Aktenzeichen M 17 K 16.35318
Leitsatz
1. Kann ein Minderjähriger nicht getrennt von seiner Mutter in sein Heimatland abgeschoben werden, begründet dieser Umstand kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 AufenthG, sondern ist von der Ausländerbehörde bei der Aufenthaltsbeendigung zu berücksichtigen. (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine etwaige Geltendmachung der Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen aufgrund eines bestehenden Familienverbands (Art. 6 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK) ist ein im Rahmen von § 60a AufenthG zu prüfendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, für das sich der Ausländer auf einen Antrag auf Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG bei der örtlich zuständigen Ausländerbehörde verweisen lassen muss. (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Ausreisefrist ist untrennbarer Bestandteil des Regelungskomplexes der Abschiebungsandrohung. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamtes vom 1. Dezember 2016 wird in Nr. 3 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger ¾, die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
1. Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Klagepartei mit Schriftsatz vom 18. Januar 2017 und die Beklagte mit ihrer allgemeinen Prozesserklärung vom 25. Februar 2016 auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
2. Die Klage ist unzulässig, soweit die Klagepartei die Verpflichtung der Beklagten zur Anerkennung als Asylberechtigter, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus beantragt hat. In Fällen der Verfahrenseinstellung des Bundesamtes nach §§ 32, 33 AsylG steht die besondere Struktur des Asylverfahrens einer auf Asylanerkennung gerichteten Verpflichtungsklage regelmäßig entgegen (BVerwG, U.v. 7.3.1995 – 9 C 264/94 – DVBl 1995, 857). Statthaft ist allein die Anfechtungsklage auf Aufhebung des Bescheides mit der Folge, dass das Bundesamt das Asylverfahren fortzusetzen hätte (vgl. Schröder in Hofmann, Ausländerrecht 2. Aufl. 2016, § 33 AsylG Rn. 12; BVerwG, U.v. 5.9.2013 – 10 C 1/13 – juris). Im Übrigen wäre eine Verpflichtungsklage auch unbegründet, da die gesetzliche Vertreterin des Klägers erklärte, dass bei diesem weder Merkmale für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG noch die Voraussetzungen für eine Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG vorlägen bzw. ihm in seinem Heimatland kein ernsthafter Schaden nach § 4 Abs. 1 AsylG drohe.
Soweit die Klagepartei die Aufhebung der Nr. 4 des Bescheides beantragt hat, ist die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses ebenfalls unzulässig. Denn die schlichte Aufhebung der Nr. 4 des Bescheids aufgrund einer Anfechtungsklage beträfe lediglich die getroffene Befristungsentscheidung als solche, so dass ein erfolgreiches Rechtsmittel zur Folge hätte, dass das – unmittelbar kraft Gesetz geltende – Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG unbefristet gelten würde. Die Rechtsstellung des Klägers wäre somit nicht verbessert. Das Ziel einer kürzeren Befristung der gesetzlichen Sperrwirkung nach § 11 Abs. 2 AufenthG müsste im Wege der Verpflichtungsklage erstritten werden (vgl. NdsOVG, B.v. 14.12.2015 – 8 PA 199/15 – juris Rn. 5; VG München, B.v. 12.1.2016 – M 21 S. 15.31689 – UA S. 8; VG Ansbach, B.v. 20.11.2015 – AN 5 S. 15.01667 – juris Rn. 2; B.v. 18.11.2015 – AN 5 S. 15.01616 – UA S. 2; VG Aachen, B.v. 30.10.2015 – 6 L 807/15.A – juris Rn. 8; Funke/Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand Dezember 2015, § 11 Rn. 183, 190, 193, 196).
3. Im Übrigen ist die Klage zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Bescheid des Bundesamts vom 1. Dezember 2016 ist hinsichtlich der in Nr. 3 enthaltenen Abschiebungsandrohung und der dem Kläger gesetzten Ausreisefrist von einer Woche ab Bekanntgabe rechtswidrig und deshalb aufzuheben (vgl. § 113 Abs. 1 VwGO, s.u. 3.1.). Im Übrigen ist der streitgegenständliche Bescheid rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten. Es besteht kein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AsylG (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO, s.u. 3.2.).
3.1. Die Abschiebungsandrohung (Nr. 3 des Bescheides) ist rechtswidrig, da sie nicht die Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der § 34 Abs. 1, § 38 Abs. 2 AsylG i.V.m. §§ 59, 60 Abs. 10 AufenthG erfüllt.
Entgegen der Auffassung der Beklagten liegt hier ein Fall des § 38 Abs. 1 AsylG – und nicht des § 38 Abs. 2 AsylG – vor. § 38 Abs. 1 AsylG regelt die Dauer der Ausreisefrist (30 Tage) für alle Fälle, in denen der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird und keine der eine kürzere Ausreisefrist auslösenden Sonderregelungen eingreift. Dies ist hier der Fall. Für den Kläger wurde nach Anzeige der zuständigen Ausländerbehörde mit Schreiben vom 22. Oktober 2015 (Bl. 1f. BA) nach § 14a Abs. 2 AsylG ein Asylverfahren eingeleitet.
