Aktenzeichen 22 ZB 15.2651
Leitsatz
1 Es besteht keine generelle Fürsorgepflicht des Gerichts‚ durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumnis des Rechtsmittelführers zu verhindern. Etwas anderes kann dann gelten‚ wenn ein Fehler eines Prozessbeteiligten ohne Weiteres zu erkennen ist und die nicht rechtzeitige Aufdeckung auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhaltens des angerufenen Gerichts beruht (Anschluss an BGH BeckRS 2010, 17005). (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2 Insbesondere bei einem fristgerechten Zulassungsantrag darf das Gericht die umfassende Prüfung der dortigen Angaben bis zur Bearbeitung des Falls zurückstellen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
16 K 15.2443 2015-10-06 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 894 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin erhob ohne anwaltliche Vertretung Anfechtungsklage gegen einen Beitragsbescheid der Beklagten zum Bayerischen Verwaltungsgericht München. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab (Urteil vom 6.10.2015). Das Urteil wurde der Klägerin ausweislich der Postzustellungsurkunde am 5. November 2015 zugestellt. Die Postzustellungsurkunde bringt auch zum Ausdruck‚ dass der Zusteller den Tag der Zustellung auf dem Umschlag des Schriftstücks vermerkt hat. Gleichwohl befindet sich auf dem Begleitschreiben des Verwaltungsgerichts zum zugestellten Urteil ein Eingangsstempel der Klägerin mit dem Inhalt „10. November 2012“.
Die Klägerin hat durch ihre nunmehrige Bevollmächtigte am 4. Dezember 2015 die Zulassung der Berufung beantragt mit folgender Formulierung: „Namens des Klägers und unter Bezugnahme auf die beigefügte Vollmacht wird beantragt‚ die Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 6. Oktober 2015‚ Az. M 16 K 15.2443‚ zugestellt am 10.11.2015‚ zuzulassen“. Die Formalprüfung der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichtshofs enthält folgende Einträge: „zugestellt am 5.11.15‚ eingegangen am 4.12.15‚ Bevollmächtigung im Sinne des § 67 Abs. 1 VwGO: Ja‚ Frist gewahrt: Ja“. Die Klägerin erhielt eine Eingangsmitteilung; deren Text ging nicht darauf ein‚ dass die Bevollmächtigte der Klägerin das Datum der Zustellung des Urteils mit „10.11.2015“ angegeben hatte.
Die Klägerin hat durch ihre nunmehrige Bevollmächtigte den Zulassungsantrag am 8. Januar 2016 begründet. Nunmehr wies der Verwaltungsgerichtshof die Klägerin unter dem 11. Januar 2016 darauf hin‚ dass die zweimonatige Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht eingehalten sei. Die Bevollmächtigte der Klägerin erhielt diesen Hinweis am 13. Januar 2016.
Die Klägerin hielt den Zulassungsantrag aufrecht und beantragte am 14. Januar 2016 höchstvorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Begründungsfrist für ihren Zulassungsantrag. Es sei davon auszugehen‚ dass der Verwaltungsgerichtshof die erstinstanzlich nicht anwaltlich vertretene Klägerin im Rahmen der Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO spätestens nach Eingang der Antragsschrift hätte darauf hinweisen müssen‚ dass das Urteil ausweislich der Postzustellungsurkunde bereits am 5. November 2015 zugestellt worden sei. Nach einem solchen Hinweis hätte die Bevollmächtigte der Klägerin den Zulassungsantrag auf jeden Fall rechtzeitig begründet.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg‚ weil er nicht innerhalb der Zwei-Monats-Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO begründet worden ist und wegen Versäumung der Begründungsfrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO gewährt werden kann.
Die Zwei-Monats-Frist zur Begründung des Zulassungsantrags hat bereits am 6. November 2015 zu laufen begonnen und war am 8. Januar 2016 bereits abgelaufen (vgl. § 57 Abs. 2 VwGO‚ § 222 Abs. 1 ZPO‚ § 187 Abs. 1 und § 188 Abs. 2 BGB). Die Frist begann mit der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils zu laufen. Diese erfolgte ausweislich der Postzustellungsurkunde am 5. November 2015. Die Postzustellungsurkunde als öffentliche Urkunde begründet den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen (§ 418 Abs. 1 ZPO). Der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache ist zwar zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO)‚ im vorliegenden Fall aber nicht erbracht. Die Klägerin hat diesbezüglich nichts Substanzielles vorgetragen. Fristablauf war somit am 5. Januar 2016.
