Aktenzeichen W 1 K 16.32644
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Leitsatz
1 Bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG wird schon im Tatbestand der Verfolgungshandlung die Zielgruppe als soziale Gruppe iSv § 3b AsylG indiziert. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2 Frauen bilden in Afghanistan eine soziale Gruppe, da sie aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der strikt patriarchalisch geprägten Gesellschaft tiefgreifend diskriminiert werden und eine deutlich abgegrenzte Identität haben sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3 Für eine alleinstehende Frau ohne jegliche Bildung ist es in Afghanistan landesweit undenkbar, dass sie für ihren erforderlichen Lebensunterhalt selbstständig sorgen kann. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Dezember 2016 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
Die Klage, über die trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 6. Dezember 2016 ist daher, soweit er noch Gegenstand der Klage ist und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling i.S.d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl I S. 2780 ff.) geändert worden ist (AsylG), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.
1. a) Die Klägerin hat vorliegend in der mündlichen Verhandlung substantiiert, detailreich und lebensnah geschildert, dass sie etwa drei Monate vor ihrer Ausreise aus Afghanistan ihren Sohn habe von der Schule abholen wollen, da ihre Kinder aufgrund der prekären Sicherheitssituation in Kabul immer Angst auf dem Schulweg gehabt hätten. Sie habe hierzu ein Taxi benutzt. In dem Taxi seien dann plötzlich rechts und links neben ihr zwei Männer zugestiegen, die ihr befohlen hätten, ruhig zu sein, da sie bewaffnet seien. Der Taxifahrer, der offensichtlich mit den Tätern zusammengearbeitet habe, habe sie dann zu einem Haus gebracht. Dort sei sie von neun verschiedenen Männern über Nacht festgehalten und von diesen vergewaltigt worden. Sie sei dabei fast ohnmächtig geworden. Zum Schluss hätten sie ihr eingeschärft, dass sie von dem Vorfall keinesfalls der Polizei oder sonstigen Dritten berichten dürfe. Andernfalls sei ihr angedroht worden, dass sie erneut entführt würde und ihre Kinder ebenfalls. Wegen dieser Drohung, aber auch aus großer Scham und aus Angst, aufgrund der kulturellen Gepflogenheiten in Afghanistan von ihrem Mann aufgrund des Vorfalls verstoßen zu werden, habe sie niemandem davon berichten können. Sie habe ihrem Ehemann vielmehr vorgespiegelt, bei ihrer Arbeitsstelle als Köchin viel zu tun gehabt und daher dort übernachtet zu haben. Ein bei ihr vorbestehender Gebärmuttertumor sei durch den Vorfall geplatzt, so dass sie habe operiert werden müssen. Binnen drei Monaten seit dem Vorfall habe die Familie dann Afghanistan verlassen.
Die Klägerin hat auf den erkennenden Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung einen in jeder Hinsicht glaubwürdigen und überzeugenden persönlichen Eindruck gemacht. Auf Fragen des Gerichts konnte die Klägerin stets ohne Zögern flüssig und nachvollziehbar antworten. Sie hat an mehreren Stellen ihrer informatorischen Befragung unter dem Eindruck der Erinnerungen an die seinerzeitigen gravierenden Erlebnisse erkennbar übermannt von ihren Gefühlen reagiert und geweint, ohne dass das Gericht hierbei den Eindruck gewonnen hat, dass es sich hierbei um zielgerichtet nach außen dargestellte Gefühlsregungen gehandelt hätte. Schließlich spricht für die Glaubwürdigkeit der Klägerin auch die Tatsache, dass diese unmittelbar nach Schluss der mündlichen Verhandlung noch im Sitzungssaal – offensichtlich unter dem Eindruck ihrer Aussage – kollabiert und bewusstlos geworden ist und notärztlich behandelt werden musste.
Der Glaubhaftigkeit des Vorbringens der Klägerin steht vorliegend insbesondere auch nicht entgegen, dass sie vor dem Bundesamt von dem zentralen Ereignis ihrer Vergewaltigung durch mehrere Männer noch nichts berichtet hat. Diese zwar objektiv erhebliche Steigerung im Sachvortrag hat die Klägerin nämlich zur Überzeugung des Gerichts in jeder Hinsicht nachvollziehbar begründen können. Auf entsprechenden Vorhalt des Gerichts hat die Klägerin insoweit erklärt, dass sie sich seinerzeit sehr für den Vorfall geschämt habe und dass sie insbesondere nicht davon überzeugt gewesen sei, dass der Dolmetscher beim Bundesamt die Angelegenheit für sich behalte; sie habe kein Vertrauen zu diesem gehabt und befürchtet, dass ihre Familie über diesen von dem Vorfall erfahre, was sie unter allen Umständen habe vermeiden wollen, um ihre Familie zu erhalten. Erst im Nachgang zur Bundesamtsanhörung habe sie sich in einem Sprachkurs einer Freundin geöffnet und diese habe ihr dringend angeraten, nunmehr vor Gericht über den Vorfall zu berichten. Sie habe ihr auch erklärt, dass in Deutschland die Verfahrensbeteiligten zur Verschwiegenheit verpflichtet seien. Angesichts der außerordentlichen Schwere des erlittenen Schicksals erscheint es auch verständlich, dass sich die Klägerin erst mit einem zeitlichen Verzug überhaupt einer weiblichen Bezugsperson geöffnet hat und diese ihr dann über den Verfahrensablauf in Deutschland berichtet und ihr eingeschärft hat, trotz ihrer Scham und ihrer Ängste über das Vorgefallene zu berichten. Hiermit in Einklang steht auch, dass die Klägerin zu Beginn ihrer informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung zunächst erst über die allgemein schwierige Situation in Afghanistan berichtet hat und die Vergewaltigung erst dann angesprochen hat, nachdem ihre Söhne den Sitzungssaal verlassen hatten. Die Klägerbevollmächtigte hat überdies in diesem Zusammenhang glaubhaft erklärt, dass auch sie von dem Vorfall bislang keine Kenntnis gehabt habe, es jedoch bei Unterredungen mit der Klägerin in der Kanzlei so gewesen sei, dass stets männliche Mitglieder der erweiterten Familie als Dolmetscher mit anwesend gewesen seien. Die Klägerin konnte auch logisch nachvollziehbar darstellen, wie sie ihr Ausbleiben über Nacht (in Folge der Entführung und Vergewaltigung) gegenüber ihrem Ehemann erklärt hat; nämlich dahingehend, dass sie diesem wahrheitswidrig gesagt habe, dass sie an ihrer gelegentlichen Arbeitsstelle als Köchin in einem Hotel sehr viel zu tun gehabt habe und daher lange gearbeitet und schließlich dort geschlafen habe. Ihr Mann habe ihr dies abgenommen. Dieser Vortrag steht zudem in Einklang mit der Aussage der Kläger vor dem Bundesamt, wonach sie neben ihrer Heimarbeit als Näherin auch ein- bis zweimal im Monat in einem Hotel gekocht habe. Vom Gericht darauf angesprochen, warum sie vor dem Bundesamt berichtet habe, dass sie in Afghanistan von anderen Männern begrabscht worden sei, hat sie nachvollziehbar erläutert, dass sie mit damit habe andeuten wollen, was ihr tatsächlich passiert sei. Sie habe aber damals aus den oben genannten Gründen noch nicht mehr sagen können.
b) Die Aussagen der Klägerin stehen überdies mit der Erkenntnismittellage zu Afghanistan in Einklang. Danach wird Afghanistan für Frauen und Mädchen einhellig weiterhin als sehr gefährliches Land betrachtet. Denn dort sei sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, wie sie die Klägerin erlebt hat, weit verbreitet. Die Gewalttaten reichten von Körperverletzungen und Misshandlungen über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigungen und Mord. Gewalt gegen Frauen und Mädchen sei nach wie vor weit verbreitet und nehme weiter zu, wobei sexuelle Gewalt in Berichten hierbei chronisch zu gering erfasst werde, u.a. aufgrund der Scham und Stigmatisierung der Opfer (vgl. UNHCR-Richtlinien vom 19.4.2016, S. 65, 68 ff.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016, S. 13 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFHLänderanalyse vom 24.5.2016 zu Afghanistan: Besondere Gefährdung von Frauen; EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan – Individuals targeted under societal und legal norms, Dezember 2017, S. 42 ff.).
2. Die glaubhaft geschilderte Massenvergewaltigung durch neun Männer stellt unzweifelhaft eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 6 AsylG dar.