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2015 (Bl. 6f. BA) wies das Bundesamt die Mutter des Klägers als dessen Vertreterin darauf hin, dass die Möglichkeit bestehe, bis zur Zustellung der Entscheidung des Bundesamtes gemäß § 14a Abs. 3 AsylG auf die Durchführung eines Asylverfahrens für das Kind zu verzichten. Zugleich wurde ihr eine vorgedruckte Erklärung für einen möglichen Verzicht nach § 14a Abs. 3 AsylG übersandt. Dieses anzukreuzende Formular füllte die Mutter des Klägers aus, datierte es auf den 23. Dezember 2015 und sandte es an das Bundesamt zurück, dem die Erklärung am 4. Januar 2016 zuging (Bl. 26 BA). Die Mutter des Klägers erklärte darin, dass bei dem Kläger keine Merkmale für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG und für die Asylberechtigung nach Art. 16a Abs. 1 GG vorlägen bzw. in seinem Heimatland kein ernsthafter Schaden nach § 4 Abs. 1 AsylG drohe und verzichtete auf die Durchführung eines Asylverfahrens. Mit Schreiben vom 28. Dezember 2015 (Bl. 27 BA) bekräftigte die Mutter des Klägers erneut, dass sie auf ein Asylverfahren für den Kläger verzichte, da er aufgrund seines Vaters die österreichische Staatsbürgerschaft erhalte.
Entgegen diesen unzweideutigen Verzichtserklärungen der Mutter des Klägers vom 23. und 28. Dezember 2016 stellt das Bundesamt in seinem Bescheid vom 1. Dezember 2016 unzutreffend fest, dass die Vertreterin des Klägers nicht gemäß § 14a Abs. 3 AsylG auf die Durchführung eines Asylverfahrens für das Kind verzichtet, sondern der Ausländer am 28. Dezember 2015 seinen Asylantrag zurückgenommen habe, und forderte den Kläger unter Bezugnahme auf § 38 Abs. 2 AsylG auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 17.8.2010 – 10 C 18/09 – juris Rn. 12) richtet sich beim Verzicht auf die Durchführung eines Asylverfahrens gem. § 14a Abs. 3 AsylG die dem Ausländer vom Bundesamt mit der Abschiebungsandrohung zu setzende Ausreisefrist allerdings nach § 38 Abs. 1 Satz 1 AsylG (30 Tage). § 38 Abs. 2 AsylG ist auf den Fall des Verzichts auf die Durchführung des Asylverfahrens nach § 14a Abs. 3 AsylG nicht anwendbar.
Da die Ausreisefrist untrennbarer Bestandteil des Regelungskomplexes der Abschiebungsandrohung (§ 34 Abs. 1 AsylG, § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) ist, erweist sich Nr. 3 des Bescheides als rechtswidrig und war daher aufzuheben.
3.2. Soweit das Asylverfahren eingestellt wurde (Nr. 1 des Bescheides) und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt wurden (Nr. 2 des Bescheides) ist der streitgegenständliche Bescheid rechtmäßig.
Gemäß § 32 AsylG stellt das Bundesamt im Falle des Verzichts gemäß § 14a Abs. 3 AsylG in seiner Entscheidung fest, dass das Asylverfahren eingestellt ist und ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegt.
Dem Kläger steht insbesondere kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG zur Seite. Wegen der näheren Begründung kann zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die diesbezüglichen Ausführungen im angefochtenen Bescheid verwiesen werden, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG). Abschiebungsverbote wurden weder vorgetragen noch sind solche ersichtlich.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich der Kläger nicht mit Erfolg auf Schutzvorschriften zugunsten unbegleiteter Minderjähriger (§ 58 Abs. 1a AufenthG) berufen kann, da er sich in Deutschland nicht unbegleitet, sondern im Familienverband aufhält.
Eine etwaige Geltendmachung der Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen Gründen aufgrund eines bestehenden Familienverbands (Art. 6 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK) wäre kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, sondern ein im Rahmen von § 60a AufenthG zu prüfendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, für das sich der Kläger auf einen Antrag auf Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG bei der örtlich zuständigen Ausländerbehörde verweisen lassen muss (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 18.5.2010 – 11 LB 186/08 – juris Rn. 47; OVG Berlin-Bbg. B.v. 30.4.2013 – OVG 12 S. 25.13 – juris unter Hinweis auf § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG; BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 6/97 – juris).
Dass der Kläger als Minderjähriger wohl nicht getrennt von seiner Mutter in sein Heimatland abgeschoben werden kann, begründet ebenfalls kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 AufenthG, sondern wäre gegebenenfalls von der Ausländerbehörde bei der Aufenthaltsbeendigung zu berücksichtigen (vgl. § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei.
5. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.