Aktenzeichen Au 5 S 16.32020
Leitsatz
Die gesetzliche Fiktion der Asylantragsrücknahme setzt voraus, dass eine ordnungsgemäße Belehrung über die Rechtsfolge des § 33 Abs. 1 AsylG erfolgt ist. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage (Az. Au 5 K 16.32019) gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. September 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen eine Abschiebungsandrohung nach Afghanistan bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat im Bescheid der Antragsgegnerin vom 23. September 2016.
Der am … 1998 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger mit unbekannter Volks- und Religionszugehörigkeit.
Der Antragsteller reiste zu einem nicht bekannten Zeitpunkt erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er unter dem 13. August 2015 Asylerstantrag stellte. Mit dem Asylantrag begehrte der Antragsteller sowohl die Zuerkennung internationalen Schutzes als auch die Anerkennung als Asylberechtigter.
Am 23. Juni 2015 wurde die Rechtsanwältin …, …, zum Vormund für den Antragsteller bestellt.
Bei Asylantragstellung wurde der Antragsteller bzw. sein Vormund darüber belehrt, dass der Antragsteller verpflichtet sei, den Anhörungstermin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) persönlich wahrzunehmen. Der Antragsteller wurde weiter darauf hingewiesen, dass es für das Asylverfahren nachteilige Folgen haben könne (Entscheidung ohne persönliche Anhörung), wenn er zum festgesetzten Anhörungstermin nicht erscheine, ohne vorher seine Hinderungsgründe rechtzeitig dem Bundesamt schriftlich mitgeteilt zu haben.
Mit Schreiben vom 14. Juni 2016 teilte das Bundesamt dem Vormund des Antragstellers mit, dass der Anhörungstermin auf den 27. Juni 2016 festgesetzt worden sei. Ein Zustellnachweis an den Vormund des Antragstellers findet sich in der vom Bundesamt vorgelegten Verfahrensakte nicht.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom 23. September 2016 wurde der Asylantrag des Antragstellers als zurückgenommen behandelt und dessen Asylverfahren eingestellt (Ziffer 1. des Bescheids). In Ziffer 2. wurde weiter festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen. In Ziffer 3. wurde der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Antragsteller die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Weiter wurde bestimmt, dass der Antragsteller auch in einen anderen Staat abgeschoben werden könne, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei. Ziffer 4. des Bescheides bestimmt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, dass der Asylantrag des Antragstellers als zurückgenommen gelte, da der Antragsteller das Verfahren nicht betreibe. Daher sei festzustellen, dass das Asylverfahren eingestellt sei (§ 32 Asylgesetz – AsylG). Der Antragsteller sei der Aufforderung zur Anhörung gemäß § 25 AsylG nicht nachgekommen. Daher werde vermutet, dass er das Verfahren i. S. d. § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 2. Altern. AsylG nicht betreibe. Ein Nachweis, worauf das Versäumnis zurückzuführen sei, sei nicht vorgelegt worden. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG zu erlassen.
Auf den weiteren Inhalt des Bescheides des Bundesamtes vom 23. September 2016 wird ergänzend Bezug genommen.
Der Antragsteller hat gegen den vorbezeichneten Bescheid am 4. Oktober 2016 zur Niederschrift beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg – Rechtsantragstelle – Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. September 2016 aufzuheben (Az. Au 5 K 16.32019). Über die vorbezeichnete Klage ist noch nicht entschieden worden.
Ebenfalls am 4. Oktober 2016 hat der Antragsteller zur Niederschrift beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg – Rechtsantragstelle – beantragt,
die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage anzuordnen.
Der Antragsteller hat vorgetragen, dass weder ihm persönlich, noch seiner damaligen Bevollmächtigten oder der Einrichtung Kinder-Jugend-Familienhilfe … der festgesetzte Anhörungstermin mitgeteilt worden sei.
Die Antragsgegnerin hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt. Eine Antragstellung ist im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht erfolgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die Akte des Verfahrens Au 5 K 16.32019 sowie auf die von der Antragsgegnerin vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag, gerichtet auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. des Bescheides vom 23. September 2016 (Az. Au 5 K 16.32019) ist begründet.
1. Der Antrag ist insbesondere statthaft. Der Klage kommt gemäß §§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, 75 Abs. 1, 28 Abs. 2 AsylG keine aufschiebende Wirkung zu, weil das Bundesamt das Asylverfahren des Antragstellers gestützt auf § 32 Satz 1 und § 33 Abs. 1 und 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG eingestellt hat. Eine Frist für die Stellung des diesbezüglichen Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes sieht das Asylgesetz nicht vor.
Für den Antrag besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis. Insbesondere lässt die dem Antragsteller gemäß § 33 Abs. 5 Satz 2 AsylG eröffnete Möglichkeit, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragen, das Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 20.7.2016 – 2 BvR 1385/16 – juris Rn. 8; VG Regensburg, B. v. 18.4.2016 – RO 9 S 16.30620 – juris Rn. 11 ff.; VG Ansbach, B. v. 3.6.2016 – AN 4 S 16.30588 – juris Rn. 13 ff.; VG Oldenburg, B. v. 22.6.2016 – 5 B 2876/16 – juris Rn. 21 ff.).
Der vorliegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage ist darauf gerichtet, den Antragsteller vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu schützen, die aufgrund der mit einer einwöchigen Ausreisefrist verbundenen Abschiebungsandrohung gemäß §§ 75 Abs. 1, 38 Abs. 2 AsylG bereits vor rechtskräftigem Abschluss des anhängigen Klageverfahrens möglich sind. Die Stellung eines Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens bietet dem Antragsteller keine gleichwertige Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen (vgl. VG Berlin, B. v. 29.4.2016 – 8 L 226/16.A – juris Rn. 9). Durch die Stellung eines solchen Antrages wird die Abschiebungsandrohung nach Afghanistan weder gegenstandlos noch suspendiert. Der Bescheid vom 23. September 2016 wird erst dadurch gegenstandslos, dass das Bundesamt entscheidet, das Verfahren fortzuführen (vgl. § 33 Abs. 5 Satz 5 AsylG), und im Anschluss an diese Entscheidung das Verfahren in dem Verfahrensabschnitt fortführt, in dem es eingestellt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Antragsteller rechtlich nicht vor einer Abschiebung nach Afghanistan geschützt.
2. Der Antrag erweist sich auch als begründet. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des mit der Klage (Az. Au 5 K 16.32019) angefochtenen Bescheids der Antragsgegnerin vom 23. September 2016, mit dem der Asylantrag des Antragstellers als zurückgenommen behandelt und dessen Asylverfahren eingestellt wurde. Damit überwiegt das Interesse des Antragstellers, vorläufig von den Wirkungen des kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Bescheids verschont zu bleiben, dass entgegenstehende öffentliche Interesse. Bei der gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage spricht vieles dafür, dass der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist und deshalb im Klageverfahren keinen Bestand haben wird.
Gemäß § 33 Abs. 1 AsylG gilt der Asylantrag als zurückgenommen, wenn der Ausländer oder die Ausländerin das Verfahren nicht betreibt. Das Nichtbetreiben wird gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG gesetzlich vermutet, wenn der Ausländer bzw. die Ausländerin einer Aufforderung zur Anhörung nach § 25 AsylG nicht nachgekommen ist. Diese Vermutung gilt nach Satz 2 der Vorschrift aber dann nicht, wenn unverzüglich nachgewiesen wird, dass das Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die der Asylbewerber oder die Asylbewerberin keinen Einfluss hatte. Gemäß § 33 Abs. 4 AsylG sind die Betroffenen auf diese Rechtsfolge schriftlich und gegen Empfangsbekenntnis hinzuweisen.
Die schwerwiegende Folge der Zurücknahme der Asylanträge und deren Einstellung setzt seitens des Antragstellers eine gröbliche Verletzung der Mitwirkungspflichten voraus, was wiederum nur dann der Fall ist, wenn dem Asylbewerber eine „besonders schwerwiegende“ Verletzung seiner Mitwirkungspflichten anzulasten ist, die „ohne weiteres“ den Schluss auf eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Asylrechts zulässt (vgl. Marx, Asylverfahrensgesetz, 8. Aufl. 2014, § 30 Rn. 59, Hailbronner, Ausländerrecht, Band 2, § 30 Asylverfahrensgesetz, Rn. 85, 94).
Ob der Antragsteller die gesetzliche Vermutung des § 33 Abs. 2 Nr. 1 AsylG entsprechend § 33 Abs. 2 Satz 2 AsylG widerlegen kann, kann vorliegend dahinstehen. Die gesetzliche Fiktion der Asylantragsrücknahme greift jedenfalls nicht, weil der Antragsteller nicht ordnungsgemäß über die Rechtsfolge des § 33 Abs. 1 AsylG belehrt wurde. § 33 Abs. 4 AsylG ist durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 am 17. März 2016 in Kraft getreten. Gleichwohl ist festzustellen, dass eine Belehrung des Antragstellers über die Rechtsfolge des § 33 Abs. 1 AsylG zu keinem Zeitpunkt erfolgt ist. Das Bundesamt hat mit der Belehrung über die Mitwirkungspflichten und der Mitteilung der allgemeinen Verfahrenshinweise bei Erstantragstellung nicht auf die mögliche Rechtsfolge der Verfahrenseinstellung bei Nichtbetreiben hingewiesen. In der damaligen Belehrung wurde nur der Hinweis erteilt, das Nichterscheinen zum Anhörungstermin könne für das Asylverfahren nachteilige Folgen haben, insbesondere könne eine Entscheidung ohne persönliche Anhörung ergehen. Dies entsprach der damaligen Rechtslage, da die geltende Fassung des § 33 AsylG erst am 17. März 2016 in Kraft getreten ist. Die Belehrung nach alter Rechtslage ist hingegen keine ausreichende Belehrung i. S. d. § 33 Abs. 4 AsylG, der ausdrücklich eine Belehrung über die Rücknahmefiktion selbst verlangt (vgl. VG Köln, B. v. 19.5.2016 – 3 L 1060/16.A -, juris Rn. 42; VG Oldenburg, B. v. 22.6.2016 – 5 B 2876/16 -, juris Rn. 20).
Jedoch wurde der erforderliche Nachweis i. S. d. § 33 Abs. 4 AsylG auch nachfolgend nicht erteilt. Der Ladung zur Anhörung vom 14. Juni 2016 ist jedenfalls ein solcher ausdrücklicher Hinweis nicht zu entnehmen. Auch insoweit ist lediglich ausgeführt, dass bei Nichtwahrnehmung des Termins über den Asylantrag ohne persönliche Anhörung entschieden werden kann, wenn nicht vorher rechtzeitig schriftlich dem Bundesamt Hinderungsgründe mitgeteilt wurden.
Überdies lässt sich eine Zustellung des Ladungsschreibens an die damalige Bevollmächtigte/Vormund des Antragstellers nicht nachweisen. In der von der Antragsgegnerin vorgelegten Verfahrensakte ist jedenfalls ein entsprechender Zustellungsnachweis nicht enthalten.
Bereits die unterbliebene Belehrung führt zur Rechtswidrigkeit der Einstellung des Asylverfahrens nach §§ 32, 33 AsylG und damit der erlassenen Abschiebungsandrohung. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut und der Systematik des § 33 AsylG. Die Hinweispflicht nach § 33 Abs. 4 AsylG schreibt nicht lediglich die Belehrung vor, sondern verlangt darüber hinaus, dass sie schriftlich und gegen Empfangsbestätigung zu erfolgen hat. Dieses Erfordernis, das Beweiszwecken dient, wäre überflüssig, wenn die Verfahrenseinstellung auch ohne vorherigen Hinweis rechtmäßig bliebe. Weiter bleibt zu berücksichtigen, dass die Annahme einer fiktiven Rücknahme Ausnahmecharakter besitzt und für den Schutzsuchenden weitreichende Konsequenzen entfaltet. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, dass dem Asylbewerber durch eine erläuternde Belehrung mit der gebotenen Deutlichkeit vor Augen geführt wird, welche Obliegenheiten ihn treffen und welche Folgen bei deren Nichtbeachtung entstehen können (vgl. BVerfG, B. v. 10.3.1994 – 2 BvR 2371/93 -, juris Rn. 21). Nur in diesem Fall sind die nachteiligen Folgen, die mit einer Rücknahmefiktion einhergehen, gerechtfertigt.
Da darüber hinaus keinerlei Nachweise vorliegen, dass der Antragsteller wirksam zur festgesetzten Anhörung am 27. Juni 2016 geladen worden ist, ist dem Antragsteller ein erneuter Termin zur persönlichen Anhörung nach § 25 AsylG einzuräumen.
Folglich erweist sich auch die auf der Grundlage von § 34 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung als rechtswidrig. Ein überwiegendes öffentliches Vollzugsinteresse vor Entscheidung in der Hauptsache liegt daher nicht vor.
Antragsgemäß war daher die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren Au 5 K 16.32019 anzuordnen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als im Verfahren unterlegen hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).