Verwaltungsrecht

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Überstellung nach Polen im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens wegen fehlender Zuständigkeit des Zielstaates der Abschiebungsanordnung

Aktenzeichen  M 9 S 16.51313

Datum:
1.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 12 Abs. 2, 4

 

Leitsatz

Besteht zwischen dem verfügenden Teil eines Verwaltungsaktes und dessen Begründung ein Widerspruch – hier: unterschiedliche Bezeichnung des Zielstaates der Abschiebung – geht die Verfügung vor, wenn sie eindeutig ist und einer Auslegung nicht bedarf. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (Az.: M 9 K 16.51312) der Antragsteller gegen Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 15. Dezember 2016 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die bevorstehende Überstellung nach Polen im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Die Antragsteller sind ukrainische Staatsangehörige und geboren am 14. März 1985, 27. Juni 2009 und 5. März 2012. Auf ihre Angaben im persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 4. Juli 2016 – Erstbefragung (vgl. die Niederschrift Bl. 2 – 5 der Bundesamtsakte) wird Bezug genommen. Sie hätten mit einem ungarischen Schengenvisum das Heimatland erstmalig am 16. Mai 2016 verlassen und seien über die Slowakei, Ungarn und Österreich nach Deutschland gereist, wo sie am 17. Mai 2016 angekommen seien und wo sie am 4. Juli 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) – Außenstelle … einen Asylantrag gestellt haben.
Am 22. Juli 2016 fand das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens – Zweitbefragung statt. Auf die Frage, ob es einen Mitgliedstaat gebe, in den sie nicht überstellt werden wollen, gab die Antragstellerin zu 1) an: In keinen anderen Staat. Befragt nach den Gründen gab sie an, für sie und für die Zukunft ihrer Kinder gebe es in Deutschland bessere Möglichkeiten. Sie wolle hier arbeiten. Auf Frage nach Belangen der Antragsteller im Hinblick auf ein mögliches Einreise- und Aufenthaltsverbot gab die Antragstellerin zu 1) an, ihre Mutter wohne in Offenburg und habe eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland. Ihre Mutter, die italienische Staatsangehörige sei, habe auch lange Zeit in Italien gelebt, sie selbst dagegen nicht.
Am 19. September 2016 richtete die Antragsgegnerin gestützt auf „Artikel 12 Absatz 2 oder 3 (gültiges Visum)“ (Bl. 56 der Bundesamtsakten) ein Aufnahmeersuchen nach der Dublin III-Verordnung an Ungarn. Mit Schreiben vom 9. November 2016, übersandt per E-Mail am 11. November 2016, teilten die ungarischen Behörden mit, dass die Antragsteller am 29. Februar 2016 vom ungarischen Konsulat in Berehova (Berehove, ungarisch: Beregszász) Schengen-Visa, gültig vom 2. März 2016 bis 1. März 2017, erhalten hätten. Daher werde das Aufnahmeersuchen akzeptiert und die ungarischen Behörden erklärten sich für die Bearbeitung der Asylanträge für zuständig.
Mit Bescheid vom 15. Dezember 2016 lehnte das Bundesamt die Anträge als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Polen an (Nr. 3). Die Nr. 4 des Bescheids enthält die Befristungsentscheidung hinsichtlich des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG. Zur Begründung der Entscheidung in Nr. 4 des Bescheids wird u.a. ausgeführt (S. 5 des Bescheids), dass sich die Anwesenheit der Mutter der Antragstellerin zu 1) in Deutschland nicht auswirke, da diese nicht zur Kernfamilie der Antragsteller gehöre. Auf den Bescheid und seine Begründung im Übrigen wird Bezug genommen.
Mit Begleitschreiben ebenfalls vom 15. Dezember 2016 wurde der Bescheid an die Bevollmächtigten der Antragsteller versandt. Einen Empfangsnachweis enthält die vorgelegte Bundesamtsakte nicht.
Die Antragsteller ließen mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 28. Dezember 2016, beim Verwaltungsgericht München eingegangen per Telefax am selben Tag, Klage erheben und beantragen, den Bescheid vom 15. Dezember 2016 aufzuheben.
Außerdem ließen sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragen.
Zur Begründung von Klage und Antrag wird auf den Schriftsatz Bezug genommen.
Die Antragsgegnerin legte die Behördenakten vor, äußerte sich in der Sache aber nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten in diesem und im dazugehörigen Klageverfahren und der Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Für das Gericht ist hinsichtlich der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblich (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG). Insbesondere kommen das AsylG und das AufenthG in den durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl I, S. 390), das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern sowie zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 (BGBl I, S. 394) und das Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl I, S. 1939) geänderten Fassungen zur Anwendung.
Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist davon auszugehen, dass er fristgerecht gestellt ist, § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die vorgelegten Behördenakten enthalten keinen Zustellungsnachweis. Der Vortrag des Bevollmächtigten der Antragsteller, dass ihm der Bescheid am 21. Dezember 2016 zugestellt worden sei, ist unter Berücksichtigung des zeitlichen Ablaufs nachvollziehbar; unter Zugrundelegung dieses Datums ist der Antrag noch fristgemäß.
Der Antrag ist auch begründet, denn die Klage in der Hauptsache hat in Bezug auf die für den vorläufigen Rechtsschutz allein relevante Abschiebungsanordnung Aussicht auf Erfolg. Das private Interesse der Antragsteller an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung überwiegt daher das öffentliche Interesse an der kraft Gesetzes bestehenden sofortigen Vollziehbarkeit.
Die Abschiebungsanordnung nach Polen in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids ist rechtswidrig, weil die Voraussetzungen gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht vorliegen.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 Var. 2 AsylG gilt, dass, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat anordnet, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
Polen ist bereits nicht der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedstaat, daher steht auch gerade nicht fest, dass die Abschiebung dorthin durchgeführt werden kann. Für die Durchführung des Asylverfahrens wäre vielmehr Ungarn i.S.v. § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG zuständig gewesen. Das ergibt sich aus Art. 12 Abs. 2 Dublin III-Verordnung, hier im Entscheidungszeitpunkt i.V.m. Art. 12 Abs. 4 Var. 2 Dublin III-Verordnung, da die Antragsteller mit einem von Ungarn ausgestellten Visum in den Schengen-Raum eingereist sind. Daher kann eine Abschiebungsanordnung mit Polen als Zielstaat nicht rechtmäßig sein; eine irgendwie geartete Verbindung der Antragsteller zu Polen ergibt sich aus den vorgelegten Behördenakten auch nicht. Aber auch unter Berücksichtigung der (damals) bestehenden Zuständigkeit Ungarns ändert sich am Ergebnis nichts. Denn hinsichtlich Ungarns liegt zwar die von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG geforderte erste Voraussetzung, dass es sich hierbei um den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat handelt, vor. Es fehlt aber an der weiteren Voraussetzung, dass das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat angeordnet hat. Die Anordnung der Abschiebung in einen anderen Staat als den gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG i.V.m. den Regelungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (= Dublin III-Verordnung) zuständigen Staat widerspricht dem eindeutigen Wortlaut in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Unabhängig davon steht angesichts der Falschbezeichnung des Zielstaats im streitgegenständlichen Bescheid auch nicht fest – was § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG aber auch noch verlangt -, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Denn weder würde Polen die Antragsteller übernehmen – schon mangels Zuständigkeit nicht – noch steht i.S.v. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass Ungarn die Antragsteller übernehmen würde. Denn trotz des von Ungarn erklärten Einverständnisses mit dem Aufnahmegesuch steht nicht fest, dass Ungarn die Antragsteller übernehmen würde unter Berücksichtigung des Umstands, dass für die Antragsteller tatsächlich nur ein Bescheid mit einer Abschiebungsanordnung nach Polen vorliegt.
Dass es sich bei der Bezeichnung des Zielstaates in der Abschiebungsanordnung im Bescheidstenor wohl lediglich um einen Irrtum oder einen Schreibfehler handelt, ändert am Ergebnis ebenso wenig wie der Umstand, dass in der Begründung des Bescheids zutreffend von einer Zuständigkeit Ungarns ausgegangen wird. Bereits nach allgemeinem Verwaltungs(verfahrens) recht ist entscheidend für den Inhalt eines Verwaltungsakts, hier die Abschiebungsanordnung, in erster Linie der verfügende Teil (vgl. nur Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Auflage 2014, § 35 Rn. 76 und § 43 Rn. 56), also der Bescheidstenor, da dieser den Verwaltungsakt im Sinne des Gesetzes darstellt; die Begründung stellt dagegen „nur“ einen formalen Teil des Verwaltungsakts dar (vgl. nur Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 8. Auflage 2014, § 39 Rn. 26 und § 37 Rn. 3). Im Falle dass – wie hier – zwischen dem Verwaltungsakt, also dessen verfügendem Teil, und seiner Begründung ein Widerspruch besteht, geht jedenfalls die Verfügung als solche ohne weiteres vor, wenn sie eindeutig ist und einer Auslegung unter Zuhilfenahme beispielsweise der Begründung des Bescheids nicht bedarf. Das ist hier der Fall. Darauf, dass bei der Bezeichnung des sog. Dublin-Zielstaats wegen der hierfür besonders hohen Anforderungen an die Bestimmtheit, Eindeutigkeit und Rechtsklarheit strengere Voraussetzungen als im „normalen“ Verwaltungsverfahrensrecht in Betracht zu ziehen sind, kommt es daher nicht an.
Schließlich ist zu bemerken, dass die Antragsgegnerin mit Schreiben des Gerichts vom 9. Januar 2017 (Bl. 22 der Gerichtsakte im Verfahren Az. M 9 K 16.51312; auf Bl. 23 befindet sich der Fax-Sendenachweis) auf die Rechtslage hingewiesen und gebeten wurde, mitzuteilen, ob der streitgegenständliche Bescheid aufgehoben wird. Die Antragsgegnerin hat es bis heute nicht für nötig befunden, hierauf zu antworten. Zu diesem Zeitpunkt wäre es wohl noch möglich gewesen, nach Aufhebung des hiesigen rechtswidrigen Bescheids innerhalb laufender Überstellungsfrist bezogen auf Ungarn einen neuen, rechtmäßigen Bescheid zu fertigen. Das ist inzwischen auf Grund des wohl eingetretenen Ablaufs der Überstellungsfrist bezogen auf Ungarn voraussichtlich nicht mehr möglich.
Da nach alledem davon auszugehen ist, dass der im Klageverfahren streitgegenständliche Bescheid in der Hauptsache aufzuheben sein wird, wird dem Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattgegeben und die aufschiebende Wirkung angeordnet.
Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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