Die Klägerin war nicht ohne Verschulden gehindert‚ die Begründungsfrist einzuhalten (§ 60 Abs. 1 VwGO). Die Klägerin hat nichts vorgetragen‚ was für ein unverschuldetes Fristversäumnis sprechen würde. Das fehlerhafte Eingangsdatum auf dem Begleitschreiben des Verwaltungsgerichts zum zugestellten Urteil lässt im Gegenteil auf ein Verschulden der Klägerin schließen. Die Klägerin macht geltend‚ dass ihr Verschulden nicht zu einer Fristversäumnis geführt hätte‚ wenn sich der Verwaltungsgerichtshof pflichtgemäß verhalten hätte und sie auf das im Antragsschriftsatz enthaltene falsche Zustellungsdatum hingewiesen hätte. Ihr Verschulden könne ihr daher nicht angelastet werden. Dem kann nicht gefolgt werden.
Die Klägerin weist zwar im Ansatz zutreffend darauf hin‚ dass eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Prozessbeteiligten besteht‚ die aus dem Gebot eines fairen Verfahrens abgeleitet werden mag (Art. 6 EMRK‚ Art. 19 Abs. 4‚ Art. 20 Abs. 3 GG). Eine generelle Fürsorgepflicht des Gerichts‚ durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumnis des Rechtsmittelführers zu verhindern‚ besteht jedoch nicht. Etwas anderes kann dann gelten‚ wenn ein Fehler eines Prozessbeteiligten „ohne weiteres“ bzw. „leicht und einwandfrei“ zu erkennen ist und die nicht rechtzeitige Aufdeckung auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhaltens des angerufenen Gerichts beruht (vgl. BGH‚ B.v. 24.6.2010 – V ZB 170/09 – juris). Dergleichen ist beispielsweise bejaht worden‚ wenn ein richtig adressiertes Rechtsmittel an ein unzuständiges Gericht gesandt worden ist. Vielfach wurde angenommen‚ dass für dieses unzuständige Gericht eine Pflicht zur Weiterleitung des Rechtsmittels an das zuständige Gericht im ordentlichen Geschäftsgang besteht (vgl. z. B. Czybulka in Sodan/Ziekow‚ VwGO‚ 4. Aufl. 2014‚ § 60 Rn. 77‚ 95 ff. m. w. N.). In diesem Fall liegt allerdings auf der Hand‚ dass das zu Unrecht angegangene Gericht seine Zuständigkeit alsbald zu prüfen hat.
Der vorliegende Fall liegt aber wesentlich anders. Es bestand für den Verwaltungsgerichtshof nämlich nach Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung keine Veranlassung‚ die weiteren Angaben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin in diesem Antrag alsbald zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen. Für die allenfalls veranlasste alsbaldige Prüfung der Rechtzeitigkeit des Zulassungsantrags bedurfte es neben der Feststellung des Eingangsdatums lediglich der Prüfung der vom Verwaltungsgericht vorgelegten Postzustellungsurkunde‚ nicht aber der Prüfung der diesbezüglichen – unnötigen – Angaben der Prozessbevollmächtigten der Klägerin. Eine umfassende Prüfung darf das Gericht bis zur Bearbeitung des Falls zurückstellen (BGH‚ B.v. 8.7.2014 – II ZB 17/13 – juris). Insbesondere bedurfte es nach der Feststellung der Rechtzeitigkeit des Zulassungsantrags keiner weiteren Prüfung des Verwaltungsgerichtshofs‚ ob diese Rechtzeitigkeit auf dem gebotenen sorgfältigen Prozessverhalten oder auf einem Zufall beruhte. Dass der Antrag auf Zulassung der Berufung offensichtlich rechtzeitig gestellt war‚ führte dazu‚ dass sich dem Verwaltungsgerichtshof weitere Prüfungen nicht aufdrängten. Hinzu kommt‚ dass es Sache der Prozessbevollmächtigten der Klägerin war‚ auch im Hinblick auf die Begründungsfrist alles ihr Zumutbare zu tun‚ damit diese gewahrt wird (vgl. BGH‚ B.v. 15.9.2015 – VI ZB 37/14 – NJW-RR 2015‚ 1468). Hiervon konnte sie sich nicht durch unnötige Angaben bei der Einlegung des Zulassungsantrags entlasten‚ deren Überprüfung dem Verwaltungsgerichtshof zugedacht war.
Kosten: § 154 Abs. 2 VwGO.
Streitwert: § 47 Abs. 3‚ § 52 Abs. 3 GKG.