychiatrischen Sachverständigen bereits länger andauernd und tiefgreifender Natur; sie traten auch bereits in den vorangegangenen Delikten deutlich zutage. So lag der Verurteilung vom 1. März 2018 gemäß der bei den Akten befindlichen Zeugenaussagen ein längeres, gezieltes Mobbing eines Mitschülers zugrunde. Der Kläger trat unter anderem ohne jeden rechtfertigenden und entschuldigenden Grund gemeinsam mit seinem Mittäter mit den Füßen auf den am Boden liegenden Geschädigten ein, was von einer beispiellosen Rücksichtslosigkeit, Aggression und Gleichgültigkeit zeugt. Die Beleidigung der Schuldirektorin und das Zerschlagen der Glasscheibe in der Schule sind Ausdruck der fehlenden Selbstkontrolle und Impulskontrollstörung des Klägers.
Insbesondere unter Berücksichtigung des Nachtatverhaltens des Klägers und der sonstigen Umstände ist die Wiederholungsgefahr derartiger Straftaten im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als sehr hoch einzustufen, da die Prognose derzeit schlecht ist. Zunächst konnten weder die beiden verhängten Jugendarreste noch die Untersuchungshaft den Kläger nachhaltig beeindrucken. Auch das in Deutschland bestehende intakte familiäre und soziale Umfeld mit einem großen Freundeskreis sowie wohl einer festen Freundin konnten den Kläger nicht vom Drogenkonsum und der Begehung von Straftaten abhalten. Dem Kläger wurden sowohl von familiärer als auch staatlicher Seite bereits vielfältige Hilfs- und Unterstützungsangebote zuteil, wobei er jedoch nicht in der Lage war, diese erfolgreich für sich zu nutzen. So wurde der Kläger in den ersten beiden Verurteilungen des Jugendgerichts angewiesen, an einem AntiAggressionstraining teilzunehmen und sich auf die Dauer von neun Monaten der Betreuung und Aufsicht eines Betreuers zu unterstellen, dessen Anweisungen hinsichtlich Arbeit, Berufsausbildung und Freizeitgestaltung er Folge zu leisten hatte. Die Jugendhilfe hatte den Kläger im Jahr 2017 an das Projekt „Work & Box“ vermittelt, wo er Bewerbungstraining, pädagogische Begleitung, Reflexionsgespräche, Arbeitsvermittlung und Unterstützung erhielt. Auch die Eltern des Klägers unterstützten den Sohn stets und die Schwester verhalf ihm zu einem Ortswechsel weg von der M …r Drogenszene, wo er wieder zur Schule gehen konnte, die Chance auf ein neues soziales Umfeld hatte und Termine bei einer Suchtberatungsstelle wahrnahm. Infolge der Anlassverurteilung konnte der Kläger eine Therapie beginnen, wobei die Maßregel ausweislich des Beschlusses vom 9. September 2020 wegen mehrfacher Regelverstöße sowie einer Körperverletzung zulasten eines Mitpatienten abgebrochen wurde. Den Beschlussgründen ist zu entnehmen, dass nach einem anfangs sehr positiven Therapieverlauf im Mai 2020 eine stark verwässerte Urinprobe festgestellt worden war. Anschließend sei es zu mehreren Regelverstößen gekommen, welche bis zum 6. August 2020 zu insgesamt acht Verwarnungen geführt hätten. Trotz einer Zurückstufung in den Lockerungen sei der Kläger immer wieder durch verbale und impulsive Durchbrüche auch gegenüber dem Personal sowie durch forderndes und uneinsichtiges Verhalten aufgefallen. Auch gegenüber den Mitpatienten habe er sich respekt- und rücksichtslos verhalten. Am 7. August 2020 sei es zu einer Tätlichkeit des Klägers gegenüber einem Mitpatienten gekommen, bei der der Kläger dem Mitpatienten Schläge gegen Kopf und Gesicht versetzt habe, durch die dieser eine Schwellung in der rechten Gesichtshälfte, an der Stirn und an der Nase sowie eine Risswunde am linken Ohr erlitten habe. Nach Angaben des Verletzten wollte der Kläger ihn dazu bewegen, im Rahmen der Gartentherapie GBL (Gamma-Butyrolacton) in den geschlossenen Bereich zu verbringen; der Kläger selbst habe geschildert, ihm sei der Konsum von GPL angeboten worden, wogegen er sich mit Schlägen gewährt habe. Insgesamt sei aus therapeutischer Sicht der zunächst positive Therapieverlauf mit aktiver Beteiligung nur als Anpassungsleistung zu sehen, die der Kläger nicht über einen längeren Zeitraum habe aufrechterhalten können. Auch an seiner Einstellung zu Aggressionen und Gewalt sowie einer Distanzierung von Suchtmitteln scheine sich trotz wiederholter gegenteiliger Beteuerungen des Klägers nicht grundlegend etwas geändert zu haben. Der körperliche Übergriff sei nach Ansicht der Ärzte und Therapeuten als gezielter Einschüchterungsversuch zu sehen, bei dem schwere Verletzungen des Mitpatienten durch gezielte Schläge gegen den Kopf in Kauf genommen und der Versuch unternommen worden sei, Drogen in den Maßregelvollzug verbringen zu lassen, wodurch sowohl der Kläger als auch Mitpatienten gefährdet worden seien. Eine dauerhafte Abstinenzmotivation habe der Kläger nicht entwickeln können, so dass keine hinreichende konkrete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe.
