Verwaltungsrecht

Unmöglichkeit einer Abschiebung wegen familiärer Beistandsgemeinschaft

Aktenzeichen  M 24 E 20.5102

Datum:
28.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6791
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 6 Abs. 1
AufenthG § 60a Abs. 2
VwGO § 123 Abs. 1

 

Leitsatz

Die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, drängt bei familiärer Beistandsgemeinschaft, in der ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Abschiebung des Antragstellers bis zur rechtskräftigen Entscheidung über eine noch zu erhebende Hauptsacheklage vorläufig auszusetzen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,– Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Aussetzung seiner Abschiebung.
Der Antragsteller, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste im April/Mai 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 27. Mai 2015 einen Asylantrag. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, hauptsächlich wegen seines Vaters nach Deutschland gekommen zu sein. In seiner Heimat habe er keine großen Probleme gehabt. Der konkrete Anlass für seine Ausreise sei nur, dass er seinen Vater betreuen und pflegen wolle.
Mit Bescheid vom 23. März 2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), den Antrag auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie den Antrag auf Zuerkennung subsidiären Schutzes jeweils als offensichtlich unbegründet ab (Nr. 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4). Es forderte den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen, andernfalls er nach Pakistan oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, abgeschoben werde (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Die gegen den Bescheid erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 20. Oktober 2017 als offensichtlich unbegründet abgewiesen (M 5 K 17.37895).
Der Antragsteller wurde anschließend aufgrund seiner Passlosigkeit zunächst geduldet. Eine auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs zu seinem in Deutschland lebenden Vater, der die deutsche Staatsangehörigkeit hat, (Antrag vom 22. September 2017, wiederholt am 2. November 2017) gerichtete Klage (M 24 K 18.3497) sowie einen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO; M 24 S 18.3498) hat der Antragsteller in der mündlichen Verhandlung vom … November 2018 gegen Zusicherung des Antragsgegners, die Ausreisefrist bis 31. Dezember 2018 zu verlängern, zurückgenommen.
Mit Schreiben vom 27.12.2018 beantragte der Antragsteller durch seinen damaligen Bevollmächtigten beim Antragsgegner, ihm eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG zu erteilen. Den zugleich gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung lehnte das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 16. Januar 2020 ab (M 24 E 18.6284). Auf die Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 23. September 2020 beantragte der Antragsteller beim Landratsamt erneut die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG. Nach Aktenlage wurde über den Antrag bislang nicht entschieden.
Am 13. Oktober 2020 beantragte der Antragsteller beim Verwaltungsgericht München,
im Wege der einstweiligen Anordnung den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, es liege ein Anordnungsgrund vor, da zu befürchten sei, dass der Antragsteller ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO aufgrund der Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid des Bundesamtes vom 23. März 2017 abgeschoben werde, zumal der Antragsgegner dem Antragsteller seit Ende 2018 keinerlei Dokument mehr ausstelle. Des Weiteren liege ein Anordnungsanspruch vor, da bei der Entscheidung über eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben sei. Es lägen dringende humanitäre und persönliche Gründe vor, weshalb die Abschiebung des Antragstellers aus rechtlichen Gründen unmöglich sei. Der 1949 geborene Vater des Antragstellers sei deutscher Staatsangehöriger und Inhaber eines Schwerbehindertenausweises mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 80 und dem Merkzeichen G. Seit 1. April 2019 sei der Vater in Pflegegrad 3 eingestuft, wobei der Antragsteller die gesamte Pflegetätigkeit ausübe. Für den Vater sei ein Berufsbetreuer bestellt. Der Vater habe im Jahr 2008 einen Schlaganfall erlitten und sei seitdem, sich verschlimmernd, weder zeitlich noch situationsbedingt ausreichend orientiert. Obwohl er deutscher Staatsangehöriger sei, verstehe er die deutsche Sprache nicht. Aufgrund einer hirnorganischen Schädigung durch den Schlaganfall verstehe er aber auch die Worte seiner Heimatsprache „Urdu“ nicht mehr, d.h. er könne die Bedeutung der einzelnen Wörter nicht mehr verstehen. Er könne auch kaum noch sprechen, wobei die Sprache für Außenstehende nicht verständlich sei, sondern nur vom Antragsteller verstanden werde, der durch die Gestik seines Vaters einfach wisse, was der Vater gerade für Bedürfnisse habe. Der Pflegeaufwand liege laut dem sozialmedizinischen Gutachten vom 16. Mai 2019 bei wenigstens 10 Stunden verteilt auf 2 Tage pro Woche. Der Antragsteller unterstütze seinen Vater während des Tages durchgehend und helfe ihm auch in der Nacht bei Toilettengängen. Er steuere alle Alltagshandlungen, treffe alle Entscheidungen im Alltagsleben und müsse seinen Vater auch an die Essenszeiten erinnern. Er bereite alle Mahlzeiten für ihn zu, schneide das Essen in mundgerechte Stücke und gieße die Getränke in eine Tasse. Er helfe ihm morgens und abends beim An- und Ausziehen. Bei allen Spaziergängen oder Behördengängen müsse er seinen Vater begleiten, da dieser ansonsten nicht mehr nach Hause finden würde. Er führe im Haus alle Aufräum- und Reinigungsarbeiten durch, wasche die Wäsche für seinen Vater und regle alle finanziellen Angelegenheiten und die gesamten Behördenangelegenheiten. Der Vater habe auch immer wieder dem Antragsteller gegenüber geäußert, dass er nicht in ein Heim möchte und unbedingt wolle, dass sein Sohn ihn weiter pflege. Der Vater habe auch zu erkennen gegeben, dass er lieber Suizid begehen würde, als in ein Heim zu kommen oder von anderen Menschen betreut zu werden. Der Vater des Antragstellers verfüge im Bundesgebiet über keinerlei andere familiäre Bindungen, so dass er als deutscher Staatsangehöriger auf die Pflege des Antragstellers im Bundesgebiet angewiesen sei.
Vorgelegt wurden Kopien des unbefristet gültigen Schwerbehindertenausweises und des Reisepasses des Vaters des Antragstellers, ein hausärztliches Attest vom 5. Dezember 2018, ein sozialmedizinisches Gutachten vom 16. Mai 2019 und eine eidesstattliche Versicherung des Antragstellers vom 29. September 2020.
Das Landratsamt beantragte am 9. November 2020 unter Vorlage der Ausländerakten,
den Antrag abzulehnen.
Ein Duldungsgrund sei nicht ersichtlich. Die Abschiebung sei tatsächlich durchführbar und das Landratsamt beabsichtige über das Landesamt für Asyl und Rückführungen, die Durchführung der Luftabschiebung zu beantragen. Der zwischenzeitlich abgelaufene Heimreiseschein (Passersatzdokument) werde von der pakistanischen Auslandsvertretung verlängert, sobald der Flugtermin durch das Landesamt für Asyl und Rückführungen mitgeteilt werde. Die Abschiebung sei auch rechtlich möglich, da ein Anspruch aus Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK auf einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet nicht bestehe. Relevante Sachverhaltsänderungen gegenüber dem Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 16. Januar 2020 (M 24 E 18.6284) hätten sich nicht ergeben. Das sozialmedizinische Gutachten vom 16. Mai 2019 gehe von einem Pflegeaufwand von wenigstens zehn Stunden verteilt auf 2 Tage pro Woche aus, so dass demnach feststehe, dass eine tägliche pflegerische Versorgung des Vaters des Antragstellers nicht erforderlich sei. Höchst unglaubhaft sei der vom Antragsteller vorgegebene Pflegeaufwand von 120 Stunden pro Woche allein schon vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller bei der Ausländerbehörde im Juli 2020 die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit beantragt habe, wobei er eine Vollzeitbeschäftigung bei einer Reinigungsfirma aufnehmen und dort von Montag bis Sonntag von 6:00 bis 14:00 Uhr arbeiten wollte (Bl. 704 – 705 BA). Bezüglich der Angabe, dass der Antragsteller alle finanziellen Angelegenheiten sowie die gesamten Behördenangelegenheiten erledige, werde darauf verwiesen, dass für den Vater ein Betreuer bestellt worden sei, in dessen Aufgabenbereich diese Tätigkeiten fielen. Der Tatbestand des § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG sei ebenfalls nicht erfüllt, weil nicht ersichtlich sei, dass es sich nur um einen weiteren vorübergehenden Aufenthalt handeln soll. Der Antragsteller wolle seinen Vater nicht nur vorübergehend pflegen, sondern die familiäre Lebensgemeinschaft mit diesem im Bundesgebiet aufrechterhalten und die Pflege weiterhin – auf unbestimmte Dauer – selbst durchführen.
Durch Beschluss der Kammer wurde die Verwaltungsstreitsache zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten dieses Verfahrens und der genannten vorausgegangenen Verfahren sowie auf die beigezogenen Akten des Landratsamts Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 123 VwGO hat auch in der Sache Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Erforderlich ist mit anderen Worten, dass der Antragsteller einen materiellen Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung gerade im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Anordnungsgrund) glaubhaft macht.
1. Ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Der Antragsteller ist als rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber ausreisepflichtig, und der Antragsgegner hat in der Antragserwiderung ausdrücklich erklärt, dass die Luftabschiebung beantragt und durchgeführt werden soll und dass diese aufgrund einer möglichen Verlängerung des Heimreisescheins auch tatsächlich durchführbar ist.
2. Der nach § 123 Abs. 1 VwGO für den Erlass der einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch ist ebenfalls glaubhaft gemacht. Denn es steht mit der für die Glaubhaftmachung notwendigen überwiegenden Wahrscheinlichkeit fest, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Aussetzung seiner Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zusteht.
Nach dieser Vorschrift ist die Abschiebung eines Ausländers insbesondere auszusetzen, solange die Abschiebung aus rechtlichen Gründen unmöglich ist. Dies ist hier mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Fall. Denn das vom Antragsteller vorgelegte sozialmedizinische Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenkassen vom 16. Mai 2019 und seine eidesstattliche Versicherung sprechen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Abschiebung des Antragstellers ihn in seinem Grundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG verletzen würde.
Nach Art. 6 Abs. 1 GG steht die Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Die darin enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörden, bei ihren Entscheidungen die bestehenden familiären Bindungen eines Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Ein betroffener Ausländer braucht es nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung seiner familiären Bindungen daran gehindert zu werden, bei seinen im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen Aufenthalt zu nehmen. Eingriffe in seine diesbezügliche Freiheit sind nur insoweit zulässig, als sie unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sind (vgl. BVerfG vom 17.5.2011 – 2 BvR 2625/10 – juris Rn. 13). Zwar ist es danach etwa grundsätzlich mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 14). Erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Dabei kommt es insbesondere auch nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden kann (vgl. BVerfG a.a.O. Rn. 15; BVerfG, B.v. 25.10.1995 – 2 BvR 901/95 – juris Rn. 8; BVerfG vom 1.8.1996 – 2 BvR 1119/96 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 3.9.2012 – 10 CE 12.293 – juris Rn. 24). Die tatsächlich geleistete Hilfe muss eine wesentliche sein (OVG Lüneburg, B.v. 30.5.2018 – 8 ME 3.18 – juris Rn. 43; B.v. 5.3.2018 – 8 PA 5/18 – juris Rn. 5; ThürOVG, B.v. 15.11.2002 – 3 EO 438/02 – juris Rn. 26); zugleich kann die familiäre Beistandsgemeinschaft bei Vorliegen einer Hilfebedürftigkeit aufgrund besonderer Umstände ihre Funktion selbst dann erfüllen, wenn das Familienmitglied, das die Lebenshilfe erbringt, berufstätig ist und deshalb die Hilfe nur während seiner Freizeit leisten kann. Dies bedeutet zugleich, dass dieses Familienmitglied zwar einzelne Pflegeleistungen, nicht aber die vollständige Betreuung eines Pflegebedürftigen erbringen muss, um eine familiäre Beistandsgemeinschaft bejahen zu können. Es kann in derartigen Fällen auch ausreichen, wenn das Familienmitglied etwa die regelmäßige Medikamenteneinnahme sicherstellt und als „psychische Stütze“ sowie bei nächtlichen Notfällen zur Verfügung steht (vgl. VGH BW, B.v. 28.3.2019 – 11 S 623/19 – juris Rn. 15; B.v. 5.7.1999 – 13 S 1101/99 -, juris Rn. 11 f.)
Nach diesen Maßstäben besteht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Abschiebung des Antragstellers derzeit unverhältnismäßig, deshalb mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar und damit rechtlich unmöglich ist.
a) Der Vater des Antragstellers ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Lebenshilfe seines Sohnes angewiesen.
Aus dem sozialmedizinischen Gutachten des medizinischen Dienstes der gesetzlichen Krankenkassen vom 16. Mai 2019 in Verbindung mit der eidesstattlichen Versicherung des Antragstellers ergibt sich, dass der Vater des Antragstellers pflegebedürftig und daher auf Unterstützung angewiesen ist und dass diese erforderliche Unterstützung vom Antragsteller tatsächlich geleistet wird. Der Vater des Antragstellers wurde ausweislich des Gutachtens in Pflegegrad drei eingestuft. Dies stellt eine wesentliche Änderung des Sachverhalts gegenüber demjenigen dar, der dem Beschluss des Gerichts vom 16. Januar 2020 zugrunde lag – der damalige Bevollmächtigte des Antragstellers hatte das damals schon vorliegende Gutachten schuldhaft nicht in das Verfahren eingeführt. Bei Pflegegrad 3 liegen „schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder Fähigkeiten“ vor (§ 15 Abs. 3 Satz 4 SGB XI). Des Weiteren wird der Antragsteller in dem Gutachten als einzige Pflegeperson benannt (das Gutachten gibt als Geburtsdatum des pflegenden Sohnes dasjenige des Antragstellers an, so dass die Nennung des Vornamens des Vaters zur Überzeugung des Gerichts ein offensichtliches Versehen darstellt) und ausgeführt, dass ein Pflegedienst nicht beauftragt ist. Als Wohnanschrift der Pflegeperson nennt das Gutachten die Adresse des Vaters des Antragstellers, so das davon auszugehen ist, dass zwischen dem Antragsteller und seinem Vater tatsächlich eine Hausgemeinschaft besteht. Dafür, dass das Bestehen der Hausgemeinschaft auch derzeit noch aktuell ist, spricht auch, dass der Antragsteller in seinem Antrag auf Beschäftigungserlaubnis vom 21. Juli 2020 die Adresse seines Vaters angegeben hat. Nach dem Gutachten ist der Pflegezustand nicht zu beanstanden und die Pflege durch den Antragsteller in ausreichendem Maß sichergestellt.
Dass der Vater des Antragstellers auf tägliche Unterstützung in mehreren Lebensbereichen angewiesen ist, ergibt sich allein schon aus der Einstufung in Pflegegrad 3. Auch die tatsächlichen Feststellungen des Gutachtens lassen keinerlei Zweifel hieran aufkommen. Nach den Feststellungen des Gutachtens ist die selbständige Lebensführung im Wesentlichen eingeschränkt durch die fortschreitenden kognitiven Defizite, die eingeschränkte Mobilität und die reduzierte Belastbarkeit. Im Einzelnen führt das Gutachten hierzu aus, dass der Vater sich mit Ausnahme des Duschens und Haare Waschens zwar noch selbst waschen und überwiegend selbstständig an- und entkleiden sowie selbständig essen kann, dass die Mahlzeiten aber überwiegend mundgerecht für ihn zubereitet werden müssen. Einkaufen, die Zubereitung von Mahlzeiten, das Aufräumen und die Wäschepflege sind nicht mehr selbstständig möglich. Medikamente müssen dreimal täglich gerichtet und verabreicht werden. Er ist nicht mehr ausreichend zeitlich orientiert und kann mehrschrittige Alltagshandlungen nur noch in geringem Maß selbst steuern. Den Tagesablauf kann er nicht mehr selbstständig strukturieren. Auch elementare Bedürfnisse kann er Fremden gegenüber nicht mehr hinreichend äußern. Die Wohnung kann er nicht mehr selbstständig verlassen, auch nicht mit einem Taxi. Die Teilnahme an kulturellen oder religiösen Veranstaltungen und Freizeitaktivitäten ist nur noch in Begleitung möglich.
Entgegen der Auffassung des Landratsamts bestehen für das Gericht derzeit keine Zweifel an der Aktualität des Gutachtens, da die Einstufung in Pflegegrad drei ausweislich des Gutachtens unbefristet erfolgt und nach dem Krankheitsbild des Vaters des Antragstellers nicht mehr mit einer Besserung zu rechnen ist. Dafür, dass die Pflege tatsächlich nicht mehr vom Antragsteller geleistet wird, ist nach Aktenlage ebenfalls nichts ersichtlich; auch vom Landratsamt wurde dies weder behauptet noch näher dargelegt. Eine genaue Bezifferung des tatsächlichen Pflegeaufwands ist nach dem oben Dargelegten weder für die aufenthaltsrechtliche Beurteilung noch für die Einstufung in einen Pflegegrad maßgeblich. Entscheidend für die aufenthaltsrechtliche Beurteilung ist – wie dargelegt – allein, dass eine wesentliche Lebenshilfe persönlich geleistet wird, auf die der pflegebedürftige angewiesen ist. Die in der Antragserwiderung geäußerte Auffassung des Landratsamts, aus der in dem Gutachten enthaltenen Aussage, dass der Pflegeaufwand nachvollziehbar bei wenigstens zehn Stunden verteilt auf regelmäßig mindestens zwei Tage pro Woche liege, sei zu schließen, dass ein täglicher Unterstützungsbedarf nicht bestehe, geht rechtlich fehl und ist mit den übrigen, nachvollziehbaren tatsächlichen Feststellungen des Gutachtens zum Unterstützungsbedarf offensichtlich nicht vereinbar. Diese Aussage im Gutachten erklärt sich allein und ohne Weiteres aus § 19 Satz 2 SGB XI, wonach eine Pflegeperson nur dann Leistungen zur sozialen Sicherung erhält, wenn sie eine oder mehrere pflegebedürftige Personen wenigstens zehn Stunden wöchentlich, verteilt auf regelmäßig mindestens zwei Tage in der Woche, pflegt.
Nach alledem ergibt sich auch aus dem Antrag des Antragstellers auf Beschäftigungserlaubnis, dem zufolge er eine Tätigkeit als Reinigungskraft in der Zeit von 6:00 Uhr bis 14:00 Uhr anstrebte, noch nicht, dass er seinem Vater keine wesentliche Lebenshilfe leistet. Zwar erscheint auch dem Gericht diese-derzeit wohl auch nur angestrebte-Tätigkeit sehr ambitioniert; sofern der Antragsteller allerdings in der übrigen Zeit im Rahmen der Hausgemeinschaft die Pflege vollständig übernehmen und beispielsweise nur für eine tägliche Mahlzeit einen Pflegedienst engagieren würde, würde er seinem Vater nach dem oben Dargelegten weiterhin eine wesentliche Lebenshilfe leisten, die seinen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet rechtfertigt (vgl. VGH BW, B.v. 28.3.2019 – 11 S 623/19 – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 3.9.2012 – a.a.O. – juris Rn. 30).
b) da der Vater des Antragstellers deutscher Staatsangehöriger ist, ist es ihm nicht zumutbar, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, so dass die erforderliche Lebenshilfe nur hier erbracht werden kann. Ebenso wenig ist es ihm zumutbar, sich auf eine Fremdpflege verweisen zu lassen.
c) Es sind auch keine Gesichtspunkte erkennbar, die die in der Regel unverhältnismäßig in Art. 6 Abs. 1 GG eingreifende Abschiebung des die Pflege seiner deutschen Familienangehörigen tatsächlich leistenden Ausländers ausnahmsweise als verhältnismäßig erscheinen ließen. Zwar hat der Vater des Antragstellers sich den Zugang zur Bundesrepublik Deutschland durch eine unerlaubte Einreise im Zusammenhang mit einem offensichtlich erfolglosen Asylverfahren verschafft. Wie bereits ausgeführt kann der Schutz der familiären Beistandsgemeinschaft einwanderungspolitische Belange auch dann zurückdrängen, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat. Vor dem Hintergrund des Umstands, dass der auf besondere Lebenshilfe angewiesene Vater des Antragstellers sich in einer Pflegeeinrichtung nicht mehr hinreichend verständigen könnte, da er nach den Feststellungen des Gutachtens selbst elementare Bedürfnisse Fremden gegenüber nicht mehr hinreichend äußern kann, und sonstige unterstützungsbereite Familienangehörige nach Aktenlage nicht ersichtlich sind, ist dem Schutz der familiären Beistandsgemeinschaft aus Art. 6 GG vorliegend der Vorrang zu geben. Dass möglicherweise der Vater des Antragstellers mit Hilfe Dritter zumindest für die Dauer der Durchführung eines Visumverfahrens auch ohne den Antragsteller auskommen kann, macht die Abschiebung des Antragstellers ebenfalls nicht verhältnismäßig. Denn darauf kommt es, wie ausgeführt, nicht an (vgl. BVerfG vom 17.5.2011 – 2 BvR 2625/10 – juris Rn. 15; BVerfG vom 1.8.1996 – 2 BvR 1119/96 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 3.9.2012 – a.a.O. – juris Rn. 30). Hinreichend gewichtige öffentliche Interessen, zu deren Schutz die Abschiebung des Antragstellers unerlässlich wäre, sind nach Aktenlage ebenfalls nicht ersichtlich. Dass der Antragsteller eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen könnte, ist nicht erkennbar.
3. Die mit der einstweiligen Anordnung einhergehende partielle Vorwegnahme der Hauptsache ist mit Blick auf den im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mit hoher Wahrscheinlichkeit gegebenen Erfolg einer Hauptsacheklage, die dem Antragsteller ansonsten drohenden Nachteile und die jederzeit gegebene Reversibilität der getroffenen Regelung bei einer Änderung der Sachlage gerechtfertigt.
Dem Antragsgegner ist es zum einen unbenommen, beim Gericht zu beantragen, dass dem Antragsteller eine Frist zur Erhebung der Hauptsacheklage gesetzt wird (§ 123 VwGO i.V.m. § 926 Abs. 1 ZPO). Zum anderen hat er jederzeit die Möglichkeit, bei einer Änderung der Sachoder Rechtslage einen Antrag auf Aufhebung oder Abänderung der einstweiligen Anordnung zu stellen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 und 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.

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