Aktenzeichen M 15 E 16.35844
Leitsatz
1. Der Vortrag, die Sicherheits- und Versorgungslage habe sich erheblich verschlechtert, reicht allein nicht aus, um mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ein Asylfolgeverfahren durchzuführen ist. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG aufgrund des Gesundheitszustandes. Die Anforderungen an ein PTBS-Attest sind auf die Fälle von Depressionen nicht zu übertragen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine rezidivierende depressive Störung ist in Afghanistan wohl nicht ausreichend behandelbar (so auch BayVGH BeckRS 2012, 54740). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung dazu verpflichtet, eine bereits erfolgte Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG gegenüber der Ausländerbehörde vorläufig zu widerrufen bzw. – falls eine solche Mitteilung noch nicht erfolgt ist, es vorläufig zu unterlassen, gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde eine Mitteilung gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG vorzunehmen.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen seine für Anfang 2017 geplante Abschiebung nach Afghanistan.
Der Antragsteller, afghanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens, reiste am 6. August 2011 in das Bundesgebiet ein und stellte dort am 17. August 2011 einen Asylantrag.
Das Asylerstverfahren des Antragstellers wurde mit Bescheid des Bundesamtes für … (Bundesamt) mit ablehnendem Bescheid vom 12. Juli 2012 bestandskräftig abgeschlossen.
Am 27. September 2013 stellte der Antragsteller bei der Außenstelle München des Bundeamtes einen Asylfolgeantrag. Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass sich seit dem Erstverfahren eine neue Sachlage ergeben habe. So würden seine Eltern und seine Schwester nunmehr nicht mehr in Afghanistan wohnen, sondern seien in den Iran gezogen. Ferner legte er ein nervenärztliches Attest der Praxis … … … und … … vom 12. März 2014 vor. Darin wurden beim Antragsteller eine Depressive Episode, derzeit schwergradig (F32.G2), sowie Schlafstörungen (G47.9G) diagnostiziert.
Mit Bescheid vom 2. Dezember 2016 lehnte das Bundesamt den Asylfolgeantrag als unzulässig ab (Ziffer 1) und lehnte auch den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 12. Juli 2012 bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab (Ziffer 2). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Mit Schreiben vom 7. Dezember 2016 hat die Zentrale Ausländerbehörde Oberbayern gegenüber dem Antragsteller nach § 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG die Abschiebung angekündigt und ihn zum Widerruf der bestehenden Duldung angehört. Vor dem Hintergrund der bestehenden vollziehbaren Ausreisepflicht und der sich abzeichnenden Möglichkeit zur einfacheren Durchführbarkeit von Abschiebungen nach Afghanistan sei eine Aufenthaltsbeendigung zeitnah zu erwarten. Die Abschiebung sei nach Zustellung dieses Schreibens nach Ablauf von einem Monat ab Zustellung jederzeit möglich.
Mit Schriftsatz vom 20. Dezember 2016, bei Gericht am selben Tag eingegangen, ließ der Antragsteller durch seine Prozessbevollmächtigte Klage gegen den Bescheid des Bundesamts erheben mit dem Antrag, die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Bescheids vom 2. Dezember 2016 zu verpflichten, dem Antragsteller den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans festzustellen (M 15 K 16.35842).
Mit gleichem Schriftsatz beantragte die Prozessbevollmächtigte gemäß § 123 VwGO,
die Antragsgegnerin einstweilen dazu zu verpflichten, gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde die Mitteilung gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG zurückzunehmen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass der Antragsteller 2014 an einer schweren depressiven Episode erkrankt sei und sich seitdem in ärztlicher Behandlung befinde. Das Abklingen der depressiven Phase im August 2015 habe dazu geführt, dass der Antragsteller die Einnahme von Medikamenten beendet habe. Mit der Ablehnung des Aslyfolgeantrags und der Ankündigung der Abschiebung sei der Antragsteller nunmehr völlig dekompensiert, wie sich aus dem beigefügten Attest des Kompetenzzentrums Neurologie und seelische Gesundheit … vom 13. Dezember 2016 ergebe. Er müsse nunmehr wieder behandelt werden. Das beigefügte Attest diagnostiziert beim Antragsteller eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome (F33.2G). Nach dem Vortrag der Bevollmächtigten sei eine Behandlung dieser Erkrankung in Afghanistan nicht möglich. Zudem habe sich die allgemeine Lebenssituation und Sicherheitslage in Afghanistan zuletzt deutlich verschlechtert.
Da vorliegend im Falle einer Abschiebung unzumutbare Nachteile und schwere nicht wieder rückgängig zu machende Rechtsverletzungen drohten, sei vor der Entscheidung in der Hauptsache ein Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen unzulässig.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Es bestehen entscheidungserhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 2. Dezember 2016, soweit mit diesem die Abänderung des Bescheids vom 12. Juli 2012 bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt wurde.