Die eigenen Erklärungsversuche des Klägers für den Therapieabbruch im Schriftsatz vom . Dezember 2020 und in der mündlichen Verhandlung sind vor diesem Hintergrund wenig überzeugend bzw. können dem Gericht nicht die Überzeugung vermitteln, dass es dem Kläger gelingen wird, zeitnah erfolgreich eine Therapie abzuschließen. Soweit der Kläger den Abbruch der Therapie auf den persönlichen Verlust zurückführt, den er durch den Tod seines Vaters erlitten hat, von welchem er drei Tage nach Therapiebeginn erfahren hat, ist zum einen festzustellen, dass der Therapieverlauf in den ersten sechs Monaten positiv war und es erst nach diesem Zeitraum zu den Regelverstößen kam. Wenngleich der Verlust des Vaters gerade für einen so jungen Mann wie den Kläger zweifelsohne einen tragischen, nur schwer zu bewältigenden persönlichen Verlust darstellt, spricht der Umstand, dass der Kläger trotz des beschützenden Umfelds, in dem er jederzeit psychologische Unterstützung in Anspruch nehmen konnte, wieder eine erhebliche Straftat begangen hat, darüber hinaus für eine derzeit sehr hohe Wiederholungsgefahr außerhalb der Haft oder des Maßregelvollzugs. Schließlich zeugt die Erklärung des Klägers, der Therapieabbruch sei auf die Körperverletzung zurückzuführen, welcher ein Missverständnis zugrunde gelegen habe, von einer noch immer wenig ausgeprägten Selbstreflexion, zumal sie die vorangegangenen Regelverstöße, die ausweislich der Beschlussgründe bereits zu acht Verwarnungen geführt hatten, vollkommen ausblendet.
Vor diesem Hintergrund erscheint die auf die Frage seines Bevollmächtigten, wie er „es denn hinkriegen wolle“, getroffene Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung, er stelle sich vor, dass ein fester neuer Freundeskreis, ein fester Arbeitsplatz und ein fester Wohnsitz gut helfen würden, aus derzeitiger Sicht wenig tragfähig.
Die familiären Belange des Klägers sowie das grundrechtlich geschützte Interesse, sein Privat- und Familienleben in der Bundesrepublik fortsetzen zu können (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG, Art. 8 EMRK), müssen im konkreten Fall hinter dem durch die hohe Wiederholungsgefahr schwerwiegender Straftaten begründeten öffentlichen Ausweisungsinteresse zurücktreten. Der erwachsene Kläger ist kinderlos und hat keine Kernfamilie gegründet. Die Beziehung zu seiner Mutter und seinen Geschwistern genießt den Schutz des Art. 6 GG und des Art. 8 EMRK, wobei ihr vor dem Hintergrund der ausweislich der strafgerichtlichen Feststellungen fortbestehenden emotionalen und finanziellen Abhängigkeit des Klägers von seiner Familie im konkreten Fall ein durchaus erhebliches Gewicht beizumessen ist. Dennoch können der Kläger und seine Familie in Anbetracht dessen Alters von 20 Jahren und mangels eines festgestellten Hilfebedarfs darauf verwiesen werden, ihre Verbindung mittels Telefon, moderner Kommunikationsmittel sowie Besuchen in Jordanien aufrechtzuerhalten. Aus besonderen Anlässen sowie zur Vermeidung besonderer Härten können zudem auf Antrag Betretenserlaubnisse nach § 11 Abs. 8 AufenthG erteilt werden.
Dem Kläger ist sowohl in wirtschaftlicher als auch sozialer Hinsicht eine Integration im Land seiner Staatsangehörigkeit zumutbar. Der Kläger ist im Haushalt seiner erstzugewanderten Eltern aufgewachsen, die ihrerseits erst zwei Jahre vor seiner Geburt nach Deutschland gekommen waren. Mithin ist er in seiner Kinder- und Jugendzeit in einem jordanischstämmigen Haushalt geprägt und sozialisiert worden. Angesichts dessen sowie aufgrund des Akteninhalts ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger über hinreichende, also jedenfalls grundlegende Kenntnisse der arabischen Sprache verfügt, wobei ihm im Übrigen ohne Weiteres zuzumuten ist, diese zu vertiefen. So wurde der Kläger von einem Mitgefangenen in der Untersuchungshaft um die Übersetzung eines Formulars gebeten, und wenngleich dies nichts über die Qualität der Übersetzung besagt, hat der Kläger nicht bestritten, dem nachgekommen zu sein. Einem in der Behördenakte befindlichen polizeilichen Aktenvermerk vom 6. Juni 2017 über die telefonische Zeugenvernehmung einer Lehrerin ist zu entnehmen, dass diese nach dem Vorfall in der Schule am … März 2017 versucht hatte, den Kläger auf Arabisch zu beruhigen, woraus geschlossen werden kann, dass dem Kläger seine Muttersprache vertraut ist. Zudem kennt der Kläger sein Heimatland zumindest aus Besuchsaufenthalten, zumal die Oma bis zum Jahr 2018 noch dort lebte. Es kann ihm daher zugemutet werden, sich zumindest vorübergehend im Herkunftsland zu integrieren und sich dort eine eigene Existenz aufzubauen, selbst wenn er die deutsche Sprache besser beherrscht als die arabische Sprache. Aber auch in Jordanien kommen ihm seine deutschen Sprachkenntnisse zugute, denn diese kann er im zu suchenden Arbeitsfeld nutzen. Zweifelsohne sind dem Kläger die Lebensumstände in der Bundesrepublik vertrauter und seine Bildungs- und beruflichen Chancen besser; gleichwohl führte dieser Aspekt nicht dazu, dass er die hiesigen Lebensumstände so wertschätzte, dass er hier sein Leben rechtskonform führte. Zu sehen ist, dass der Kläger als 16-jähriger den für Ausländer höchsten Aufenthaltsverfestigungsgrad der Niederlassungserlaubnis erhielt. Die erste Verurteilung erfolgte im März 2017 im Alter von 17 Jahren und es folgten zwei weitere Verurteilungen in den Jahren 2018 und 2019. Der Kläger hat die ihm ehedem offenstehende Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch die allein von ihm selbst zu verantwortende anhaltende Straffälligkeit selbst vernichtet.
Nach alldem überwiegt wegen der Schwere der Straftaten, der Bedeutung der verletzten bzw. bedrohten Rechtsgüter und der aus derzeitiger Sicht jedenfalls mittelfristig schlechten Prognose das Ausweisungsinteresse. Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung des Art. 6 GG, Art. 2 GG und Art. 8 EMRK rechtmäßig und verhältnismäßig.
Das Vorbringen des Klägerbevollmächtigten, bei einer Ausweisung in sein Heimatland würde dem Kläger der vom Landgericht für erforderlich erachtete feste Rahmen, der ihm die nötige Struktur geben könne, seine Probleme zu bewältigen, vollkommen fehlen, so dass diese kontraproduktiv sei, führt zu keiner anderen Beurteilung. Zum einen ist festzuhalten, dass der Zweck einer Ausweisung zuvorderst im Schutz der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und nicht in der Resozialisierung besteht. Zum anderen wird der Aufenthalt des Klägers ausweislich der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Ausweisungsbescheids erst nach erfülltem Strafanspruch beendet, so dass er aller Voraussicht nach zwei Drittel seiner Haftstrafe verbüßen wird. Schließlich konnte der Kläger bislang – wie oben ausgeführt – die ihm zuteil gewordenen Hilfsangebote nicht erfolgreich für sich nutzen und kann derzeit nicht abgesehen werden, welche Auswirkungen ein längerer Aufenthalt in seinem Herkunftsland auf seine Persönlichkeitsentwicklung haben wird.
