Aktenzeichen M 28 S 17.36417
AsylG § 75
AsylG § 71 a
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5
AsylG § 36
Leitsatz
1 Für die Annahme eines Zweitantrages iSd § 71a AsylG muss das Bundesamt zu der gesicherten Erkenntnis gelangen, dass ein Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Entscheidung abgeschlossen wurde. Die Prüfung beinhaltet unter anderem die Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung oder endgültigen Einstellung des Antrags in dem sicheren Drittstaat. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2 Für eine rechtmäßige Zulässigkeitsentscheidung reichen Angaben des Asylbewerbers über den Ausgang seines Asylverfahrens in dem sicheren Drittstaat nicht aus (BayVGH BeckRS 2016, 41335). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. des Bescheids der Antragsgegnerin vom 27. März 2017 (M 28 K 17.36413) wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Die Antragsteller zu 1) bis 3) sind nigerianische Staatsangehörige. Die Antragsteller zu 1) und 2) verließen ihr Heimatland Anfang 2009 und reisten über Niger, Libyen, Italien – dort Aufenthalt ca. vier bis viereinhalb Jahre – und Österreich am 25. Februar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein (alles eigene Angaben). Der Antragsteller zu 3) wurde am 13. Juni 2016 im Bundesgebiet geboren. Am 25. August 2016 stellten die Antragsteller zu 1) bis 3) Asylanträge.
Bei Befragungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 25. August 2016 gaben die Antragsteller zu 1) und 2) jeweils an, sie hätten in Italien Asyl beantragt. Bei einer Anhörung des Bundesamts am 10. November 2016 erklärte der Antragsteller zu 1), er habe in Italien Asyl beantragt, der Asylantrag sei abgelehnt worden, man habe ihm nicht geglaubt. Die Antragstellerin zu 2) gab bei ihrer Anhörung am 10. November 2016 an, sie habe in Italien Asyl beantragt, sie habe eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, die sie verloren habe.
Am 10. Februar 2017 richtete das Bundesamt ein Informationsersuchen nach Art. 34 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) an Italien, um Informationen u.a. über die Asylverfahren der Antragsteller zu 1) und 2) in Italien zu erhalten. Diese sog. Info-Request-Anfrage blieb indes unbeantwortet.
Mit Bescheid vom 27. März 2017, zugestellt am 30. März 2017, lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.), forderte die Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls würden sie abgeschoben (Ziffer 3.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt: Da die Antragsteller bereits in einem sicheren Drittstaat gemäß § 26 a AsylG Asylverfahren erfolglos betrieben hätten, handele es sich bei den erneuten Asylanträgen in der Bundesrepublik Deutschland um Zweitanträge im Sinne des § 71 a AsylG. Der Antragsteller zu 1) habe selbst erklärt, sein Asylantrag sei abgelehnt worden, man habe ihm nicht geglaubt, die Antragstellerin zu 2) habe erklärt, eine Aufenthaltsgenehmigung gehabt zu haben. Aufgrund der vorliegenden EURODAC-Treffer stehe die Asylantragstellung in Italien zweifelsfrei fest. In Anbetracht der unzweideutigen Angaben des Antragstellers zu 1) werde davon ausgegangen, dass wie üblich eine einheitliche negative Entscheidung über die Asylanträge ergangen sei. Daher könne dahinstehen, dass das an Italien veranlasste Info Request unbeantwortet geblieben sei. Von einer Kontaktierung der Liaison-Beamtin in Italien sei mangels Vorlagemöglichkeit nachprüfbarer Erkenntnisse und damit fehlender Erfolgsaussichten abgesehen worden. Die Anträge seien unzulässig, da die Voraussetzungen für die Durchführung von weiteren Asylverfahren nicht vorlägen. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 71 a Abs. 4 i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG erlassen worden. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus §§ 71 a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 1 AsylG. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot werde nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Gegen diesen Bescheid erhoben die Antragsteller durch ihre Bevollmächtigte am 2. April 2017 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und ließen u.a. beantragen, den Bescheid vom 27. März 2017 aufzuheben. Diese Klage, über die noch nicht entschieden ist, wurde zunächst unter dem Aktenzeichen M 21 K 17.36413 und wird nunmehr unter dem Aktenzeichen M 28 K 17.36413 geführt. Ferner beantragten die Antragsteller ebenfalls 2. April 2017,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Am 6. April 2017 und erneut am 9. Juni 2017 legte die Antragsgegnerin die Behördenakten vor.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten verwiesen.
II.
1. Der Antrag ist zulässig als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 AsylG; § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 71 a Abs. 4, 36 Abs. 3 AsylG).
Zwar ist nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Zweitanträgen (§ 71 a AsylG) nach Inkrafttreten des Integrationsgesetzes zum 6. August 2016 in der Hauptsache nunmehr eine Anfechtungsklage gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sowie eine hilfsweise Verpflichtungsklage auf Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu erheben (BVerwG, U. v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 15 ff., 20 a. E.). Dies ändert aber nichts daran, dass einstweiliger Rechtsschutz anlässlich der Ablehnung eines (auch vermeintlichen) Zweitantrags wie schon vor Inkrafttreten des Integrationsgesetzes ausschließlich in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gewährt werden kann und – wegen § 123 Abs. 5 VwGO – muss, weil insoweit unverändert gemäß §§ 71 a Abs. 4, 36 Abs. 3 AsylG ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO „gegen die Abschiebungsandrohung“ vorgesehen ist.
2. Der so verstandene Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
Die Aussetzung der Abschiebung darf nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 71 a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (BVerfGE 94, 166, 194). Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, bleiben unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 71 a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG).
Die Androhung der Abschiebung unter Bestimmung einer Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung stützt sich vorliegend darauf, dass die Asylanträge als Zweitanträge (§ 71 a AsylG) gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt wurden, weil das Bundesamt das Vorliegen der Voraussetzungen der § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG verneint hat (§ 71 a Abs. 4 AsylG i.V.m. §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 AsylG). Das Verwaltungsgericht darf einstweiligen Rechtsschutz nur dann gewähren, wenn es ernstliche Zweifel daran hat, dass die Voraussetzungen des § 71 a Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen (Funke-Kaiser in GK-AsylG, Stand November 2016, § 36 Rdnr. 85). Darüber hinaus hat das Gericht gemessen am Maßstab der ernstlichen Zweifel auch zu prüfen, ob das Bundesamt im Ergebnis zu Recht das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG verneint hat.
Vorliegend bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids vom 27. März 2017 schon deshalb, weil das Bundesamt die Asylanträge der Antragsteller nicht als Zweitanträge im Sinne des § 71 a AsylG hätte behandeln dürfen. Es fehlt jedenfalls zum vorliegend maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) an einem hinreichenden Nachweis dafür, dass den Asylanträgen der Antragsteller erfolglos abgeschlossene Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylG) vorausgegangen sind.
§ 71 a AsylG setzt den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26 a AsylG) voraus. Erfolgloser Abschluss des in einem sicheren Drittstaat betriebenen Asylverfahrens meint, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig – d.h. ohne die Möglichkeit einer Wiedereröffnung mit anschließender voller sachlicher Prüfung – eingestellt worden ist (BVerwG, U. v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 29 ff.).
Hierbei muss der vorangegangene erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat festgestellt werden und feststehen; bloße Mutmaßungen genügen nicht (vgl. Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 71a AsylG, Rn. 3 und 9 m.w.N.). Das Bundesamt muss zu der gesicherten Erkenntnis gelangen, dass das Asylerstverfahren mit einer für den Asylbewerber negativen Entscheidung abgeschlossen wurde, um sich in der Folge auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken zu dürfen. Eine solche Prüfung beinhaltet unter anderem, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung oder endgültigen Einstellung des Antrags in dem sicheren Drittstaat hat (vgl. VG München, B. v. 27.12.2016 – M 23 S 16.33585 – juris Rn. 19; VG Schleswig-Holstein, B. v. 7.9.2016 – 1 B 54/16 – juris Rn. 7 ff; VG Wiesbaden, B. v. 20.6.2016 – 5 L 511/16.WI.A – juris Rn. 20 f., VG Ansbach, U. v. 29.9.2015 – AN 3 K 15.30829 – juris Rn. 23; Schönenbroicher in Kluth/Heusch BeckOK AuslR, Stand: 1.5.2017, § 71a AsylG Rn. Rn. 2 f). Angaben des Asylbewerbers über den Ausgang seines Asylverfahrens in dem sicheren Drittstaat allein reichen nicht aus: Diese haben in aller Regel den Verfahrensablauf nicht durchschaut und können deshalb auch keine verlässlichen Angaben machen. Eine Zulässigkeitsentscheidung, die auf einer derart unzuverlässigen Tatsachenbasis getroffen wird, kann für ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen durchzuführendes Verfahren keine Grundlage sein (BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 22).
Vorliegend sind der Akte des Bundesamts keine Umstände zu entnehmen, die es rechtfertigen könnten, von gesicherten Erkenntnissen über den erfolglosen Abschluss der Asylverfahren der Antragsteller zu 1) und 2) in Italien auszugehen. Die in der Akte enthaltenen EURODAC-Treffer sind diesbezüglich nicht aussagekräftig. Die bloßen Angaben der Antragsteller zu 1) und 2) in den Befragungen, der Asylantrag sei abgelehnt worden – so der Antragsteller zu 1) – bzw. man habe eine Aufenthaltsgenehmigung gehabt, die verloren gegangen sei – so die Antragstellerin zu 2) –, auf die sich die Antragsgegnerin in den Bescheidsgründen stützt, sind für eine gesicherte Erkenntnis – wie eben ausgeführt – nicht ausreichend. Überdies handelt es sich bei der im Bescheid angestellten Überlegung, in Anbetracht der unzweideutigen Angaben des Antragstellers zu 1) werde davon ausgegangen, dass wie üblich eine einheitliche negative Entscheidung über die Asylanträge ergangen sei, um eine bloße Mutmaßung. Zwar hat das Bundesamt durchaus versucht, den Sachverhalt weiter aufzuklären und deshalb eine sog. Info-Request-Anfrage nach Art. 34 Dublin-III-VO an Italien gerichtet. Indes ist diese Anfrage von Italien nicht beantwortet worden, was zu Lasten der Antragsgegnerin geht (vgl. BayVGH, U. v. 13.10.2016 – 20 B 14.30212 – juris Rn. 41). Von einer Kontaktierung der Liaison-Beamtin in Italien hat die Antragsgegnerin ausweislich der Bescheidsbegründung wegen „fehlender Erfolgsaussichten“ offenbar bewusst abgesehen, so dass auch insoweit keine gesicherten Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Darüber hinausgehende eigenen Ermittlungen oder Feststellungen des Bundesamts zur Durchführung von Asylverfahren der Antragsteller in Italien sind der Akte nicht zu entnehmen.
Nach alldem war dem gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfreien Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.