Verwaltungsrecht

Verfassungskonforme Anwendung von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG

Aktenzeichen  M 15 K 16.30413

Datum:
21.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylsuchenden im Falle seiner Abschiebung im Heimatstaat drohen, ist regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen. Die allgemeine Gefahrenlage in Afghanistan verdichtet sich für einen Familienvater, der Ehefrau und drei Kinder zu ernähren hat, derart zu einer extremen Gefahr, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG geboten ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. Februar 2016 wird in Nr. 4. insoweit aufgehoben, als festgestellt wurde, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegt.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II.
Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 3/4, die Beklagte 1/4.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Soweit die Bevollmächtigte des Klägers die Klage in der mündlichen Verhandlung mit Ausnahme der Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, ist sie zulässig und hat in der Sache Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig, soweit darin in Nr. 4. festgestellt wird, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegt und verletzt den Kläger insoweit in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf eine entsprechende Feststellung (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Maßgeblich für die Entscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Wegen des unteilbaren Streitgegenstands bezog sich die Klage auch noch auf ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Ein derartiges Abschiebungsverbot ist indes nicht festzustellen. Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht ersichtlich.
Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung des Bestehens eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn diesem dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Beruft sich ein Ausländer hingegen auf allgemeine Gefahren i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, die ihn nicht nur persönlich sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein betreffen, so ist die Gewährung von Abschiebungsschutz einer politischen Leitentscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60a AufenthG vorbehalten.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist jedoch im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 AufenthG oder eine andere Regelung, die vergleichbaren Schutz gewährleistet, nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Dies setzt das Bestehen individueller Gefahren voraus. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer im Falle einer Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. BVerwG, vgl. etwa B. v. 27.06.2013 – 10 B 11/13 – juris Rn. 7). Nur dann gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards jedem betroffenen Ausländer trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 2, § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu gewähren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs (z. B. U. v. 15.3.2013 – 13a B 12.30292, 13a B 12.30325 – juris Rn. 35 ff.; B. v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5; B. v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 6) ist gemäß sämtlichen Auskünften und Erkenntnismitteln nicht davon auszugehen, dass ein alleinstehender arbeitsfähiger männlicher afghanischer Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen ließe. Zwar ist die Versorgungslage in Afghanistan schlecht, jedoch ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald ernste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären.
Der Kläger kann aber aufgrund einer Gesamtbetrachtung seiner persönlichen Umstände nicht der o.g. Gruppe der alleinstehenden und arbeitsfähigen männlichen afghanischen Rückkehrer zugerechnet werden.
Eine extreme Gefahrenlage in Kabul kann sich nämlich für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben.
Bei der Beurteilung, ob eine extreme Gefahrenlage besteht, ist zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 GG nur gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Ehepartner nach Afghanistan zurückkehren können (vgl. BVerfG, B. v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris). Ihre einzelne und isolierte Rückkehr ist weder realistisch noch von Rechts wegen von ihnen zu fordern. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan geht es damit nicht nur um die Sicherstellung des Lebensunterhalts des Klägers. Bei der Beantwortung der Frage, ob das Existenzminimum am Zufluchtsort gesichert sein wird, sind alle Familienmitglieder gemeinsam in den Blick zu nehmen (VG Augsburg, U. v. 24.5.2012 – Au 6 K 11.30369 – juris Rn. 29) und eine Unterhaltspflicht des Klägers mit zu berücksichtigen (BayVGH, U. v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 21). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, ob eine gemeinsame oder getrennte Rückkehr von Familienangehörigen zugrunde zu legen ist, ist bei der ein mögliches Abschiebungshindernis betreffenden Gefahrenprognose eine möglichst realitätsnahe, wenngleich hypothetische Rückkehrsituation zugrunde zu legen (BVerwG, U. v. 8.9.1992 – 9 C 8.91 – juris; U. v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 – juris). Danach ist bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Abschiebung in den Heimatstaat drohen, unter Einbeziehung der Bedeutung, welche die deutsche Rechtsordnung dem Schutz von Ehe und Familie beimesse (Art. 6 GG), regelmäßig von einer gemeinsamen Rückkehr aller Familienangehörigen auszugehen. Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen, wie bei Angehörigen, die als politisch Verfolgte Abschiebungsschutz genießen, könne eine andere Betrachtung geboten sein (BVerwG, U. v. 21.9.1999 – 9 C 12/99 – juris Rn. 11). Dieser Ausnahmefall liegt hier nicht vor, da das Abschiebungshindernis für die Frau des Klägers und die gemeinsamen Kinder nur festgestellt worden ist, weil dort eine isolierte Rückkehr der Frau und der Kinder ohne den Mann und Vater in den Blick genommen worden ist und diese daher als besonders schutzbedürftig angesehen worden sind. Ein Widerspruch zu einer verbindlich festgestellten Flüchtlingseigenschaft, wie ihn das Bundesverwaltungsgericht fordert, liegt damit nicht vor.
Die allgemeine Gefahr in Afghanistan würde sich daher für den Kläger derart zu einer extremen Gefahr verdichten, dass eine entsprechende Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist (vgl. BayVGH, B. v. 25.01.2013 – 13a ZB 12.30443 – juris; B. v. 19.06.2013 – 13a ZB 12.30386 – juris; OVG Rheinland-Pfalz, U. v. 21.03.2012 – 8 A 11050/10 – juris). Nach sämtlichen Auskünften und Erkenntnismitteln, die Gegenstand des Verfahrens sind, ist davon auszugehen, dass der Kläger, der für eine Ehefrau und drei Kinder zu sorgen hat, als Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach einer Rückkehr in eine extreme Gefahrenlage geraten würde, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt. Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. Es ist dem Kläger nicht möglich und auch nicht zumutbar, in seinem Heimatland durch Aushilfstätigkeiten seinen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt der Ehefrau und der drei Kinder zu sichern. Die Arbeitsmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. … vom 7. Oktober 2010 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof geht hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten davon aus, dass am ehesten noch junge kräftige Männer einfache Jobs, bei denen harte körperliche Arbeit gefragt sei, fänden. In diesen Sektor, meist in das Baugewerbe, strömt nach der aktuellen Auskunftslage massiv die große Zahl junger Analphabeten. Bei den angebotenen Erwerbstätigkeiten handelt es sich allerdings meist um Tätigkeiten als Tagelöhner, die allenfalls das Existenzminimum der Arbeitssuchenden sichern.
Damit würde der Kläger unter den gegebenen Umständen den notwendigen Lebensunterhalt nicht erwirtschaften können. Zwar war er nach eigenen Angaben selbstständig tätig und hat den Lebensunterhalt für seine Familie erwirtschaftet, jedoch verfügt er weder über eine qualifizierte Ausbildung noch kann er bei einer Rückkehr an die bereits ausgeübte Tätigkeit anknüpfen. Der Kläger müsste aufgrund seines schon hohen Alters in einem harten Verdrängungswettbewerb mit jungen und kräftigen Rückkehrern bestehen, was ihm nach dem oben Gesagten nicht gelingen dürfte. Infolge dessen ist nicht sichergestellt, dass der Kläger nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder Beschäftigungen finden wird, mit deren Hilfe er sich und seiner Familie eine ausreichende Lebensgrundlage sichern könnte.
Im Rahmen einer Gesamtschau dieser Aspekte würde der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten, die ihm nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis liegt daher vor.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung im Asylverfahren (BVerwG, B. v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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