Verwaltungsrecht

Unrechtmäßige Entziehung der Fahrerlaubnis

Aktenzeichen  M 26 K 16.2438

Datum:
10.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 123897
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FeV § 6 Abs. 6
StVG § 3
VwVfG Art. 48

 

Leitsatz

1. Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 S. 1 StVG setzt die positive Feststellung der Fahrerlaubnisbehörde voraus, dass dem Fahrerlaubnisinhaber die körperliche oder geistige Eignung fehlt. Dazu ist es nicht ausreichend, dass die Behörde aufgrund lange zurückliegender Verfahren Bedenken hat. (Rn. 18 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Umstellung der alten Fahrerlaubnisklasse 3 in die Klassen C1 und C1E gemäß § 6 Abs. 6 FeV stellt einen Verwaltungsakt gemäß § 35 VwVfG dar. (Rn. 23 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Rechtsgrundlage für die Rücknahme einer irrtümlich erteilten Fahrerlaubnis ist § 48 Abs. 1 VwVfG. (Rn. 22) Dabei beginnt die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 VwVfG, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt und ihr auch die für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
4. Bestehen lediglich Bedenken gegen die gesundheitliche Eignung des Fahrerlaubnisinhabers, ist der sofortige Widerruf nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG der irrtümlich erteilten Fahrerlaubnis unverhältnismäßig. Hier wäre zunächst ein ärztliches Gutachten gemäß § 13 Abs. 2 FeV anzuordnen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 7. Januar 2016 in Gestalt des Widerspruchbescheids der Regierung von Oberbayern vom 12. Mai 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage ist erfolgreich.
1. Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 7. Januar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2016 ist im angegriffenen Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO.
Weder die von der Beklagten gewählte Rechtsgrundlage des § 3 Straßenverkehrsgesetz – StVG – (dazu 1.1.), noch die – bei irrtümlich erteilten Fahrerlaubnissen wohl grundsätzlich ohnehin vorrangige – Regelung des Art. 48 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG – (dazu 1.2) rechtfertigen die Entziehung in Nr. 1 des Bescheids vom 7. Januar 2016. Folglich waren auch die zugleich im Bescheid ausgesprochene Herausgabeverpflichtung, die Kostenentscheidung und der Widerspruchsbescheid aufzuheben.
Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit ist dabei die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, vorliegend also der Erlass bzw. die Zustellung des Widerspruchbescheides vom 12. Mai 2016.
1.1 Unabhängig von der Frage, ob in der vorliegenden Konstellation § 3 StVG neben Art. 48 VwVfG überhaupt anwendbar ist, liegen jedenfalls seine Tatbestandsvoraussetzungen nicht vor. Denn weder hat sich der Kläger als ungeeignet, noch als nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen C1 und C1E erwiesen.
1.1.1 Es steht nicht fest bzw. ist nicht erwiesen, dass der Kläger bzgl. der Klassen C1 und C1E ungeeignet ist, sprich die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen nicht erfüllt oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat.
Die zuletzt eingeholten Auskünfte der Beklagten im Oktober 2014 ergaben, dass im Führungszeugnis des Klägers ebenso wie im Fahrerlaubnisregister keine Eintragungen oder Negativangaben enthalten sind. Hinweise auf Defizite bzgl. der körperlichen Anforderungen könnte man allenfalls aus der eingetragenen Beschränkung auf 3,5 t ableiten. Allerdings hat der Kläger zuletzt etwa ein augenärztliches Gutachten vom … Juni 2011 vorgelegt, das „für alle Fahrerlaubnisklassen gilt“ und ihm bei Tragen der notwendigen Sehhilfe für beide Augen einen Visus von 1,0 und damit das „Sehvermögen für die beantragte Fahrerlaubnisklasse“ bestätigt. Vor diesem Hintergrund ist schon zweifelhaft, ob überhaupt noch (auf Tatsachen basierende) Bedenken gegen die körperliche Eignung des Klägers vorliegen, welche allenfalls die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens gemäß § 13 Abs. 2 FeV rechtfertigen würden. Dies braucht vorliegend aber nicht zu entschieden werden, weil jedenfalls die Ungeeignetheit des Klägers nicht erwiesen ist, da die Beklagte dem Kläger nicht zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens betreffend seine Sehfähigkeit aufgefordert hat.
1.1.2 Die Befähigung des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen C1 und C1E steht dagegen fest. Denn der Kläger hat 1975 die damals vorgeschriebenen theoretischen und praktischen Prüfungen vollständig absolviert und anschließend eine Fahrerlaubnis der Klasse 3 erhalten, die die Klassen C1 und C1E umfasst (§ 6 Abs. 6 FeV i.V.m. Nr. 17 der Anlage 3 zur FeV). Dass die ursprüngliche, erstmalig erteilte Fahrerlaubnis auf 3,5 t beschränkt war, vermag nichts an der damals theoretisch und praktisch erworbenen und nun überführten Befähigung zu ändern, da Grund für die damalige Begrenzung die nur eingeschränkte Eignung des Klägers infolge seiner damals noch nicht vollständig wiederhergestellten Sehfähigkeit war.
1.2 Auch auf Art. 48 VwVfG kann sich der Bescheid vom 7. Januar 2016 nicht stützen. In der streitgegenständlichen Konstellation spricht vieles für Art. 48 VwVfG als vorrangige Rechtsgrundlage für die von der Beklagten angestrebte Rechtsfolge. Denn anders als § 3 StVG, der auf die in der Person des Fahrerlaubnisinhabers liegenden Merkmale der Eignung und Befähigung abstellt, ist Ursache für die beabsichtigte Entziehung bzw. Aufhebung ein technisches Versehen und damit ein Fehler auf Seiten der Fahrerlaubnisbehörde. Ob und in welchem inhaltlichen und zeitlichen Umfang Art. 48 VwVfG unter diesen Rahmenbedingungen § 3 StVG verdrängt, braucht aber vorliegend eben so wenig entschieden werden wie die Frage, ob eine Umdeutung des Bescheids von 7. Januar 2016 gemäß Art. 47 VwVfG im Hinblick auf die Rechtsgrundlage möglich ist. Denn auch Art. 48 VwVfG rechtfertigt das – dann als Rücknahme zu verstehende – Vorgehen im Bescheid vom 7. Januar 2016 nicht.
1.2.1 Zwar handelt es sich bei der Umstellung gemäß § 6 Abs. 6 FeV der alten Fahrerlaubnisklasse 3 u.a. in die Klassen C1 und C1E um einen Verwaltungsakt gemäß Art. 35 VwVfG. Denn die Beklagte erstellt hier nicht bloß (mit Hilfe der Bundesdruckerei) ein Ersatzdokument. Sie prüft vielmehr aufgrund des gestellten Antrags anhand
§ 6 Abs. 6 Satz 1 FeV i.V.m. der Anlage 3 zur FeV, in welchem Umfang die alte Fahrerlaubnisklasse, ggf. auch mit Hilfe von Einschränkungen und Schlüsselzahlen, in neues Recht zu überführen ist. Das Ergebnis dieses Prüfvorgangs fließt dann in die Erstellung des neuen Kartenführerscheins, der mit Wissen und Wollen der Fahrerlaubnisbehörde an den jeweiligen Inhaber übergeben wird (vgl. dazu auch BayVGH, B. v. 9. Februar 2012 – 11 CS 11.2272 – juris).
1.2.2 Eine Rücknahme nach Art. 48 VwVfG scheitert aber am Ablauf der Jahresfrist gemäß Art. 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG. Zur Rechtfertigung der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts gehört – neben weiteren Voraussetzungen – die Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, der zurückgenommen werden soll. Die Frist für die Rücknahme beginnt deshalb erst zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erkannt hat und ihr auch die weiteren für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig bekannt sind (BayVGH, B. v. 9. Februar 2012 a.a.O. mit Verweis u.a. auf BVerwG, U. v. 24. Januar 2001 – 8 C 8.00 – juris).
Dies war ausweislich der Behördenakten bei der Beklagten spätestens im Oktober 2014 der Fall. Laut einem (als solchem nicht datierten) handschriftlichen Vermerk (Bl. 47. d. A.) auf einem Entwurfsschreiben vom 1. Oktober 2014 sei „bei Erweiterung auf Klasse A am …05.2013 die Beschränkung (wahrscheinlich durch technische Probleme) nicht übernommen worden. Führerschein mit Kl. C1 + C1E ausgestellt.“ Zudem heißt es am Ende des Vermerks „KKA + Akten liegen vor. Wenn alles komplett, Akte an Bescheidsgruppe wg. Entzug C1/C1E“. Die Beklagte hatte also bereits im Oktober 2014 die notwendige, vollumfängliche Kenntnis aller Tatsachen und der Rechtslage, weshalb auch zu diesem Zeitpunkt das (aus ihrer Sicht korrekte) Entziehungsverfahren eingeleitet werden sollte.
Die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG ist damit im Oktober 2015 abgelaufen. Ein Fall des Art. 48 Abs. 4 Satz 2 VwVfG i.V.m. Art. 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 VwVfG liegt nicht vor.
1.2.3 Zudem wäre die Rücknahme auch ermessensfehlerhaft bzw. unverhältnismäßig. Zwar dürfte im Regelfall bei fehlerhaft erteilten Fahrerlaubnissen im Rahmen der Rücknahme eine Ermessensreduktion auf Null vorliegen (so auch BayVGH, B. v. 9. Februar 2012 a.a.O.). Anders muss es sich jedoch verhalten, wenn – wie vorliegend – allenfalls Zweifel an der Berechtigung zum Führen der verfahrensgegenständlichen Fahrerlaubnisklassen und damit am materiell-rechtlichen Umfang der Umstellung bestehen. Es können insoweit keine anderen Maßstäbe gelten als bei einer Entziehung nach § 3 StVG: Zunächst muss die Fahrerlaubnisbehörde etwaige Zweifel – hier allenfalls bzgl. der Frage der Eignung (Sehkraft) – aufklären, bevor sie die Fahrerlaubnis zurücknimmt.
1.3 Weil die in Nr. 1 des Bescheids vom 7. Januar 2016 verfügte Entziehung rechtswidrig ist, waren auch die in Nr. 2 des Bescheids enthaltene Herausgabeverpflichtung und die in den Nrn. 5 und 6 vorgenommene Kostenentscheidung aufzuheben. Die in Nr. 3 des Bescheids verfügte Zwangsgeldandrohung war dagegen nicht aufzuheben, weil sich diese durch Herausgabe des Führerscheins bereits erledigt hat. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde erörtert, dass sich der Klageantrag sich insoweit nicht auf die Nr. 3 des Bescheids bezieht.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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