Verwaltungsrecht

Wegen nicht ordnungsgemäßer Bekanntgabe des Asylbescheides erfolgreiche Kassationsklage

Aktenzeichen  M 19 K 17.36324

Datum:
20.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BtPrax – 2020, 40
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 104 Nr. 2
AsylG § 12
VwVfG § 43 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Geschäftsunfähigkeit setzt zunächst das Vorliegen einer irgendwie gearteten geistigen Anomalie voraus, wobei es weniger auf die Intensität der geistigen Störung ankommt, als vielmehr auf die Beeinträchtigung der Freiheit der Willensentschließung einschließlich der Fähigkeit zur Einsicht. (Rn. 15 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein einem Geschäftsunfähigen persönlich bekanntgegebener Verwaltungsakt ist fehlerhaft und nicht wirksam bekannt gemacht. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für … vom 23. März 2017 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
1. Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 23. März 2017 wurde nicht ordnungsgemäß bekannt gegeben. Er ist daher als sog. Scheinverwaltungsakt aufzuheben.
Die Klägerin ist nicht geschäftsfähig (a). Sie war demnach im Verwaltungsverfahren nicht handlungsfähig; sie konnte den im Verwaltungsverfahren auftretenden Rechtsanwalt zudem nicht wirksam bevollmächtigen. Der Bescheid wurde daher nicht wirksam bekannt gegeben (b). Der Bekanntgabefehler wurde auch nicht geheilt (c).
a) Die Klägerin steht seit dem 20. Februar 2017 unter Betreuung. Allein die gerichtliche Bestellung einer Betreuerin nimmt der Klägerin für sich genommen nicht die Geschäftsfähigkeit (vgl. Schwab in Münchner Kommentar zum BGB, 7. Aufl. 2017, § 1896 Rn. 148). Die Geschäftsfähigkeit ist nach § 104 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vielmehr eigenständig zu beurteilen. Hiernach ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Geschäftsunfähigkeit setzt zunächst das Vorliegen einer irgendwie gearteten geistigen Anomalie voraus. Die genaue medizinische Einordnung der krankhaften Störung der Geistestätigkeit ist ohne Bedeutung. Für die Anwendbarkeit des § 104 Nr. 2 BGB kommt es weniger auf die Intensität der geistigen Störung an, als vielmehr auf die Beeinträchtigung der Freiheit der Willensentschließung einschließlich der Fähigkeit zur Einsicht (vgl. Spickhoff in Münchener Kommentar zum BGB 8. Aufl. 2018, § 104 Rn. 11 f. m.w.N.).
Ein Ausschluss der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach den gewonnenen Erkenntnissen zu handeln. Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann. Willensschwäche und leichte Beeinflussbarkeit allein sind nicht ausreichend. Auch das Unvermögen, die Tragweite einer Willenserklärung zu ermessen, soll noch nicht dazu führen, Geschäftsunfähigkeit anzunehmen. Auch angeborener leichter bis mittlerer, früher sog. Schwachsinn soll zur Annahme der Geschäftsunfähigkeit nicht genügen, solange man noch einfache Geschäfte des täglichen Lebens besorgen kann (vgl. Spickhoff in Münchener Kommentar zum BGB 8. Aufl. 2018, § 104 Rn. 15 ff. m.w.N.). Der eine freie Willensbestimmung ausschließende Zustand ist keineswegs ausschließlich von (indes notwendigen) voluntativen Defiziten geprägt, sondern kann auch auf krankhaften intellektuellen Defiziten beruhen, wenn diese einer freien und nicht irrationalen, gewissermaßen unbeabsichtigt-unreflektierten „unvernünftigen“ Willensbildung entgegenstehen.
Hiernach erweist sich die Klägerin als geschäftsunfähig. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung konnte das Gericht die Überzeugung gewinnen, dass die Geistestätigkeit der Klägerin im Sinne der Vorschrift gestört ist und sie sich dauerhaft in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befindet. Die Klägerin war – auch unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten einer nur über eine Dolmetscherin vermittelte Kommunikation – kaum in der Lage, den einfachen Fragen des Gerichts zu folgen und diese zu beantworten. Sie konnte der Verhandlung und den maßgeblichen Fragen im Wesentlichen nicht folgen. Die Einvernahme ihres Bruders als Zeugen hat ergeben, dass die Klägerin auch einfache Geschäfte des täglichen Lebens grundsätzlich nicht selbst besorgen kann. Sie muss zur Beachtung einfacher hygienischer Verhaltensweisen angehalten werden, ist offenbar nicht in der Lage sich selbst Essen zuzubereiten oder Ernährungsvorgaben ihres Arztes auch nur ansatzweise selbständig zu befolgen. Das vorgelegte psychiatrische Gutachten vom 9. Dezember 2016 diagnostiziert insoweit plausibel eine schwere geistige Behinderung. Der Einschätzung des Gutachters, dass die Klägerin nur auf einfachstem Niveau frei bestimmen kann, auf der Basis ihrer sehr einfachen kognitiven Möglichkeiten durch die meisten Problemstellungen überfordert ist, durch schwere kognitive und mnestische Defizite beeinträchtigt und lebenslang umfänglich auf Hilfe angewiesen sein wird sowie nicht geschäftsfähig ist, schließt sich das Gericht daher an.
b) Die demnach geschäftsunfähige Klägerin ist im Verwaltungsverfahren nicht handlungsfähig (§ 12 Asylgesetz – AsylG). Die Handlungsfähigkeit ist jedoch Voraussetzung für die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens (vgl. Stelkens/Bonk/Sachs/Schmitz, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 12 Rn. 3). Entsprechend darf gegenüber einer Handlungsunfähigen die Beklagte ohne Einschaltung deren gesetzlichen Vertreters bzw. deren Betreuerin kein Verwaltungsverfahren durchführen und keinen unmittelbar ihm gegenüber belastendenden Verwaltungsakt erlassen (vgl. BVerwG, U.v. 31.7.1984 – 9 C 156/83 – NJW 1985, 576/577; BayVGH, U.v. 25.10.1983 – 11 B 83 A 496 – NJW 1984, 2845). Ein ihm persönlich bekanntgegebener Verwaltungsakt ist fehlerhaft und nicht wirksam bekannt gemacht (BVerwG, U.v. 31.7.1984 – 9 C 156/83 – NJW 1985, 576/577; Stelkens/Bonk/Sachs/Schmitz, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 12 Rn. 4). Nichts anders kann gelten, wenn die Bekanntgabe gegenüber einem mangels Geschäftsfähigkeit von der Klägerin nicht wirksam bestellten Rechtsanwalt erfolgt. Eine geschäftsunfähige Person kann keine rechtswirksame Vollmacht erteilen. Auch sind zu Lasten von Geschäftsunfähigen weder Duldungs- noch Rechtsscheinvollmachten möglich (vgl. Schubert in Münchner Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2018, § 167 Rn. 120). Schließlich kommt es wegen der Schutzbedürftigkeit handlungsunfähiger Personen auch nicht darauf an, ob die Beklagte die Geschäftsunfähigkeit kannte oder kennen musste (BayVGH, U.v. 25.10.1983 – 11 B 83 A 496 – NJW 1984, 2845).
c) Ein Bekanntgabefehler kann zwar durch Genehmigung der Betreuerin grundsätzlich geheilt werden (vgl. BVerwG, U.v. 31.7.1984 – 9 C 156/83 – NJW 1985, 576/577). Dies ist vorliegend aber nicht geschehen. Die am 20. Februar 2017 durch amtsgerichtlichen Beschluss eingesetzte Betreuerin hat den Bekanntgabefehler weder ausdrücklich noch konkludent genehmigt. Zwar hat die Betreuerin durch die am 10. Juli 2017 ausgestellte Vollmacht den im hiesigen Klageverfahren auftretenden Rechtsanwalt bevollmächtigt und damit dessen zunächst unwirksame, weil ohne wirksame Vollmacht vorgenommene Klageerhebung geheilt (vgl. VG Augsburg, GB v. 13.12.2004 – Au 3 K 04.1418 – juris Rn. 12). Gleiches dürfte auch für die Stellung des Asylantrags gelten. Eine konkludente Heilung des Bekanntgabefehlers liegt hierin aber nicht, da sich die Betreuerin im der mündlichen Verhandlung (über den bevollmächtigten Rechtsanwalt) gerade darauf berufen hat, dass es an der Geschäftsfähigkeit der Klägerin gefehlt habe. In diesem Fall kann in der Erteilung einer nachträglichen Prozessvollmacht keine Genehmigung der Bekanntgabe des Bescheids liegen (vgl. BVerwG, U.v. 31.7.1984 – 9 C 156/83 – NJW 1985, 576/577). Damit ist der Verwaltungsakt nicht wirksam geworden (§ 43 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG)
Dem Verwaltungsakt fehlt es mithin an einer ordnungsgemäßen Bekanntgabe. Es besteht folglich (nur) der Rechtsschein eines Verwaltungsakts. Diesen Rechtsschein gilt es durch Aufhebung zu beseitigen (vgl. Blunk/Schroeder JuS 2005, 602/606). Der Feststellungsantrag des Klägerbevollmächtigten ist insoweit als Aufhebungsantrag auszulegen.
Die Beklagte hat demnach erneut ein Verwaltungsverfahren durchzuführen und sicherzustellen, dass der das Verfahren abschließende und neu zu erlassende Bescheid der Betreuerin oder einem – von dieser bevollmächtigten – Vertreter bekannt gegeben wird. In der Sache wird im Rahmen des Verwaltungsverfahrens insbesondere zu würdigen sein, dass die Klägerin im Alltag umfänglich auf fremde Hilfe angewiesen ist. Insoweit wird zu prüfen sein, ob die Klägerin wegen ihrer Erkrankung und des Umstands, dass sich die bisher wesentlichen Betreuungs- und Bezugspersonen jedenfalls gegenwärtig in Deutschland aufhalten, Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG (zumindest in verfassungskonformer Anwendung) hat.
2. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen