Verwaltungsrecht

Vorläufige Gewährung von ALG II-Leistungen bei unterlassener Mitwirkung

Aktenzeichen  S 19 AS 416/17 ER

Datum:
17.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGG SGG § 86b Abs. 2 S. 2
SGB II SGB II § 42a Abs. 2
ZPO ZPO § 117 Abs. 2, § 118 Abs. 2 S. 4
SGG SGG § 73a Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1 Das Eilverfahren ist nicht dazu da, notwendige und mögliche Mitwirkungshandlungen zu umgehen (ebenso BayLSG BeckRS 2011, 70654). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Wenn ein Antragsteller in einem Eilverfahren anwaltlich vertreten ist und die Vorlage der PKH-Erklärung von ihm angekündigt, aber bis zum Abschluss der Instanz nicht vorgelegt wird, kann das Gericht PKH wegen fehlender Erklärung in der Regel ohne Setzung einer Nachfrist ablehnen (ebenso BayLSG BeckRS 2011, 70655). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antragsgegner wird vorläufig verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit von 16.03.2017 bis 31.05.2017 Arbeitslosengeld II in Form eines Darlehens in Höhe von 300,- Euro monatlich zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Eilverfahren die Zahlung von laufendem Arbeitslosengeld II und die Übernahme von Stromschulden in Höhe von zuletzt ca. 5.500,- Euro.
Der 1960 geborene alleinstehende Antragsteller ist Zahnarzt. Nach seinen Angaben wurde seine selbständig betriebene Praxis Ende Oktober 2016 geschlossen.
Am 10.02.2017 stellte der Antragsteller beim Antragsgegner erstmals einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II. Als Unterkunft steht ihm ein Eigenheim, ein Haus mit 128 m² Wohnfläche, zur Verfügung. Hierfür macht er ohne Nachweise monatlich 150,- Euro an Nebenkosten und 250,- Euro an Heizkosten (Heizöl) geltend. Nach seinen Angaben bestehe ein Wohnrecht für seine Mutter an dem Haus. Das Haus sei mit ca. 350.000,- Euro an Schulden belastet. Zugleich beantragte der Antragsteller die Gewährung eines Darlehens in Höhe von 3.750,- Euro für Stromschulden. Ferner gab er eine nicht ausgefüllte Anlage zu Einkommen aus selbständiger Tätigkeit ab. Er sei Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung.
Am 20.02.2017 beantragte der Antragsteller die Zahlung eines Vorschusses. Daraufhin wurde mitgeteilt, dass die bisherigen Angaben dafür nicht ausreichen würden. Er wurde schriftlich aufgefordert, verschiedene Unterlagen, insbesondere Kontoauszüge, Unterlagen zu den Stromschulden, eine Erklärung zur Zulassung als Zahnarzt, Unterlagen zum Wohnrecht und den laufenden Kosten der Unterkunft sowie zu den dinglichen Belastungen des Hausgrundstücks vorzulegen. Der Antragsteller lieferte nichts.
Am 24.02.2017 stellte der Antragsteller beim Sozialgericht München einen Antrag auf einstweilige Anordnung. Der Antragsteller habe im Oktober 2016 seine Zahnarztpraxis verloren und verfüge über keinerlei Einkommen. Neben laufenden Leistungen werde auch ein Darlehen für die Stromschulden begehrt. Seit Mai 2016 bestehe eine Stromsperre. Vorgelegt wurde eine Stromrechnung vom 25.05.2016 mit Schulden in Höhe von 3186,51 Euro. Die Heizung des Antragstellers werde mit Strom betrieben und funktioniere deshalb nicht mehr. Neben Schulden in Höhe von ca. 130.000,- Euro gebe es zwei Hypotheken in Höhe von ca. 200.000,- Euro. Der Antragsteller sei hilfebedürftig. Das Wohnen ohne Strom und Heizung sei nicht zumutbar. Beigefügt war eine eidesstattliche Versicherung des Antragstellers zu den vorgenannten Angaben. Darüber hinaus erklärte der Antragsteller, dass sein Geschäftskonto bei der Airbus Bank blockiert sei und er bisher von Verwandten und Bekannten Geld erhalten habe, was nunmehr jedoch nicht mehr möglich sei. Anschließend wurde eine neue Forderungsaufstellung zu den Stromschulden vorgelegt, die nunmehr 5493,29 Euro betragen.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner vorläufig zu verpflichten, ihm laufend Arbeitslosengeld II zu gewähren und die Stromschulden darlehensweise zu übernehmen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsteller habe völlig unzureichende Angaben gemacht. Die angeforderten Unterlagen seien nicht vorgelegt worden. Eine Beurteilung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart sei nicht möglich.
II.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig, aber weitgehend unbegründet. Ein Anordnungsanspruch ist nicht erkennbar. Über eine Folgenabwägung kann dem Antragsteller nur eine begrenzte Leistung in Höhe von 70% des Regelbedarfs zugesprochen werden, weil es allein an ihm liegt, die erforderlichen Angaben zu tätigen und die Unterlagen zeitnah vorzulegen.
Für die begehrte Begründung einer Rechtsposition im einstweiligen Rechtsschutz ist ein Antrag auf eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft. Der Antrag muss zulässig sein und die Anordnung muss zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen. Es muss glaubhaft sein, dass ein materielles Recht besteht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird (Anordnungsanspruch), und es muss glaubhaft sein, dass eine vorläufige Regelung notwendig ist, weil ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist (Anordnungsgrund).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insb. Beschlüsse des BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05 und vom 27.07.2016, 1 BvR 1241/16) ist ein besonderer Prüfungsmaßstab anzulegen, wenn ohne die Gewährung von einstweiligen Rechtsschutz eine schwere und unzumutbare Beeinträchtigung möglich ist, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden könnte. Dann sind die Gerichte verpflichtet, die Sach- und Rechtslage abschließend (nicht nur summarisch) zu prüfen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen. Wenn diese abschließende Prüfung nicht möglich ist, ist eine Folgenabwägung durchzuführen. Kriterien der Abwägung sind die drohende Verletzung von (Grund-) Rechten, ausnahmsweise entgegenstehende überwiegende besonders gewichtige Gründe und die hypothetischen Folgen bei einer Ablehnung bzw. Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz.
Der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts ist hier anzuwenden, weil es um die vollständigen existenzsichernden Leistungen geht, die laut Antragsteller nicht durch Schonvermögen oder Hilfe Dritter erbracht werden können. Eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache ist nicht möglich, weil der Antragsteller keine Beiträge zur Aufklärung des Sachverhalts leistet.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 01.02.2010, 1 BvR 20/10, festgestellt, dass auch in Eilverfahren zu existenzsichernden Leistungen eine Entscheidung auf Grundlage der Beweislast möglich ist, wenn ein Antragsteller die notwendige Mitwirkung unterlässt. Das Sozialgericht geht davon aus, dass dieser Grundsatz sich nicht nur auf die notwendige Mitwirkung im sozialgerichtlichen Eilverfahren bezieht, sondern auch bei der vollständigen Missachtung der Mitwirkungspflichten im Verwaltungsverfahren anwendbar ist. Anders gewendet: Das Eilverfahren ist nicht dazu da, notwendige und mögliche Mitwirkungshandlungen zu umgehen (Bay LSG, Beschluss vom 20.01.2011, L 7 AS 21/11 B ER.
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hält es das Sozialgericht für notwendig, aber auch für ausreichend, dem Antragsteller für ca. zehn Wochen 70% des Regelbedarfs zuzusprechen. Die Leistung ist auch im Eilverfahren nur als Darlehen und damit grundsätzlich § 42a Abs. 2 SGB II unterworfen zuzusprechen, weil nicht feststellbar ist, ob der Antragsteller etwa durch das unangemessen große Eigenheim verwertbares Vermögen hat.
Das Gericht ist bei der Folgenabwägung von folgenden Gesichtspunkten ausgegangen:
– Der Antragsteller liefert überhaupt keine notwendigen Unterlagen. Die angeforderten Unterlagen kann er größtenteils sofort liefern. Selbst für die Kontoauszüge seines Girokontos ist kaum vorstellbar, dass er als Kontoinhaber nicht einmal Kontoauszüge als Doppel bekommt. Das spräche für eine vollständige Ablehnung des Eilantrags.
– Die Stromschulden datieren aus einer Zeit, als er noch als Zahnarzt selbständig erwerbstätig war – das bedarf einer nachvollziehbaren Erklärung und Nachweisen.
– Der Antragsteller ist nach seinen Angaben den ganzen Winter ohne Heizung ausgekommen. Was sich Mitte März nun geändert hat, erschließt sich nicht. Außerdem hat er eine Ölheizung, die zwar von Betriebsstrom abhängig ist, der aber ggf. auch über einen Stromgenerator erzeugt werden könnte. Das wäre bei Schulden von nunmehr 5.500,- Euro preiswerter.
– Für einen Verlust der Unterkunft hat der Antragsteller nichts vorgetragen.
– Es ist ungeklärt, ob überhaupt ein dinglich gesichertes Wohnrecht besteht. Falls die Inhaberin des Wohnrechts (Mutter des Antragstellers?) dies in Anspruch nimmt, würde sich der Unterkunftsbedarf wohl halbieren.
– Die medizinische Versorgung ist auch bei Beitragsrückständen gesichert, § 16 Abs. 3a SGBB V. Eine Übernahme von Beiträgen zur GKV ist wegen der Darlehensform nicht angezeigt, § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V.
– Der Antragsteller ist Zahnarzt. Wenn er eine Zulassung hat, kann er sich sofort eine gut bezahlte Erwerbstätigkeit suchen und zumindest von den pfändungsfreien Bezügen leben. Teilweise sind Praxisvertretungen auch ohne eigene Zulassung möglich, insofern muss sich der Antragsteller halt kundig machen.
– Im Eilverfahren ist auch bei existenzsichernden Leistungen ein Abschlag von der vollen Leistung möglich (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Rn. 26).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Das Obsiegen war im Vergleich zu gesamten Summe (laufende Leistungen auch für die Unterkunft, 5.500,- Euro an Stromschulden) gering.
Prozesskostenhilfe war abzulehnen, weil der anwaltlich vertretene Antragsteller bis zum Abschluss der Instanz die angekündigte PKH-Erklärung nicht vorgelegt hat.
Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 117 Abs. 2 ZPO hat ein Antragsteller eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abzugeben und entsprechende Belege vorzulegen. Wenn der Antragsteller diese Erklärung oder die nötigen Belege trotz Aufforderung durch das Gericht nicht vorlegt, so lehnt das Gericht gemäß § 118 Abs. 2 Satz 4 ZPO die Bewilligung von Prozesskostenhilfe insoweit ab. Die Erklärung muss regelmäßig bis zum Abschluss der Instanz vorliegen. Wenn ein Antragsteller in einem Eilverfahren anwaltlich vertreten ist und die Vorlage der PKH-Erklärung von ihm angekündigt, aber bis zum Abschluss der Instanz nicht vorgelegt wird, kann das Gericht Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erklärung in der Regel ohne Setzung einer Nachfrist ablehnen (Bay LSG, Beschluss vom 12.01.2011, L 7 AS 686/10 B PKH). So ist die Sachlage hier und für eine Abweichung von dem vorgenannten Grundsatz spricht nichts.
Die Rechtsmittelbelehrungzur Beschwerde bezieht sich nicht auf die Ablehnung der Prozesskostenhilfe. Diese ist gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 2a SGG nicht anfechtbar. Die fehlende PKH-Erklärung ist ein Unterfall der Verneinung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Bay LSG, Beschluss vom 25.07.2011, L 7 AS 492/11 B PKH).

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