3. a) Darüber hinaus wurde die Klägerin auch wegen des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG in ihrem Heimatland verfolgt, wobei eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn diese allein an das Geschlecht anknüpft, § 3b Abs. 1 Nr. 4 3. Hs. AsylG. Bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG – wie vorliegend – wird schon im Tatbestand der Verfolgungshandlung die Zielgruppe als soziale Gruppe i.S.v. § 3b AsylG indiziert (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 3, § 3a AsylG Rn. 39). Die Klägerin wurde hier als Zugehörige zur sozialen Gruppe der Frauen verfolgt, die aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der strikt patriarchalisch geprägten Gesellschaft Afghanistans tiefgreifend diskriminiert werden und eine deutlich abgegrenzte Identität haben sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden, zumal die Klägerin überdies zu derjenigen – besonders gefährdeten – Untergruppe der Frauen gehört hat, die ohne männliche Begleitung das Haus verlassen hat und allein damit in den Augen vieler konservativ eingestellter afghanischer Männer gegen die kulturellen und religiösen Gebräuche ihres Heimatlandes verstoßen hat. Der Umstand, dass Frauen überhaupt eigenständig ihre Familienwohnung verlassen können und über eine gewisse Bewegungsfreiheit verfügen, ist hierbei als bedeutsamer Teil des Rechts auf Selbstbestimmung anzusehen und damit als grundlegendes Menschenrecht zu qualifizieren. Frauen sollten daher aufgrund der sehr hohen identitätsstiftenden Bedeutung einer eigenständigen Lebensführung nicht i.S.d. § 3b Nr. 4.a) AsylG gezwungen werden, hierauf zu verzichten. Regelmäßig droht (abgesehen von dem schädlichen Brauch des „Bacha Bazi“ gegenüber minderjährigen Jungen) allein Frauen in Afghanistan sexuelle Gewalt, so dass es sich um eine frauenspezifische Verfolgung handelt.
b) Aus dem vorstehend Ausgeführten ergibt sich bereits die erforderliche kausale Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund, § 3a Abs. 3 AsylG, wofür auch ein Zusammenhang im Sinne einer bloßen Mitverursachung ausreichend ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Bd. 3, § 3a AsylG Rn. 41). Die Klägerin war gerade deshalb der eingetretenen Verfolgungshandlung in Form einer sehr schwerwiegenden Verletzung ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung ausgesetzt, da sie weiblichen Geschlechts ist und Frauen in der afghanischen Gesellschaft ein nur sehr untergeordneter Stellenwert zukommt, so dass diese – gerade ohne männlichen Schutz in der Öffentlichkeit – letztlich für viele Männer als „Freiwild“ gelten. Darüber hinaus fehlt es für Frauen, die sich in Afghanistan in der Öffentlichkeit bewegen, auch an effektivem und wirksamem Schutz vor sexueller Gewalt. Dieses Fehlen von Schutz ist gleichfalls kausal mit dem weiblichen Geschlecht verknüpft und hierbei insbesondere auf die tief in der afghanischen Gesellschaft verwurzelte Diskriminierung gegenüber Frauen zurückzuführen, § 3a Abs. 3 2. Alt. AsylG.
c) Diese Einschätzung lässt sich der Erkenntnismittellage zu Afghanistan entnehmen, wonach es trotz einer Verbesserung der Situation der Frauen seit dem Ende der Talibanherrschaft an der praktischen Umsetzung ihrer gesetzlich garantierten Rechte mangele; Gesetze zum Schutz von Frauenrechten würden nur langsam umgesetzt, insbesondere das Gesetz über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen (EVAW-Gesetz). Den Behörden fehle Berichten zufolge der politische Wille, das Gesetz umzusetzen. Die Verbesserungen der Situation von Frauen blieben marginal und die Fortschritte, die in der Vergangenheit im Hinblick auf die Menschenrechte von Frauen erzielt wurden, seien teilweise durch die Verschlechterung der Sicherheitslage in den letzten Jahren wieder zunichte gemacht worden. Die tief verwurzelte Diskriminierung von Frauen bleibe endemisch. Gewalt gegenüber Frauen sei nach wie vor weit verbreitet und nehme weiter zu. Überdies blieben Gewaltakte gegenüber Frauen üblicherweise straflos bzw. würden immer noch nach traditionellen Streitbeilegungsmechanismen statt wie vom Gesetz vorgesehen strafrechtlich verfolgt, was häufig zu weiteren Diskriminierungen führe. Eine Verteidigung der Frauenrechte in einem Land, in dem die Justiz stark traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt werde, sei nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten seien häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellung nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen (vgl. UNHCR-Richtlinien vom 19.3.2016, S. 64 ff.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.10.2016, S. 13 ff.). Dies wirkt sich umso fataler für die betroffenen Frauen aus, da sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe von weiten Teilen der afghanischen Gesellschaft als Schande für die Familie betrachtet werden, sodass für Opfer von Vergewaltigungen außerhalb der Ehe die Gefahr bestehe, geächtet, zu Abtreibungen gezwungen, inhaftiert oder sogar getötet zu werden, um die Familienehre wiederherzustellen. Gesellschaftliche Tabus und die Angst vor Stigmatisierung und Vergeltungsmaßnahmen auch durch die eigene Gemeinschaft oder Familie seien häufige Gründe dafür, dass Überlebende sexuelle Gewalt nicht anzeigten. Der Zugang zur Justiz werde für Frauen, die Gewalttaten anzeigen möchten, zusätzlich durch die Tatsache erschwert, dass der Anteil der Frauen unter den Polizeikräften im Land nur bei etwas unter 2% liege (vgl. UNHCR-Richtlinien, a.a.O.). Opfer von sexueller Gewalt seien dem Risiko der Bestrafung wegen Ehebruchs oder einem Zina-Vergehen ausgesetzt. Es seien Fälle bekannt, in denen die Polizei Frauen, die beispielsweise eine Vergewaltigung anzeigten, inhaftiert habe. Auch misstrauten Polizei und Staatsanwälte Berichten von Frauen über sexuelle Gewalt und hielten immer wieder die Opfer sexueller Angriffe selbst für die Täter (vgl. EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan – Individuals targeted under societal und legal norms, Dezember 2017, S. 42 f.). Dagegen profitierten die tatsächlichen Täter sehr oft von Straflosigkeit. Ein Grund hierfür sei die Tatsache, dass diese entweder selbst mächtige Kommandeure bewaffneter oder kriminelle Gruppen seien oder Verbindungen zu solchen Gruppen hätten, die sie vor Festnahme und Strafverfolgung schützten (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFHLänderanalyse vom 24.5.2016 zu Afghanistan: Besondere Gefährdung von Frauen; UNHCR-Richtlinien, a.a.O.).
4. Angesichts der vorstehend festgestellten Vorverfolgung der Klägerin kommt dieser die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute. Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tat-sächliche Vermutung dafür, dass sie im Fall einer Rückkehr in das Heimatland erneut von einer Verfolgung bedroht sind. So wird den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigemessen und der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann nur durch stichhaltige Gründe entkräftet werden.
Derartige stichhaltige Gründe sind vorliegend nicht ersichtlich. Insbesondere ist ein solcher nicht darin zu erblicken, dass die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, nunmehr seit einem Monat nach längerer Zeit wieder zweimal telefonischen Kontakt mit ihrem Ehemann gehabt zu haben, welcher sich aktuell wieder in Afghanistan aufhalte. Denn zum einen hat dieser angekündigt, dass er aktuell gedenke, von Kabul nach Herat zu gehen, so dass keineswegs sichergestellt ist, dass die Klägerin ihren Ehemann in Afghanistan wieder antreffen würde. Überdies ist die in Afghanistan allgegenwärtige Gefahr schwerwiegender sexueller Übergriffe auch dann fortbestehend, wenn die Klägerin grundsätzlich unter dem Schutz ihres Ehemannes steht, wie der schwerwiegende Vorfall vor ihrer Ausreise aus Afghanistan gezeigt hat. Vor diesem Hintergrund bedarf es auch keiner eingehenden Auseinandersetzung mit der Prüfung des Vorhandenseins etwaiger anderer männlicher Begleiter für die Klägerin, wobei jedoch erwähnt sei, dass solche nicht ersichtlich sind, nachdem der Vater der Klägerin vor einiger Zeit verstorben und ihr Bruder nach einem Bombenattentat in Kabul behindert ist. Selbst ein etwaiger vollständiger Verzicht auf den Besuch der Öffentlichkeit – auf den die Klägerin jedoch nicht verwiesen werden kann – würde weitere sexuelle Übergriffe nicht hinreichend sicher ausschließen, wie etwa der von der Klägerin vor dem Bundesamt erwähnte Einbruch in die Familienwohnung (bei welchem sie allerdings nicht persönlich zu Schaden kam) zeigt.
5. Auf Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG durch den afghanischen Staat kann die Klägerin nicht verwiesen werden, da dieser erkennbar nicht in der Lage ist, für die Sicherheit der Klägerin zu sorgen. Die Polizei und die Sicherheitskräfte sind in Afghanistan vielmehr allgemein nicht in der Lage, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen häufig ohne Sanktionen (vgl. etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes, 19.10.2016, S. 5, 17). Darüber hinaus wird zum fehlenden Schutz für Frauen vor Verfolgung vollumfänglich auf die obigen Ausführungen unter 3.c) verwiesen, wonach zusammenfassend Gewaltakte gegenüber Frauen aufgrund der überkommenen Traditionen in Afghanistan häufig straflos bleiben. Die zuständigen staatlichen Akteure sind weder in der Lage noch gewillt, Frauenrechte wirksam durchzusetzen und eine effektive Strafverfolgung zu bieten. Vielmehr sehen sich von sexueller Gewalt betroffene Frauen überdies gar der Gefahr ausgesetzt, nicht als Opfer, sondern als Täter behandelt zu werden, wenn sie sich an die zuständigen Sicherheitsorgane wenden. Der damit derzeit in Afghanistan bestehende Zustand kann nicht als wirksamer und dauerhafter Schutz vor Verfolgung i.S.d. § 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG angesehen werden.
6. Schließlich kann die Klägerin auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verwiesen werden. Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zum Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hierbei sind die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsland und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen. Das Gericht geht – unter Berücksichtigung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie – davon aus, dass die Klägerin im vorliegenden Fall an keinem Ort innerhalb Afghanistans internen Schutz erlangen kann. Denn es ist aus der Erkenntnismittellage nicht ersichtlich, dass es in Afghanistan eine Stadt oder Region gibt, in der keine tiefgreifende Diskriminierung von Frauen existiert und das Vorkommen von Gewalttaten verschiedenster Art gegenüber Frauen, insbesondere sexueller Natur, hinreichend sicher ausgeschlossen ist. Vielmehr droht der Klägerin geschlechtsspezifische Verfolgung landesweit. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Klägerin selbst in der für afghanische Verhältnisse eher fortschrittlichen Stadt Kabul Opfer einer geschlechtsspezifischen Verfolgung geworden, so dass dies erst recht in allen anderen noch geringer entwickelten Landesteilen zu befürchten steht.
Überdies könnte von der Klägerin auch vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass sie sich andernorts in Afghanistan niederlässt. Denn für die Klägerin als alleinstehender Frau ohne jegliche Bildung ist es landesweit undenkbar, dass sie für ihren erforderlichen Lebensunterhalt selbstständig sorgen kann. Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung ihrer beiden minderjährigen Kinder, mit denen sie bei lebensnaher Auslegung nach Afghanistan zurückkehren würde und die sie dort zu versorgen hätte. Von ihrer sonstigen Familie könnte sie keine Unterstützung erwarten, da sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben hat, dass ihr Vater bereits verstorben sei und ihre Mutter und ihr Bruder von der Ehefrau des Bruders notdürftig versorgt würden. Aber selbst unter Einbeziehung des Ehemanns der Klägerin (so sie diesen in Afghanistan wiederfinden würde) wäre der Klägerin vorliegend eine interne Schutzmöglichkeit nicht zuzumuten, da die Familie über zwei minderjährige Kinder verfügt und sie ihr seinerzeitiges Vermögen in Form eines Lebensmittelladens in Kabul für die Aufbringung der Fluchtkosten veräußert hat, so dass relevantes Vermögen nicht mehr vorhanden ist (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris). Nach alledem sprechen hinsichtlich der vorverfolgt ausgereisten Klägerin keine stichhaltigen Gründe im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der EU-Qualifikationsrichtlinie dafür, dass sie an irgendeinem anderen Ort in Afghanistan außerhalb ihres Herkunftsortes Kabul vor einer erneuten geschlechtsspezifischen Verfolgung sicher wäre. Der Klage war daher stattzugeben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr.11, 711 ZPO.