2. Der Kläger hat allerdings einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, über die Dauer der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG erneut zu entscheiden, so dass der diesbezügliche Hilfsantrag begründet ist. Die Beklagte hat die Wiedereinreisesperre von sechs bzw. acht Jahren ermessensfehlerhaft (§ 114 Satz 1 VwGO) festgesetzt. Da es sich angesichts der gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG von Amts wegen zwingend vorzunehmenden Befristung bei der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots um einen einheitlichen belastenden Verwaltungsakt handelt, der nicht in die Anordnung des Verbots und dessen Befristung aufgespalten werden kann (VGH Mannheim, B.v. 21.1.2020 – 11 S 3477/19 – juris Rn. 19 f), war Nummer 2 des Bescheids insgesamt aufzuheben.
Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Infolge des Einreise- und Aufenthaltsverbots darf der Ausländer nach Satz 2 der Vorschrift weder erneut in das Bundesgebiet einreisen noch sich darin aufhalten noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden. Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist nach Satz 4 der Vorschrift mit der Ausreise beginnt. Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden; sie darf außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten (§ 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Nach § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG soll die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Die behördliche Befristungsentscheidung unterliegt als Ermessensentscheidung einer gerichtlichen Kontrolle nach § 114 Satz 1 VwGO. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die insoweit ermittelte Frist ist in einem zweiten Schritt an höherrangigem Verfassungsrecht sowie an unionsund konventionsrechtlichen Vorgaben zu messen und gegebenenfalls zu relativieren. Insoweit bedarf es nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einer umfassenden Abwägung aller im Einzelfall betroffenen Belange. Maßgeblicher Zeitpunkt ist der der mündlichen Verhandlung, so dass auf die zu diesem Zeitpunkt gegebene Sachlage abzustellen ist (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16-, InfAuslR 2017, 336).
Davon ausgehend stellt sich die Entscheidung der Beklagten, das Einreise- und Auf enthaltsverbot auf sechs Jahre unter der Bedingung nachgewiesener Straf- und Drogenfreiheit, widrigenfalls auf acht Jahre zu befristen, als defizitär und damit ermessensfehlerhaft dar. Bei dem Kläger handelt es sich um einen noch sehr jungen Mann, bei dem nach den Feststellungen des Strafgerichts der massive Betäubungsmittelkonsum zu Reifeund Entwicklungsverzögerungen geführt hat, welche angesichts des Potenzials des Klägers jedoch behebbar sind. Wegen der noch zu erwartenden Nachreifung lassen sich langfristige Aussagen zur persönlichen Entwicklung des Klägers kaum treffen. Dies ist ein Umstand, dem für die Befristungsentscheidung Relevanz zukommt und der daher in die Ermessensentscheidung des Beklagten mit einzufließen hat. Dass dies vorliegend geschehen ist, ist weder aus der Begründung der Ermessensentscheidung im Bescheid noch aus den Ausführungen des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung ersichtlich, in welcher die Ermessenserwägungen nicht ergänzt wurden. Im Übrigen erscheint die gewählte Befristung vor dem Hintergrund des noch jungen Alters des Klägers und seiner Stellung als faktischem Inländer auch unverhältnismäßig. Die Beklagte wird daher erneut über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu entscheiden haben, die unter der Bedingung nachgewiesener Straf- und Drogenfreiheit nicht über vier Jahre hinausgehen sollte.
3. Auch die Androhung bzw. Anordnung der Abschiebung des Klägers aus der Haft heraus gemäß § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung für den Fall, dass die Abschiebung während der Haft nicht durchgeführt werden kann, sind ebenfalls rechtmäßig im Sinne des § 59 AufenthG. Der Kläger ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig; durch die Ausweisung ist sein Aufenthaltstitel erloschen (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG).
