Verwaltungsrecht

Verfassungsgemäßheit des § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG

Aktenzeichen  M 26 S 16.4565

Datum:
3.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3

 

Leitsatz

(redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis nach Maßgabe des Fahreignungs-Bewertungssystems.
Mit Schreiben vom … September 2014, zugestellt am … September 2014, ermahnte die Antragsgegnerin die Antragstellerin zu einem Stand von vier Punkten im Fahreignungsregister. Dem legte sie folgende Eintragungen zugrunde:
TattagRechtskraftTatbestandPunkte
…3.2014…4.2014 (Eintragung:
…6.2014)Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um a… km/h2
…3.2014…8.2014Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um b… km/h2
Eine weitere mit 2 Punkten bewertete Tat vom … April 2014 (Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um c… km/h), rechtskräftig seit dem … September 2014, teilte das Kraftfahrt-Bundesamt der Antragsgegnerin mit Schreiben vom … Oktober 2014 mit. Eine erneute Mitteilung (zu einem Stand von sechs Punkten) erfolgte mit Schreiben vom … August 2015. Bei dieser war berücksichtigt, dass der Punktestand nach Berechnung durch die Fahrerlaubnisbehörde auf fünf Punkte festgesetzt und eine weitere Tat, nämlich die vom … Mai 2015 (Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um d… km/h), rechtskräftig seit dem … August 2015 und bewertet mit einem Punkt, im Fahreignungsregister gespeichert worden war.
Mit Schreiben vom … September 2015, zugestellt am … September 2015, verwarnte die Antragsgegnerin die Antragstellerin bei einem Stand von sechs Punkten.
Ausweislich einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom … September 2016 beging die Antragstellerin die folgenden weiteren Verkehrsverstöße und erreichte damit neun Punkte:
TattagRechtskraftTatbestandPunkte
…6.2015…9.2015Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaft um e… km/h1
…7.2015…8.2016Abstandsverstoß (weniger als 3/10 des halben Tachowertes2
Nach Anhörung entzog die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit Bescheid vom … September 2016, dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zugestellt am … Oktober 2016, die Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1, C1E einschließlich Unterklassen (Nr. 1 des Bescheids). Sie gab ihr auf, ihren Führerschein spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids abzugeben (Nr. 2), drohte ihr für den Fall der nicht fristgerechten Abgabe ein Zwangsgeld in Höhe von a… EUR an (Nr. 3) und ordnete die sofortige Vollziehung der Nr. 2 an (Nr. 4). Nrn. 5 und 6 des Bescheids enthalten die Kostenentscheidung.
Begründet ist der Bescheid im Wesentlichen damit, dass die Fahrerlaubnis der Antragstellerin wegen des Erreichens von neun Punkten im Fahreignungsregister zu entziehen war. Die vorgeschalteten Maßnahmen seien ergriffen worden. Tilgungen seien nicht zu berücksichtigen.
Mit Schriftsatz vom … Oktober 2016, dem Bayerischen Verwaltungsgericht München zugegangen am selben Tag, erhob der Bevollmächtigte der Antragstellerin in deren Namen Klage mit dem Antrag, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 29. September 2016 aufzuheben (M 26 K 16.4564).
Außerdem beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nrn. 1, 2 und 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 29. September 2016 anzuordnen.
Zur Begründung von Klage und Antrag wiederholte der Bevollmächtigte seine Ausführungen im Anhörungsverfahren, wonach die bis zum 30. April 2014 ergangenen Bußgeldbescheide hinsichtlich ihrer Tilgung dem § 29 StVG in der bis 30. April 2014 geltenden Fassung unterlägen und aus den weiteren Taten wegen der für diese geltenden neuen Rechtslage keine Ablaufhemmung resultiere. Hieraus folge, dass die Tat vom … März 2014 nicht mehr zu berücksichtigen gewesen sei.
Am … Oktober 2016 ging der Führerschein der Antragstellerin bei der Antragsgegnerin ein.
Mit Schriftsatz vom … Oktober 2016 beantragte die Antragsgegnerin,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wiederholte sie zusammengefasst ihre Ausführungen im angefochtenen Bescheid.
Mit Beschluss vom 28. Oktober 2016 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Verfahren M 26 K 16.4564 sowie auf die Akte der Antragsgegnerin ergänzend Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 VwGO analog).
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat keinen Erfolg.
1. Der Antrag ist nach Abgabe des Führerscheins am … Oktober 2016 wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, soweit mit ihm die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 29. September 2016 begehrt wird. Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin das der Antragstellerin für den Fall der nicht fristgerechten Abgabe des Führerscheins angedrohte Zwangsgeld entgegen der Vorschrift des Art. 37 Abs. 4 Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz – VwZVG – gleichwohl noch beitreiben wird (s. BayVGH, B.v. 7.1.2014 – 11 CS 13.2427, 11 C 13.2428 – juris).
2. Im Übrigen ist der Antrag zwar zulässig, jedoch unbegründet.
