Verwaltungsrecht

Vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings

Aktenzeichen  M 18 K 16.4361

Datum:
7.12.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 131860
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 7 Abs. 1 Nr. 2, § 42 Abs. 1 S. 2, § 42a Abs. 1 S. 1, § 42f Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Vor dem Abschluss eines fehlerfreien Alterseinschätzungsverfahrens kann die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten Flüchtlings nach § 42a SGB VIII nicht beeendet werden.  (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung durch das Jugendamt hat stattzufinden, wenn ein Zweifelsfall gemäß § 42f Abs. 1 SGB VIII gegeben ist, mithin nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen werde, der Betroffene sei noch minderjährig. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen. Der Bescheid der Beklagten vom 5. September 2016 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Berufung wird zugelassen.
IV. Die Revision wird zugelassen.

Gründe

Der Klage ist zulässig und begründet.
Das Klagebegehren ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Kläger mit der einstweiligen Anordnung eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII erreichen will. Ein Anspruch auf eine endgültige Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII scheidet aus. Die §§ 42a ff SGB VIII begründen ein chronologisch gestuftes System, das zunächst nur eine vorläufige Inobhutnahme zulässt. Eine endgültige Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII kommt nur in Betracht, wenn die Zuweisung oder der Ausschluss aus dem Verteilungsverfahren nach § 42b SGB VIII bereits stattgefunden hat.
Der Kläger hat einen Anspruch auf eine vorläufige Inobhutnahme durch die Beklagte, der nicht erfüllt wurde. Der Bescheid vom 5. September 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).
Der Kläger hat einen Anspruch auf eine vorläufige Inobhutnahme durch die Beklagte nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII.
Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach den §§ 42a Abs. 1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Inobhutnahme die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Anspruchsberechtigt nach den vorgenannten Normen sind ausschließlich Kinder und Jugendliche. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII ist im Sinne des SGB VIII Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist. Volljährige dürfen dahingegen nicht in Obhut genommen werden.
Die unbegleitete Einreise nach Deutschland und die örtliche Zuständigkeit der Beklagten sind zwischen den Parteien unstreitig. Streitig ist allein, ob der Kläger minderjährig oder volljährig ist. Das in § 42f SGB VIII normierte Alterseinschätzungsverfahren ist im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme durchzuführen, sodass vor dem Abschluss eines fehlerfreien Alterseinschätzungsverfahrens die vorläufige Inobhutnahme wegen einer angenommenen Volljährigkeit nicht beendet werden kann.
Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch die Beklagte mit Bescheid vom 5. September 2016 ist rechtswidrig, da das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zur Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f SGB VIII nicht vollständig durchgeführt wurde. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. Eine solche qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII fand am 5. September 2016 durch die Beklagte statt. Das Ergebnis dieser Inaugenscheinnahme war, dass die Beklagte den Kläger als volljährig einschätzte und daher eine vorläufige Inobhutnahme mit Bescheid vom 5. September 2016 beendete.
Die Beklagte hat jedoch von Amts wegen wegen des Vorliegens eines Zweifelsfalles angesichts der nicht offensichtlichen Volljährigkeit des Klägers eine ärztliche Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII durchzuführen, bevor sie eine vorläufige Inobhutnahme wegen Volljährigkeit des Klägers beenden kann. Nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII hat auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung durch das Jugendamt stattzufinden. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinen Beschlüssen vom 16. August 2016 (Az. 12 CS 16.1550) und vom 18. August 2016 (12 CE 16.1570) das Tatbestandsmerkmal des Zweifelsfalles in § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ausgelegt. Demzufolge liegen Zweifel bei der Feststellung des Alters vor, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamtes kann allenfalls dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden, in welchen ein sich Berufen des Betroffenen auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigener Unkenntnis von seinem genauem Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss (BayVGH B.v. 16.8.2016 Az. 12 CS 16.1550, juris, Rn. 23 und BayVGH B.v. 18.8.2016 12 CS 1570, juris, Rn. 19). In allen anderen Fällen ist vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, sodass das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII veranlassen muss. Angesichts der erheblichen Schwankungsbreiten medizinischer Untersuchungsmethoden von bis zu 5 Jahren, wird es darüber hinaus eines „Sicherheitszuschlages“ von weiteren 2 bis 3 Jahren bedürfen, um dem Kindeswohl angemessen Rechnung zu tragen und jeder vermeidbaren Fehlbeurteilung entgegenzuwirken (vgl. BayVGH B.v. 16.8.2016 Az. 12 CS 16.1550, Rn. 24 und BayVGH B.v. 18.8.2016 Az. 12 CE 16.1570 Rn. 20).
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes ist im vorliegenden Fall eine ärztliche Untersuchung gem. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII für die Alterseinschätzung durchzuführen. Hierbei kommt es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht darauf an, ob im Rahmen des Gesprächs zur Altersfeststellung lediglich die körperlichen Merkmale des Klägers in Augenschein genommen wurden oder ob sein Verhalten und seine Aussagen auch miteinbezogen wurden, da nach Ansicht des BayVGH lediglich das Aussortieren von ganz offensichtlichen Fällen der Volljährigkeit durch die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 SGB VIII bezweckt wird (BayVGH B.v. 16.8.2016 Az. 12 CS 16.1550, Rn. 24 und BayVGH B.v. 18.8.2016 Az. 12 CE 16.1570 Rn. 20).
Es erscheint angesichts des Bildes, das das Gericht sich in der mündlichen Verhandlung vom Kläger machen konnte, nicht ausgeschlossen, dass der Kläger minderjährig sein könnte. Die Beklagte hatte als Geburtsdatum den 21. März 1998 festgesetzt. Sie ist daher selbst von einem erst seit einem halben Jahr volljährig gewordenen Kläger ausgegangen. Dies ist innerhalb des oben erwähnten Sicherheitszuschlages, in dem nach der Rechtsprechung des BayVGH (a.a.O.) auf jeden Fall medizinische Untersuchungen durchgeführt werden müssen, um Fehlbeurteilungen zu Lasten von Minderjährigen zu vermeiden.
Da der Anspruch auf vorläufige Inobhutnahme besteht, ist der die Inobhutnahme beendender Bescheid vom 5. September 2016 rechtswidrig und daher aufzuheben.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 188 Satz 2 VwGO.
Die Berufung und die Sprungrevision sind von Amts wegen gemäß der §§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 1, 2 Nr. 3, 134 Abs. 1, 2 S. 1, 132 Abs. 1, 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzlich Bedeutung hat. Eine grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache ist anzunehmen, wenn sie eine rechtliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz bzw. Revisionsinstanz entscheidungserheblich ist und im Sinne der Rechtseinheit einer Klärung bedarf. Eine solche Klärung ist im Sinne der Rechtseinheit möglich, wenn die klärungsbedürftige Frage mit Auswirkungen über den Einzelfall hinaus in verallgemeinerungsfähiger Form beantwortet werden kann (Kopp/Schenke, VwGO-Kommentar, 18. Auflage 2012, § 124 Rz. 10). Vorliegend ist die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „in Zweifelsfällen“ des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII klärungsbedürftig und somit die Frage, wann das Jugendamt von Amts wegen zur Bestimmung des Alters ein ärztliches Gutachten wegen Zweifel am Alter des Klägers einholen muss. Dies ist im vorliegenden Streitfall entscheidungserheblich, jedoch ist die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „in Zweifelsfällen“ für alle weiteren Alterseinschätzungsverfahren nach § 42f SGB VIII bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen entscheidend. Soweit der BayVGH in den o.g. Beschlüssen eine abschließende Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Zweifelsfalls vorgenommen hat, geschah dies im Rahmen von Eilverfahren, wobei die Entscheidung überdies wegen besonderer Eilbedürftigkeit ohne vorherige bzw. weitere Gewährung rechtlichen Gehörs erging. Da eine obergerichtliche oder gar höchstrichterliche Auslegung des o.g. Tatbestandsmerkmals im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens bislang aber nicht vorliegt, sieht das erkennende Gericht eine grundsätzliche Bedeutung noch als gegeben.

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