Aktenzeichen AN 15 K 16.31749
Leitsatz
1 Der unverfolgt aus Syrien ausgereiste Kläger kann sich allein wegen der Asylantragstellung und dem Auslandsaufenthalt nicht auf Nachfluchtgründe berufen und muss nicht befürchten, dass syrische staatliche Stellen ihn als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Kläger ist als einziger Sohn einer Familie nicht wehrpflichtig. Bis seine Mutter 50 Jahre alt ist, muss er sich jährlich seine Befreiung im Wehrdienstheft gegen Bezahlung eintragen lassen. Aufgrund der Ein-Sohn-Regelung war er aus der Sicht der syrischen Sicherheitskräfte nicht verpflichtet, sich für einen möglichen Militär- und Kriegseinsatz im Inland zur Verfügung zu halten. (Rn. 25 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
3 Anhaltspunkte für eine unmittelbare oder mittelbare staatliche Gruppenverfolgung von Kurden in Syrien bestehen nicht. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Streitgegenstand ist vorliegend die Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes vom 19. Oktober 2016 und somit die Frage, ob der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG besitzt.
Der streitgegenständliche Bescheid ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), da dem Kläger im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zusteht.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl, 1953 II S. 559, 560-Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung kann dabei gemäß § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen, § 3e AsylG. Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013, a.a.O. und v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie). Diese Vermutung kann aber wiederlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris).
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf ein Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Dabei greift für derartige Nachfluchttatbestände in einem Erstverfahren die Einschränkung des § 28 Abs. 2 AsylG nicht, wonach bei einem Folgeantrag Nachfluchtgründe in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht begründen können.
Das Gericht muss die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals und hinsichtlich der zu treffenden Prognose, dass dieses die Gefahr politischer Verfolgung begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, U.v. 16.04.1985, Buchholz 402.25 § 1 AsylG Nr. 32). Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumung von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 8.5.1984, Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 147).
An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerfG, B.v. 29.11.1990, die InfAuslR 1991, 94, 95; BVerwG, U.v. 30.10.1990, Buchholz 402.25 § 1 AsylG Nr. 134; B.v. 21.7.1989, Buchholz a.a.O., Nr. 113).
In Anwendung dieser Grundsätze droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien nach Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund der sogenannten „Ein-Sohn-Regelung“ keine politische Verfolgung.
Der Kläger ist zum einen nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben könnten, hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht. Der Kläger hat vielmehr in seiner Anhörung am 30. August 2016 gegenüber der Beklagten vorgetragen, dass er persönlich keine Probleme mit der Armee oder der Polizei hatte.
Eine begründete Flucht vor Verfolgung ergibt sich auch nicht, nachdem der Kläger Syrien verlassen hat. Mithin liegen Nachfluchtgründe im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG nicht vor.
Es ergeben sich derartige Nachfluchtgründe nicht aus dem Umstand, dass der aus Syrien ausgereiste Kläger in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat. Diese Umstände allein rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen. Das erkennende Gericht schließt sich in diesem Zusammenhang den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 (Az. 21 B 16.30338, 21 B 16. 30364 und 21 B 16.30371 – juris) an, der nach Auswertung der maßgeblichen und auch in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen zu diesem Ergebnis kommt.
Die Wehrpflicht des Klägers entfällt jedoch vor dem Hintergrund der sogenannten „Ein-Sohn-Regelung“, wonach der einzige Sohn einer Familie nicht wehrpflichtig ist (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016, Az. 21 B 16.30371 – juris). Der Kläger hat sowohl in seiner Anhörung gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 30. August 2016 als auch in der mündlichen Verhandlung am 14. November 2017 glaubhaft vorgetragen, dass er Einzelkind ist und aufgrund dessen vom Wehrdienst befreit war. Jedes Jahr habe er seine Freistellung vom Wehrdienst im Wehrdienstheft gegen Bezahlung eintragen lassen. Vor diesem Hintergrund ist es nach Auffassung des Gerichts gerade nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten grundlegenden Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 15 Abs. 2 EMRK, Art. 3 EMRK).
Das System der allgemeinen Wehrpflicht beruht darauf, dass in Syrien eine allgemeine Wehrpflicht für Männer ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren besteht. Im August 2014 erließ Präsident Assad die Gesetzesverordnung Nr. 33, die einige Artikel der Verordnung Nr. 30 aus dem Jahr 2007 zum obligatorischen Militärdienst ersetzt. Dabei wurde unter anderem die Regel angepasst, dass der einzige Sohn der Familie vom Militärdienst befreit werden kann (BayVGH U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30371 – juris unter Berufung auf Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.3.2015, S. 5 f.). Die Freistellung wird im Wehrdienstheft festgehalten. Bis die Mutter 50 Jahre alt ist, muss die Freistellung jährlich neu beantragt werden. Danach gilt die Freistellung für immer (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“, S. 1; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR104921.E vom 13.8.2014, S. 2 f). Diese Umstände hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Ansbach vorgetragen und bestätigt.
Aufgrund einer zusammenfassenden Bewertung der gesamten Umstände steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass dem Kläger bei der Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Seiten der staatlichen Sicherheitskräfte in Anknüpfung an eine ihm (unterstellte) oppositionelle Gesinnung Verfolgung droht. Das erklärte Ziel des syrischen Regimes ist unter Fortbestehen der Machtarchitektur die Wiedererrichtung eines Herrschaftsmonopols auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik. Dieser Personengruppe (Wehrpflichtiger, Reservist), die sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, gehört der Kläger aber weder an, noch besteht Anlass zu der Annahme, dass ihn die syrischen Behörden bei Rückkehr entsprechend einem Militärdienstverweigerer behandeln und ihm dementsprechend eine oppositionelle Gesinnung unterstellen. Das syrische Regime hat zwar zur Stärkung seiner Armee seine Maßnahmen gegen wehrdienstpflichtige Männer verschärft, der Kläger ist jedoch aufgrund seiner Möglichkeit der Freistellung nicht wehrdienstpflichtig und wegen der weiterhin geltenden und auch in die Praxis umgesetzten „Einziger-Sohn-Regelung“ damit aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte zur Verwirklichung der Kriegsziele durch Militäreinsatz nicht geeignet. Er war aus Sicht der syrischen Sicherheitskräfte nicht verpflichtet, sich für einen möglichen Militär- und Kriegseinsatz im Inland zur Verfügung zu halten, so dass bei seiner Rückkehr im Rahmen der obligatorischen Einreisekontrollen am Flughafen Damaskus oder einer anderen staatlichen Kontrollstelle die syrischen Sicherheitskräfte nach durchgeführter Klärung und entsprechendem Eintrag der Freistellung vom Militärdienst im Wehrdienstheft, da er der einzige Sohn ist, keinen Anknüpfungspunkt dafür haben, dem Kläger eine oppositionelle Gesinnung wegen seiner Flucht ins Ausland, um einen Militäreinsatz zu vermeiden, zu unterstellen. Den vereinzelt angegebenen Fällen, dass vom Militärdienst freigestellten Einzelsöhnen an Checkpoints vermehrt die Einziehung angedroht worden sei, um Bestechungsgelder zu erpressen, bzw. es in Syrien grundsätzlich keine Garantie gebe, dass Gesetze respektiert würden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“, S. 4), kann eine Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Persönlichkeitsmerkmale nicht entnommen werden.
Auch einer Gruppenverfolgung war der Kläger aufgrund der Tatsache, dass er Kurde ist, nach Überzeugung des Gerichts nicht ausgesetzt. In Übereinstimmung mit der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine unmittelbare oder mittelbare staatliche Gruppenverfolgung von Kurden in Syrien (vgl. OVG NRW, B.v. 26.1.2011 – 14 A 64/11.A -, juris; B.v. 2.12.2010 – 14 A 2541/10.A – juris m.w.N.; VG Düsseldorf, U.v. 14.5.2013 – 17 K 8950/12.A – juris; U.v. 24.9.2010 – 21 K 4217/09.A juris). Zudem hat der Kläger zu einer Verfolgung von ihm als Kurden, beispielsweise weil er politisch aktiv gewesen sei, weder gegenüber dem Gericht noch dem Bundesamt konkrete Anhaltspunkte vorgetragen. Solche sind auch nicht ersichtlich.
Nach alledem ist die Klage als unbegründet abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.