Die Abschiebungsanordnung bzw. -androhung ist auch nicht wegen des Bestehens zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG oder wegen der unterbliebenen Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zu dieser Frage rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Der mit Schriftsatz vom . Dezember 2020 und in der mündlichen Verhandlung erfolgte Vortrag des Klägers, er leide seit 2010 unter der chronischen Darmerkrankung Colitis ulcerosa, sei sowohl auf die regelmäßige Einnahme von Tabletten als auch ärztliche Kontrollen angewiesen und bei einem Behandlungsabbruch drohe eine lebensbedrohliche Verschlechterung der Erkrankung, betrifft ein potentielles zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG. Eine Bindung der Ausländerbehörde und des Gerichts an eine Entscheidung des Bundesamts gemäß § 42 AsylG besteht mangels Durchführung eines Asylverfahrens vorliegend nicht, so dass die Ausländerbehörde weiterhin für die Beurteilung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote zuständig ist (§ 79 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
Zwar ist gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG insoweit grundsätzlich das Bundesamt zu beteiligen, was im vorliegenden Fall unterblieben ist. Zum einen führt die unterbliebene Beteiligung jedoch per se nicht zu einer Verletzung des Klägers in eigenen Rechten, da das Beteiligungserfordernis als behördeninterne Verfahrensregelung keinen Drittschutz vermittelt. Der Zweck der Beteiligungsregelung in § 72 Abs. 2 AufenthG liegt nach den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drs 15/420 S. 94; BT-Drs 16/5065 S. 190) darin, dass die Ausländerbehörde vor einer (positiven oder negativen) Entscheidung über ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG die Sachkunde des Bundesamts hinsichtlich der Verhältnisse in dem betreffenden Zielstaat einfließen lässt; eine Bindung der Ausländerbehörde an die Stellungnahme des Bundesamts besteht indes nicht. Das Beteiligungserfordernis stellt keine verfahrensrechtliche Schutznorm dar, die das Ziel verfolgt, Rechte des Ausländers zu wahren; vielmehr soll mit ihr nur verwaltungsintern das Einfließen der zielstaatsbezogenen Sachkunde des Bundesamts abgesichert werden (OVG NRW, B. v. 30.8.2012 – 17 B 751/12 – juris Rn. 6; VGH BW, U. v. 22.7.2009 – 11 S 1622/07 – juris Rn. 65; VG Regensburg, B. v. 18.7.2012 – RN 9 S 12.824 – juris Rn. 28). Dem Betreffenden bleibt es im Falle des Verstoßes gegen das Beteiligungserfordernis mangels Rechtskrafterstreckung des ein Abschiebungsverbot verneinenden Urteils auf die Bundesrepublik Deutschland und mangels gesetzlicher Bindung des Bundesamts an die diesbezügliche Entscheidung der Ausländerbehörde und des Gerichts unbenommen, beim Bundesamt einen Asylantrag zu stellen oder die Feststellung von Abschiebungsverboten zu beantragen.
Zum anderen ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG aus gesundheit lichen Gründen nicht substantiiert dargetan. Nach §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen, welche insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlichmedizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten soll. Ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen liegt dabei nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 bis 5 AufenthG).
Der Kläger hat keine fachärztliche Bescheinigung vorgelegt, aus der sich die Diagnose der angegebenen Erkrankung ergibt und die insbesondere Aufschluss über den konkreten Schweregrad der Erkrankung und mögliche Folgen einer unzureichenden Behandlung gibt. Auch drängten sich diesbezügliche Ermittlungen durch das Gericht aufgrund des Akteninhalts nicht auf. Im Urteil des Amtsgerichts … vom . März 2018 wird zur gesundheitlichen Situation des Klägers ausgeführt, er habe seit Geburt eine chronische Darmentzündung gehabt und in der Pubertät aufgrund starker CortisonGaben stark zugenommen. Heute sei er wieder gesund. Im psychiatrischen Gutachten vom 1. April 2019 wird ebenfalls lediglich erwähnt, dass nach Angaben des Klägers im Jahr 2010 eine Colitis ulcerosa diagnostiziert worden sei und der Kläger seitdem das Medikament Mesalazin einnehme, worunter er einigermaßen beschwerdefrei sei. Zu einer Notwendigkeit ärztlicher Kontrollen ist dem Gutachten nichts zu entnehmen. Anhaltspunkte dafür, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers bei einem Behandlungsabbruch alsbald wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, können den vorliegenden Unterlagen insgesamt nicht entnommen werden, so dass diesbezügliche Ermittlungen von Amts wegen nicht angezeigt waren. Im Übrigen besteht für den Kläger für den Fall, dass er zur Abwendung einer wesentlichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands tatsächlich auf das Medikament Mesalazin angewiesen sein sollte, die Möglichkeit, hierfür auf die finanzielle Unterstützung seiner in Deutschland lebenden Geschwister zurückzugreifen oder sich von diesen das Medikament zusenden zu lassen. Insbesondere in der Hauptstadt Amman ist die medizinische Versorgung sehr gut (https://www.auswaertigesamt.de/de/aussenpolitik/laender/jordaniennode/jordaniensicherheit/218008).
III.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vor läufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen