Verwaltungsrecht

Verpflichtung zur Inobhutnahme eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers im Wege der einstweiligen Anordnung

Aktenzeichen  12 CE 16.1186

Datum:
5.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
RL 2013/32/EU Art. 25 Abs. 5
SGB VIII SGB VIII § 42, § 42a, § 42f
SGB X SGB X § 20, § 21
VwGO VwGO § 123

 

Leitsatz

1 Bei einem auf die Inobhutnahme als unbegleiteter minderjähriger Ausländer gerichteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung kann offenbleiben, ob als Rechtsgrundlage der Inobhutnahme § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII oder § 42a Abs. 1 S. 1 SGB VIII heranzuziehen ist. (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Die Kompetenz des Jugendamts, nach § 20 Abs. 1 S. 2 SGB X Art und Umfang der Sachverhaltsermittlung zu bestimmen und nach § 21 Abs. 1 S. 1 SGB X die nach pflichtgemäßem Ermessen für erforderlich gehaltenen Beweismittel auszuwählen, umfasst die Bewertung einer vom Jugendamt ins Verfahren eingebrachten ärztlichen Bescheinigung als untauglich nicht. (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Die Regel des Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2 der RL 2013/32/EU, wonach ein Flüchtling im Asylverfahren bei nach einer ärztlichen Untersuchung verbleibenden Zweifel an seinem Alter als minderjährig zu behandeln ist, umfasst auch die Altersfeststellung im Verfahren der Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Ausländer. Der Status eines unbegleiteten minderjährigen Ausländers kann im Asyl- und im Jugendhilfeverfahren nur einheitlich bestimmt werden. (red. LS Clemens Kurzidem)
4 Zweifel am Alter des eine Inobhutnahme begehrenden Antragstellers gebieten im einstweiligen Anordnungsverfahren eine Folgenabwägungsentscheidung, bei der angesichts der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, der Wertung des Gesetzgebers, die Unterbringung und Erstversorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge der Primärzuständigkeit der Jugendämter zu überantworten (vgl. § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII, § 42a Abs. 1 S. 1 SGB VIII) und des von Verfassungs wegen gebotenen Schutzes Minderjähriger (Art. 6 Abs. 1 GG) die persönlichen Interessen des Antragstellers in der Regel möglicherweise entgegenstehende öffentliche Belange überwiegen (Bestätigung VGH München BeckRS 2014, 56870). (red. LS Clemens Kurzidem)
5 Die Zweifelsregel des Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 S. 2 RL 2013/32/EU schließt die Annahme einer Beweislast des unbegleiteten minderjährigen Ausländers hinsichtlich seiner Minderjährigkeit im Falle eines “non liquet” in einem verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren aus (Aufgabe VGH München BeckRS 2014, 56870). (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I. Die Beteiligten streiten über die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (umF) nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 42a Abs. 1 Satz 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII).
Der nach seinen eigenen Angaben 2001 in Schirkhankhail, Afghanistan, geborene Antragsteller gelangte am 15. Februar 2016 in die B.-Kaserne in M.. Noch am gleichen Tag führten eine Mitarbeiterin des Jugendamts der Antragsgegnerin sowie zwei Fachkräfte freier Jugendhilfeträger mit ihm unter Einsatz eines Dolmetschers ein „Erstgespräch“ zur Altersfeststellung. Der Antragsteller selbst gab dabei den 18. Februar 2001 als sein Geburtsdatum an und zeigte den Beteiligten ein Foto seiner Tazkira (afghanische Personenstandsurkunde) auf dem Handy seines Bruders vor. Der 1984 geborene Bruder lebt seit 16 Jahren in Deutschland. Nach dem Gespräch, das rund 45 Minuten gedauert haben soll, gelangten die beteiligten Fachkräfte aufgrund des äußeren Erscheinungsbilds, der Art und Ausdrucksweise und des Verhaltens des Antragstellers zu der Einschätzung, dieser müsse älter als 18 Jahre sein. Daraufhin setzte die Antragsgegnerin noch am gleichen Tag sein Geburtsdatum auf den 31. Dezember 1997 fest und lehnte die Inobhutnahme „gemäß § 42 Absatz 1 SGB VIII“ ab. Im Rahmen der Überprüfung der Voraussetzungen einer Inobhutnahme habe sich ergeben, dass beim Antragsteller keine Minderjährigkeit vorliege. Auch habe der Antragsteller keine beweiskräftigen Ausweispapiere oder sonstigen Papiere, die seine Minderjährigkeit unabhängig von den Prüfungen der Antragsgegnerin belegen könnten, vorgelegt. Schließlich habe die Minderjährigkeit auch nicht durch eine „schlüssige mündliche Sachverhaltsdarstellung“ des Antragstellers begründet werden können. In der Folge wurde der Antragsteller als erwachsener Asylbewerber behandelt und von der Regierung von Oberbayern in die entsprechende Erstaufnahmeeinrichtung ebenfalls in der B.-Kaserne in M. aufgenommen.
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 19. Februar 2016 ließ der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München erheben und beantragte zugleich, die Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn in Obhut zu nehmen und in einer jugendgerechten Einrichtung unterzubringen. Zur Begründung wird auf die Fehlerhaftigkeit der Alterseinschätzung durch die Antraggegnerin verwiesen, insbesondere darauf, dass eine medizinische Untersuchung zur Altersbestimmung nicht stattgefunden habe. Beim Antragsteller handele es sich um einen Zweifelsfall. Im Interesse des Kindeswohls sei er jedenfalls bis zu einer endgültigen Altersfeststellung als Jugendlicher zu behandeln und in Obhut zu nehmen. Angesichts seiner Unterbringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Erwachsene, bei der seine Betreuung nicht ansatzweise jugendhilferechtlichen Maßstäben entspreche, sei auch die Dringlichkeit für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegeben.
Zeitgleich beantragten die Bevollmächtigten des Antragstellers eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung nach § 42f Abs. 2 SGB VIII, die die Antragsgegnerin bei zwei Allgemeinärzten und einem Zahnarzt durchführen ließ. In der Folge legte sie beim Verwaltungsgericht ein „ärztliches Gutachten“ der Allgemeinärzte Dres. B.-F. und F. vom 18. März 2016 vor, das zu dem Ergebnis kam, dass der Antragsteller „deutlich über 18 Jahre sein müßte“. Demgegenüber kam ein „zahnärztliche Gutachten“ des Zahnarztes R. B. vom 12. April 2016 aufgrund des Gebissstatus des Antragstellers zu der Einschätzung, er sei – da der Zahndurchbruch noch nicht vollständig abgeschlossen sei – zwischen 15 und 16 Jahre alt. Ergänzend zu ihrem bisherigen Vorbringen legten die Bevollmächtigten des Antragstellers daraufhin eine vollständige Kopie der Tazkira des Antragstellers nebst deutscher Übersetzung vor und boten zugleich deren Übergabe im Original an. Ferner übermittelten sie zwei Fotos des Antragstellers, die aus dem Jahr 2004 stammen sollen. Darüber hinaus bestätigte der Bruder des Antragstellers am 27. April 2016 dessen Geburtsdatum mit einer eidesstattlichen Versicherung.
Mit Beschluss vom 18. Mai 2016 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Antragsgegnerin, den Antragsteller einstweilen in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen. Es bestehe sowohl ein Anordnungsanspruch wie auch ein Anordnungsgrund. Im vorliegenden Fall sei die Antragsgegnerin hinsichtlich des Alters des Antragstellers offensichtlich von einem Zweifelsfall im Sinne von § 42f Abs. 2 SGB VIII ausgegangen, denn erst ein Zweifelsfall bilde die Voraussetzung für eine ärztliche Untersuchung, auch wenn ein Antrag des Betroffenen bzw. seiner Bevollmächtigten gestellt werde.
Mit dem neugeschaffenen § 42f SGB VIII habe es der Gesetzgeber allerdings unterlassen, eine Regelung zu treffen, wie in Fällen zu entscheiden sei, in denen das tatsächliche Alter des Betroffenen trotz Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten unklar bleibe. Demgegenüber ergebe sich aus Art. 25 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU, deren Umsetzungsfrist am 21. Juli 2015 abgelaufen sei, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz ärztliche Untersuchungen des Alters unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge durchführen lassen, wenn aufgrund allgemeiner Angaben oder anderer einschlägiger Hinweise Zweifel bezüglich deren Alters aufträten. Bestünden diese Zweifel auch nach der ärztlichen Untersuchung fort, sehe Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 Satz 2 der Richtlinie vor, dass von der Minderjährigkeit des Antragstellers auszugehen sei.
Aus diesen rechtlichen Vorgaben und den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen folge, dass beim Antragsteller von Minderjährigkeit auszugehen sei und die Voraussetzungen für eine Inobhutnahme damit vorlägen. Zwar widersprächen sich der „ärztliche Untersuchungsbericht“ vom 18. März 2016 und das „zahnärztliche Gutachten“ vom 12. April 2016 grundsätzlich. Indes erweise sich, anders als das „zahnärztliche Gutachten“, der „ärztliche Untersuchungsbericht“ als nicht nachvollziehbar, da er lediglich abstrakt Untersuchungsparameter beschreibe, ohne darzustellen, welche Feststellungen zu welchem Parameter getroffen worden seien. Demgegenüber lasse sich das „zahnärztliche Gutachten“ aus sich heraus nachvollziehen. Für das Eilverfahren sei daher schon aufgrund dessen von der Minderjährigkeit des Antragstellers auszugehen, so dass es auf eine Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs durch die eidesstattliche Versicherung des Bruders des Klägers nicht ankomme. Kein eigener Erkenntniswert komme der in Kopie des Originals sowie in deutscher Übersetzung vorgelegten Tazkira zu, da das afghanische Personenstandswesen keine Gewähr für die Richtigkeit des in der Tazkira angegebenen Geburtsdatums biete.
Gegen den verwaltungsgerichtlichen Beschluss hat die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 2. Juni 2016 Beschwerde eingelegt und zur Begründung mit Schriftsatz vom 16. Juni 2016 vorgetragen, der Antragsteller habe entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts mangels Minderjährigkeit keinen Anspruch auf Inobhutnahme nach § 42, 42 a Abs. 1 SGB VIII. Die Antragsgegnerin habe zunächst nach Maßgabe des § 42f Abs. 1 SGB VIII die Volljährigkeit des Antragstellers durch ein etwa 45-minütiges Gespräch mit in Fragen der Feststellung des Lebensalters einer Person sehr erfahrenen Mitarbeiterinnen durchgeführt, das im Wesentlichen den Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen entsprochen habe.
Hinsichtlich der Alterseinschätzung nach ärztlicher Untersuchung habe das Verwaltungsgericht fehlerhaft nur das „zahnärztliche Gutachten“ berücksichtigt, die ärztliche Begutachtung durch Dres. B.-F. und F. hingegen unzutreffend als „ohne ergänzende Erläuterung“ nicht nachvollziehbar angesehen. Letzterem könne nicht gefolgt werden. Zunächst sei festzustellen, dass die Untersuchung des Antragstellers im Einklang mit § 42f Abs. 2 SGB VIII unter Anwendung der schonendsten Methoden erfolgt sei. Aus dem Untersuchungsbericht gehe ferner deutlich hervor, welche körperlichen Merkmale bei der Untersuchung erfasst worden seien. Zwar könne dem Verwaltungsgericht zugestimmt werden, dass sich nicht jedem der Untersuchungsparameter eine Subsumtion anschließe. Derartige Anforderungen enthalte das Gesetz jedoch nicht. Ausreichend sei vielmehr, dass die untersuchenden Ärzte konkret dargelegt hätten, welche beobachteten bzw. festgestellten Untersuchungsbefunde kausal für die gezogenen Schussfolgerungen seien. Die Argumentation des Verwaltungsgerichts könne auch als allgemeine Ablehnung bzw. Anzweiflung der Untersuchungsmethoden der Dres. B.-F. und F. aufgefasst werden, wozu jedoch kein Anlass bestehe. Art und Umfang der ärztlichen Untersuchung habe im Rahmen von § 20 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) das Stadtjugendamt zu bestimmen. § 21 SGB X benenne die wichtigsten Beweismittel. Welche hiervon das Jugendamt wähle, liege grundsätzlich in der Freiheit der Verwaltungsbehörde selbst. In diesem Kontext müsse darauf hingewiesen werden, dass beim Antragsteller im Rahmen des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII eine radiologische Untersuchung zu unterbleiben habe. Im Übrigen bestünden hinsichtlich der Art und des Umfangs der ärztlichen Untersuchung keine Bedenken, die das festgestellte Ergebnis – die Volljährigkeit des Antragstellers – erschüttern könnten.
Demgegenüber erweise sich das zahnärztliche Gutachten, das das Verwaltungsgericht maßgeblich herangezogen habe, als ungeeignet für die Altersfeststellung. Dieses beschreibe zwar die gesamte Gebisssituation des Antragstellers, stütze sich im Ergebnis jedoch allein auf den noch nicht abgeschlossenen Zahndurchbruch. Angesichts der vom Gutachter selbst angeführten Tatsache, dass der vollständige Zahndurchbruch durch einen gekippten persistierenden Milchzahn verhindert gewesen sei, sei die hieraus abgeleitete Schlussfolgerung bezüglich des Alters des Antragstellers nicht nachvollziehbar.
Weiter gehe das Verwaltungsgericht unzutreffend davon aus, dass die Antragsgegnerin aufgrund der Regelung in Art. 25 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU verpflichtet gewesen wäre, bei verbliebenden Zweifeln hinsichtlich des Alters des Antragstellers diesen in Obhut zu nehmen. Zwar dürften im vorliegenden Fall die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie im deutschen Recht gegeben sein. Nach Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2013/32/EU gelte die Richtlinie allerdings nur für Anträge auf internationalen Schutz sowie für die Aberkennung internationalen Schutzes. Bei der Entscheidung über eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII handele es sich indes nicht um eine Entscheidung, mit der eine Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zugesprochen werden könne. Demnach folge aus Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 Satz 2 Richtlinie 2013/32/EU keine Verpflichtung zur Inobhutnahme bei ungeklärter Minderjährigkeit des Betroffenen. Verbleibende Zweifel gingen vielmehr bei einem begünstigenden Verwaltungsakt wie der Inobhutnahme zulasten des Anspruchstellers. Folglich hätten im vorliegenden Fall die verbleibenden Zweifel an der Minderjährigkeit vom Antragsteller selbst ausgeräumt werden müssen. Nichts anderes ergebe sich aus dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention). Die Konvention regle weder, wie die danach maßgebliche Altersgrenze zu bestimmen sei, noch fordere sie ihre Anwendung, solange nicht geklärt sei, ob die betroffene Person überhaupt ein Kind im Sinne der Konvention sei. Die Ablehnung der vorläufigen Inobhutnahme durch die Antragsgegnerin erweise sich daher als rechtmäßig.
Die Bevollmächtigten des Antragstellers sind der Beschwerde entgegengetreten.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II. Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die von der Antragsgegnerin dargelegten Beschwerdegründe, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen die Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses und die Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht.
1. Für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kann zunächst offenbleiben, ob der Antragsteller eine – gewissermaßen „endgültige“ – Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) durch die Antragsgegnerin oder eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII – gegebenenfalls mit der Konsequenz der Durchführung eines anschließenden Verteilungsverfahrens nach § 42b SGB VIII – anstrebt (ebenso das Verhältnis der Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII), da sich die vom Verwaltungsgericht angeordnete einstweilige Inobhutnahme des Antragstellers bis zur Klärung seines Alters gleichermaßen aus beiden Anspruchsgrundlagen ableiten lässt. Indes wird auch aus der Verfahrensakte der Antragsgegnerin wie aus der Beschwerdebegründung nicht deutlich, ob sie beim Antragsteller eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII (so der Ablehnungsbescheid vom 15. Februar 2016 Bl. 2 der Verfahrensakte) oder eine nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (so die Stellungnahme zum Fallverlauf vom 8. März 2016, der Verfahrensakte vorgeheftet) geprüft hat. Gegebenenfalls ist von der Klägerseite diesbezüglich der entsprechende Antrag im Hauptsacheverfahren zu präzisieren.
2. Soweit die Antragsgegnerin mit ihrem Beschwerdevorbringen die Bewertung des „ärztlichen Untersuchungsberichts“ der Dres. B.-F. und F. vom 18. März 2016 und des „zahnärztlichen Gutachtens“ vom 12. April 2016 durch das Verwaltungsgericht angreift, kann sie damit nicht durchdringen.
2.1 Der etwa eine halbe DIN-A4-Seite umfassende „ärztliche Untersuchungsbericht“ der Dres B.-F. und F. vom 18. März 2016 besitzt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat, keinen nennenswerten Aussagegehalt. Als tatsächlich von den berichtenden Ärzten erhobener Untersuchungsbefund ergibt sich allein die Körpergröße und das Gewicht des Antragsteller. An der weiteren Feststellung „Aufgrund des körperlichen Untersuchungsbefundes (u. a. Habitus, Ausprägung der Muskulatur, der Mimik, der Behaarung, der Haut und der Gelenke) und der Befragung mit Anamnese kommen wir zu der Einschätzung, dass das Alter von Herrn F. deutlich über 18 Jahre sein müsste.“ fällt bereits die Relativierung durch den Gebrauch des Konjunktivs auf („müsste“ deutlich über 18 Jahre sein). Des Weiteren werden lediglich Merkmale aufgezählt, an die eine Altersbestimmung des Antragstellers anknüpfen kann, nicht jedoch die bezüglich der einzelnen Merkmale ermittelten Befunde mitgeteilt. Mithin bleibt der – aus der Perspektive der begutachtenden Ärzte augenscheinlich nicht ganz sichere – Schluss auf das Alter des Antragstellers ohne jegliche Begründung. Das Verwaltungsgericht geht demnach zutreffend davon aus, dass ohne nähere Erläuterungen die „ärztliche Bescheinigung“ nicht nachvollzogen werden kann. Hinsichtlich der im vorliegenden Verfahren allein streitbefangenen Frage des Alters des Antragstellers lässt sich aus ihr daher nichts ableiten. Wie die Antragsgegnerin angesichts dessen zu der Auffassung gelangt, die den Antragsteller untersuchenden Ärzte hätten „konkret dargelegt (…), welche beobachteten bzw. festgestellten Untersuchungsbefunde kausal für die gezogene Schlussfolgerung gewesen sind“, erschließt sich dem Senat nicht.
2.2 Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin tangiert die Bewertung der von ihr ins Verfahren eingeführten „ärztlichen Bescheinigung“ als untauglich darüber hinaus weder die Kompetenz der Behörde, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes nach § 20 Abs. 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) Art und Umfang der Sachverhaltsermittlung zu bestimmen noch ihre Kompetenz, nach § 21 Abs. 1 Satz 1 SGB X die nach pflichtgemäßem Ermessen für erforderlich gehaltenen Beweismittel auszuwählen. Denn eine bestimmte inhaltliche Bewertung des von der Antragsgegnerin selbst ausgewählten Beweismittels durch das Gericht gibt weder § 20 Abs. 1 noch § 21 Abs. 1 SGB X vor.
2.3 Als nicht entscheidungserheblich erweist sich im vorliegenden Zusammenhang ferner das weitere Vorbringen der Antragsgegnerin, § 42f Abs. 2 SGB VIII gebiete, dass im Zusammenhang mit der Altersbestimmung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings eine radiologische Untersuchung zu unterbleiben habe, da eine radiologische Untersuchung beim Antragsteller unstreitig nicht stattgefunden hat.
2.4 Anders als der „ärztliche Untersuchungsbericht“ vom 18. März 2016 lässt sich dem „zahnärztlichen Gutachten“ vom 12. April 2016 zunächst ein konkret ausgeführter Befund im Hinblick auf die „rein klinische Gebisssituation“ des Antragstellers entnehmen und aufgrund dessen die gezogene Schlussfolgerung nachvollziehen, das Alter des Antragstellers liege „zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr, da der Zahndurchbruch noch nicht vollständig abgeschlossen war“. In diesem Zusammenhang erschließt sich dem Senat weder eine dem Untersuchungsbefund überlegene zahnärztliche Sachkunde des Verfassers der Beschwerdebegründung noch die Argumentation, es fehle in dem „zahnärztlichen Gutachten“ bereits „an einer kausalen Bedingung zwischen den getroffenen Feststellungen bei der Gebissuntersuchung und dem angegebenen Alter“. Vollkommen zu Recht geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass genau das Gegenteil der Fall ist.
3. Auch das weitere Vorbringen der Antragsgegnerin, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht von der (unmittelbaren) Anwendbarkeit von Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2013/32/EU ausgegangen, führt die Beschwerde nicht zum Erfolg.
3.1 Vielmehr muss entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin die in Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2013/32/EU enthaltene Zweifelsregel („Im Zweifel pro Minderjährigkeit“) nicht nur im eigentlichen Asylverfahren als dem Verfahren zur Gewährung (bzw. Aberkennung) internationalen Schutzes, sondern auch in dem mit dem Asylverfahren unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge untrennbar verbundenen jugendhilferechtlichen Inobhutnahmeverfahren gelten. Denn folgte man der Antragsgegnerin, die sich auf eine lediglich formal argumentierende Kommentierung zu § 42f SGB VIII stützt (Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 6. Aufl. 2016, § 42 f Rn. 6 aE), hätte dies ggf. die Spaltung des elementaren Status eines „jungen“ unbegleiteten Flüchtlings zur Folge, der zwar für das eigentliche Asylverfahren nach Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 Satz 2 Rl. 2013/32/EU als Minderjähriger, hinsichtlich des Anspruchs auf eine Inobhutnahme nach Jugendhilferecht hingegen als Erwachsener behandelt werden müsste. Demgegenüber kann nach der Auffassung des Senats der Status eines „jungen“ unbegleiteten Flüchtlings – Minderjähriger oder Erwachsener – nur einheitlich bestimmt werden. Muss der unbegleitete Minderjährige daher im Asylverfahren bei trotz ärztlicher Untersuchung verbleibenden Zweifeln als minderjährig behandelt werden, gilt dies in gleicher Weise auch für das Jugendhilfeverfahren (so auch Kirchhoff in jurisPK-SGB VIII, § 42f Rn. 27; Winkler in BeckOK Sozialrecht § 42f SGB VIII Rn. 9; Wiesner in Wiesner SGB VIII, 5. Aufl. 2015, Nachtrag unter www.sgb-wiesner.de § 42f N 9; unklar Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, § 42f Rn. 6, der die Zweifelsregel nur dann zur Anwendung bringen will, wenn die Behörde eine ärztliche Untersuchung unterlässt, was mit dem Wortlaut der Richtlinie indes nicht in Übereinstimmung zu bringen ist; offengelassen von VG Göttingen B. v. 17.07.2014 – 2 B 195/14 – juris Rn. 49). Ginge man im vorliegenden Verfahren daher angesichts der Unverwertbarkeit der „ärztlichen Stellungnahme“ der Dres B.-F- und F. überhaupt von Zweifeln an der Minderjährigkeit des Antragstellers nach den durchgeführten ärztlichen Untersuchungen aus, wäre er demnach auch jugendhilferechtlich als Minderjähriger zu behandeln und – jedenfalls bis zu einer endgültigen Altersfeststellung – in Obhut zu nehmen.
3.2 Die Beschwerde hätte allerdings auch dann keinen Erfolg, wenn die Zweifelsregel des Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 Satz 2 Rl. 2013/32/EU nicht zur Anwendung käme. Denn nach der Rechtsprechung des Senats betreffend die Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (BayVGH, B. v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 – BayVBl. 2015, 131 ff.) führen verbleibende Zweifel am Alter des eine Inobhutnahme begehrenden Antragstellers im einstweiligen Anordnungsverfahren zu einer (reinen) Folgenabwägungsentscheidung, bei der angesichts der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, der Wertung des Gesetzgebers, die Unterbringung und Erstversorgung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge der Primärzuständigkeit der Jugendämter zu überantworten (vgl. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII, § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) und des von Verfassungs wegen gebotenen Schutzes Minderjähriger (Art. 6 Abs. 1 GG) die persönlichen Interessen des Antragstellers in der Regel möglicherweise entgegenstehende öffentliche Belange überwiegen. Lässt sich mithin eine verlässliche Klärung des Alters nicht kurzfristig herbeiführen, hat das Jugendamt dann, wenn die Minderjährigkeit des Betroffenen nicht sicher ausgeschlossen werden kann, eine Inobhutnahme gleichwohl anzuordnen, bis das tatsächliche Alter des Betroffenen festgestellt ist (BayVGH, a.a.O, Rn. 23, 25 f.). Angesichts des nachvollziehbaren „zahnärztlichen Gutachtens“ kann im vorliegenden Fall die Minderjährigkeit des Antragstellers nicht sicher ausgeschlossen werden, so dass die Antragsgegnerin verpflichtet war, ihn bis zu einer verlässlichen Altersklärung – beispielsweise durch ein Sachverständigengutachten im Hauptsacheverfahren oder im familienrechtlichen Verfahren zur Bestellung eines Vormunds – in Obhut zu nehmen.
3.3 Soweit die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang schließlich darauf verweist, dass bei einem „non liquet“ hinsichtlich eines Tatbestandsmerkmals eines begünstigenden Verwaltungsakts, als den sie die Inobhutnahme eines Minderjährigen ansieht, die Beweislast beim Anspruchsteller liegt, mit anderen Worten, dass im vorliegenden Fall der Antragsteller seine Minderjährigkeit hätte beweisen müssen, kann sie damit ebenfalls nicht durchdringen. Denn angesichts des von der Antragsgegnerin konzedierten Ablaufs der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2013/32/EU und der fehlenden Umsetzung im Jugendhilferecht gilt nunmehr für die Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge vorrangig die Zweifelsregel des Art. 25 Abs. 5 UAbs. 1 Satz 2 der Richtlinie, jedenfalls dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – Zweifel am Alter des Betroffenen auch nach einer ärztlichen Untersuchung noch bestehen bleiben. Für eine Beweislastentscheidung, die ohnehin nur im Hauptsacheverfahren hätte getroffen werden können, bleibt daher im vorliegenden Fall kein Raum mehr. Darüber hinaus erweist sich auch die frühere Rechtsauffassung des Senats zur Verteilung der Beweislast bei Inobhutnahmefällen (BayVGH, B. v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 – BayVBl. 2015, 131 ff. Rn. 22) als durch die weitere Rechtsentwicklung überholt.
Die Beschwerde der Antragsgegnerin war demnach als unbegründet zurückzuweisen.
4. Die Antragsgegnerin trägt nach § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nach § 188 Satz 2, 1 VwGO in Angelegenheiten des Kinder- und Jugendhilferechts nicht erhoben. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.

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