Aktenzeichen 10 CS 16.408
Leitsatz
1 Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. (redaktioneller Leitsatz)
2 Der verfassungsrechtliche Schutz der Vater-Kind-Beziehung wird nicht dadurch in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt, dass der Vater nach seiner Abschiebung sein Umgangsrecht (vgl. § 1684 Abs. 1 BGB) mit seiner Tochter nicht mehr wird ausüben können, wenn er zuvor keine regelmäßig wiederkehrenden Betreuungs- und Erziehungsleistungen im Rahmen der Ausübung seine Umgangsrechts erbracht hat. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
M 25 S 16.868 2016-03-01 Bes VGMUENCHEN VG München
Tenor
I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde richtet sich mangels entsprechender Beschränkung gegen die Ablehnung aller drei im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gestellten Anträge durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 1. März 2016.
Die Beschwerde ist allerdings bereits unzulässig, soweit mit ihr die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 2. Februar 2016 enthaltene Befristung der Wirkungen der Ausweisung des Antragstellers (durch Bescheid vom 13.2.2009) und der Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis weiterverfolgt werden. Der Antragsteller hat sich insoweit nicht mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinandergesetzt und nicht im Einzelnen dargelegt, aus welchen Gründen sie abzuändern sein sollte (§ 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO).
Die Beschwerde ist im Hinblick auf die Ablehnung des hilfsweise gestellten Antrags, vor Abschluss des Klageverfahrens M 25 K 16.867 keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu ergreifen, zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg. Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen nicht die beantragte Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts und den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung.
Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch i. S. v. § 123 Abs. 1 VwGO für eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens ergibt sich nicht, dass dem Antragsteller der geltend gemachte Duldungsanspruch (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK im Hinblick auf das zu seiner Tochter Aurelia bestehende Umgangsrecht zusteht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (zuletzt B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris) gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (vgl. BVerfGE 51, 386/396 f.; 76, 1/47; 80, 81/93). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1/49 ff.; 80, 81/93). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, 171/173), auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 31.8.1999 – 2 BvR 1523/99 -, InfAuslR 2000, 67/68; B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682/683).
Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Bei einer Vater-Kind-Beziehung kommt hinzu, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682/683).
Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfGE 56, 363/384; 79, 51/63 f.). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine Vorstellung davon entwickelt, welchen Trennungszeitraum es für zumutbar erachtet. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt.
Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts wird den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen entgegen der Auffassung des Antragstellers gerecht. Der verfassungsrechtliche Schutz der Vater-Kind-Beziehung des Antragstellers wird nicht dadurch in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt, dass er nach seiner Abschiebung sein Umgangsrecht (vgl. § 1684 Abs. 1 BGB) mit seiner Tochter unmittelbar praktisch nicht mehr wird ausüben können. Schon bisher bestand und besteht nämlich die erforderliche tatsächliche Verbundenheit im Sinne einer tatsächlichen Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes, wenn überhaupt, nur ansatzweise. Unabhängig davon, ob das Umgangsrecht nur in Form eines „begleiteten“ Umgangs – wovon das Verwaltungsgericht ausgeht – oder uneingeschränkt – wie der Antragsteller vorträgt – ausgeübt werden durfte, ergibt sich aus der schlüssigen und nachvollziehbaren Aussage der Mutter von Aurelia im März 2015 vor der Ausländerbehörde, dass der Antragsteller zwischen Juli 2014 und August 2015 keinen Kontakt zu seiner Tochter hatte und sie auch nicht im Januar 2015 mehrere Stunden lang allein betreut hat. Bereits einen Monat nach ihrer Geburt war der Antragsteller für ein Jahr bis November 2011 inhaftiert; anschließend wohnte er noch einige Monate in der Wohnung seiner damaligen Ehefrau und Mutter des Kindes, bevor sie im Juli 2013 die Scheidung beantragte. Dem Senat drängt sich bei der nur möglichen summarischen Beurteilung der Eindruck auf, der Antragsteller habe sich um Kontakte zu seinem Kind jeweils im zeitlichen Zusammenhang mit der Androhung von ausländerbehördlichen Maßnahmen gekümmert, wobei die Mutter diesen Bemühungen offenbar stets auch wegen der Alkoholabhängigkeit des Antragstellers kritisch gegenüberstand.
Demgegenüber hat der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht, welche konkreten regelmäßig wiederkehrenden Betreuungs- und Erziehungsleistungen er im Rahmen der Ausübung seine Umgangsrechts erbracht hat, die die emotionale Basis für eine hinreichende Konstanz der Beziehungen zwischen Vater und Tochter bilden und deren künftiges Unterbleiben zu einer Beeinträchtigung des Kindeswohls führen könnte (st. Rspr. des Senats, z. B. BayVGH, B.v. 4.2.2016 – 10 CE 16.222 – ; B.v. 11.8.2015 – 10 C 15.1446 – juris Rn. 8). Zudem übersieht der Antragsteller, dass es bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs im Rahmen des § 123 Abs. 1 VwGO nicht darum geht, ob es seiner Tochter über einen längeren Zeitraum zuzumuten ist, ihren Vater nicht zu sehen, denn Streitgegenstand im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist nur eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Insoweit hat der Antragsteller nicht dargelegt und auch nicht glaubhaft gemacht, dass selbst eine Unterbrechung des persönlichen Kontakts für sein Kind in einem überschaubaren Zeitraum unzumutbar ist.
Im Rahmen der erforderlichen Würdigung aller Umstände des Einzelfalls weist der Senat schließlich auf den im Verfahren nicht mehr thematisierten Umstand hin, dass vom Antragsteller immer noch eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die sich in der Begehung weiterer gravierender Straftaten vor dem Hintergrund seiner nach wie vor unbehandelten Alkoholabhängigkeit manifestieren kann. Die Ausweisungsverfügung vom 13. Februar 2009 ist nach wie vor vollziehbar; sie wäre wohl auch geeignet, stärkere familiäre Bindungen als die zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter bestehenden zu überwinden und dem Abschiebungsinteresse den Vorrang einzuräumen.
Der vom Antragsteller angeführten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel (B.v. 17.9.2004 – 9 B 1450/14 – juris) lag ein mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbarer Sachverhalt zugrunde; dort ging es um ein zwischen getrenntlebenden Ehegatten geteiltes Sorgerecht, zudem war der ausländische Elternteil nicht ausgewiesen worden. Im Übrigen hatte auch der Verwaltungsgerichtshof Kassel die Erteilung einer Duldung abgelehnt, weil das familiengerichtliche Verfahren lediglich zum Zwecke der Erreichung aufenthalts-rechtlicher Vorteile angestrebt war und ein schützenswertes familiäres Band nicht geltend gemacht werden konnte.
Ein Duldungsanspruch ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Umstand, dass der Antragsteller zu einem familiengerichtlichen Anhörungstermin am 3. März 2016 geladen wurde, in dem es auch um die Bestellung eines Verfahrensbeistands für seine Tochter geht und den er infolge der geplanten Abschiebung nicht wahrnehmen wird können. Denn eine Anordnung des persönlichen Erscheinens dient in erster Linie dazu, dem Gericht die Klärung eines Sachverhalts zu ermöglichen, nicht aber, um der geladenen Person rechtliches Gehör zu gewähren (Geiger in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 95 Rn. 10); gegebenenfalls wird das Familiengericht die erforderliche Sachverhaltsermittlung auf einem anderen Weg durchführen müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, 2, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).