2.1. Die Regelung unter Nr. 1 des angefochtenen Bescheids ist kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 4 Abs. 9 des Straßenverkehrsgesetzes – StVG – in der ab 5.12.2014 anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 28.11.2014 [BGBl I S. 1802]). Im Hinblick auf die Nr. 2 des Bescheids hat die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids im Einklang mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (s. B.v. 22.9.2015 – 11 CS 15.1447 – juris Rn. 23), der dieses Gericht folgt, angeordnet. Die hierzu im streitgegenständlichen Bescheid abgegebene Begründung genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 VwGO, denn die Behörde hat ausreichend einzelfallbezogen dargelegt, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch oder Klage die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. Im Bereich des Sicherheitsrechts, zu dem auch das Recht der Fahrerlaubnisse gehört, kann sich die Behörde zur Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung darauf beschränken, die für diese Fallgruppe typische Interessenlage aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass sie auch im konkreten Fall vorliegt (s. z. B. BayVGH, B.v. 24.8.2010 – 11 CS 10.1139 – juris).
2.2. Bei der Entscheidung über den Antrag, die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen bzw. anzuordnen (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO), hat das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen. Im Rahmen dieser Entscheidung ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird, abzuwägen. Ausschlaggebend im Rahmen dieser Abwägungsentscheidung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet oder wiederhergestellt werden soll, hier also diejenigen der Klage vom … Oktober 2016. Lässt sich schon bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, so dass die Klage mit Sicherheit Erfolg haben wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsakts bestehen. Umgekehrt ist für eine Interessenabwägung, die zugunsten des Antragstellers ausgeht, im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache festgestellt werden können.
Eine summarische Prüfung der Hauptsache, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderlich, aber auch ausreichend ist, ergibt hier, dass die Klage voraussichtlich keinen Erfolg haben wird.
2.2.1. Die in Nr. 1 getroffene Entziehungsentscheidung ist formell und materiell rechtmäßig und die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist ihm zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungsregister ergeben. Nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG hat die Fahrerlaubnisbehörde für das Ergreifen einer Maßnahme auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Damit hat der Gesetzgeber das von der Rechtsprechung zur Rechtslage vor der Gesetzesänderung zum 1. Mai 2014 entwickelte Tattagprinzip normiert. Die Antragstellerin hat durch die am … Juli 2015 begangene Ordnungswidrigkeit (Rechtskraft …8.2016) mindestens neun Punkte erreicht, so dass ihr die Fahrerlaubnis zu entziehen war.
Die Antragsgegnerin hat auch die zuvor zu absolvierenden Maßnahmen nach dem Stufensystem ordnungsgemäß vollzogen. Sie ermahnte die Antragstellerin mit Schreiben vom … September 2014 (erste Stufe der Maßnahmen nach dem Punktsystem: § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG). Auch die zweite Stufe des Punktsystems wurde ordnungsgemäß durchlaufen. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob es gerechtfertigt war, in Bezug auf die Tat vom … April 2014 eine Reduzierung auf fünf Punkte vorzunehmen (vgl. hierzu § 4 Abs. 6 StVG in der vom 1.5.2014 bis 4.12.2014 geltenden Fassung). Denn jedenfalls erreichte die Antragstellerin mit der Tat vom … Mai 2015 einen Punktestand, der gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG zu der Verwarnung mit Schreiben vom … September 2015 führen musste.
Die Einwendungen von Antragstellerseite führen zu keiner anderen Beurteilung. Die der Fahrerlaubnisentziehung zugrunde liegenden Eintragungen im Fahreignungsregister waren zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses alle noch verwertbar. Dies gilt auch für die Ordnungswidrigkeit, die am … März 2014 begangen wurde. Die Übergangsregelung des § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG bestimmt ausdrücklich, dass auf Entscheidungen, die bis zum Ablauf des 30. April 2014 begangene Zuwiderhandlungen ahnden und – wie bei der Tat vom … März 2014 – erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden, die ab dem 1. Mai 2014 geltenden Vorschriften anzuwenden sind. Gegen diese Regelung bestehen auch unter den Gesichtspunkten der Gleichbehandlung und des Vertrauensschutzes nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Vielmehr ist es sachgerecht, sämtliche Eintragungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung und zur möglichst weitgehenden Anwendung der neuen gesetzlichen Regelung ab der Rechtsänderung dem neuen Recht zu unterwerfen (BayVGH, B.v. 26.9.2016 – 11 CS 16.1566 – juris Rn. 5 m. w. N.).
Im Übrigen ist der Antragsgegnerin auch darin zuzustimmen, dass selbst dann, wenn in Bezug auf die Tat vom … März 2014, rechtskräftig seit dem … April 2014, die zweijährige Tilgungsfrist nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVG in der bis 30. April 2014 geltenden Fassung zur Anwendung käme, sich dies gemäß § 4 Abs. 7 StVG nicht auf den hier der Entziehung zugrunde zu legenden Stand von neun Punkten am … Juli 2015 (s. § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG) auswirken würde.
2.2.2. Da somit die Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, ist auch die in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene, fristmäßig konkretisierte Verpflichtung, den Führerschein innerhalb der genannten Frist abzuliefern, nicht zu beanstanden (s. § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i. V. m. § 47 Abs. 1 Sätze 1 und 2 Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes – GKG – i. V. m. Nrn. 1.5, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

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