Die Antragsgegnerin hat den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens mit Bescheid vom 2. Dezember 2016 abgelehnt, ohne eine weitere Abschiebungsandrohung zu erlassen (§ 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG). Daher verbleibt es bei der vollziehbaren Ausreisepflicht des Antragstellers nach Maßgabe des zuletzt ergangenen unanfechtbaren Bescheids der Antragsgegnerin vom 12. Juli 2012. Statthaft ist in dieser Konstellation ein Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO.
Der Antrag ist in der Sache darauf gerichtet, dem Bundesamt vorläufig zu untersagen, eine Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG an die Ausländerbehörde zu richten, wonach die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) nicht vorliegen, bzw. ihm vorläufig aufzugeben, eine entsprechend bereits gemachte Mitteilung einstweilen zu widerrufen. Der Antrag, den die Bevollmächtigte des Antragstellers dem Gericht vorgelegt hat, entspricht dieser Vorgabe zwar nicht im Wortlaut, aber in der Sache, und wird vom Gericht im Interesse des Antragstellers trotz anwaltlicher Vertretung entsprechend ausgelegt (§ 88 VwGO).
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antragsteller glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), dringend auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung angewiesen zu sein (Anordnungsgrund). Darüber hinaus muss er das Vorliegen eines materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) glaubhaft machen.
Angesichts des Umstandes, dass gegen den Antragsteller aufgrund der ablehnenden Entscheidung im Folgeverfahren und der bereits bestehenden Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 12. Juli 2012 nunmehr jederzeit die Rückführung betrieben werden kann und die zuständige Ausländerbehörde mitgeteilt hat, dass die Abschiebung zeitnah (ab Anfang Januar 2017) jederzeit möglich sei, besteht ein Anordnungsgrund.
Der Antragsteller hat auch mit der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Wahrscheinlichkeit das Vorliegen „ernstlicher Zweifel“ an der Rechtmäßigkeit der seitens der Antragsgegnerin getroffenen ablehnenden Entscheidung zur Frage des Bestehens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG geltend gemacht.
Gemäß § 71 Abs. 4 AsylG in Verbindung mit § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Abschiebung nur bei ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme ausgesetzt werden.
Ernstliche Zweifel im Sinne des auch im vorliegenden Fall entsprechend anwendbaren § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG bestehen, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 91 ff.). Prüfungsgegenstand ist dabei die Entscheidung, den früheren Bescheid zu § 4 AsylG bzw. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht abzuändern, weil die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht gegeben seien. Gemäß § 77 Abs. 1 AsylG ist für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen gem. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen. Nach diesem Maßstab bestehen hier ernstliche Zweifel an der angegriffenen Entscheidung der Antragsgegnerin. Denn vorliegend dürfte die Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG deshalb zu widerrufen sein, weil der Antragsteller nunmehr geltend gemacht hat, er leide an einer psychischen Erkrankung.
Damit bestehen entgegen den Ausführungen in dem angegriffenen Bescheid erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass sich die Sachlage zu Gunsten des Antragstellers verändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG). Voraussetzung hierfür ist, dass sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse oder Lebensbedingungen im Herkunftsstaat oder aber die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände verändert haben. Insoweit ist ausreichend, aber auch erforderlich, dass der Asylbewerber eine Änderung der Sachlage im Verhältnis zu der der früheren Asylentscheidung zugrunde liegenden Sachlage glaubhaft und substantiiert vorträgt (vgl. BVerfG, B.v. 13.3.1993 – 2 BvR 1988/92 – juris Rn. 23). Er muss darüber hinaus schlüssig darlegen, dass die veränderten tatsächlichen Umstände geeignet sind, eine ihm günstigere Entscheidung herbeizuführen.
Der zwar mit Quellen belegte, aber allgemein gehaltene Vortrag des Antragstellers, die Sicherheits- und Versorgungslage habe sich erheblich verschlechtert, reicht allein nicht aus, um mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ein Asylfolgeverfahren durchzuführen ist und ihm der subsidiäre Schutzstatus (§ 4 AsylG) oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG zuzuerkennen ist. Insoweit wird zunächst auf die Gründe des Bescheids des Bundesamtes vom 2. Dezember 2016 Bezug genommen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG). Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof München hat zuletzt im August 2016 entschieden, dass allgemeine Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage in Kabul, wohin eine Abschiebung des Antragstellers erfolgen würde, keinen Anlass bieten, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. In diesem Zusammenhang hat sich der BayVGH explizit auch mit den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom April 2016 auseinandergesetzt (BayVGH, B.v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – juris).
Die für den Erfolg des Antrags nach § 123 VwGO erforderlichen Voraussetzungen sind vorliegend bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung allerdings im Hinblick auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund des Gesundheitszustandes des Antragstellers gegeben: Der Antragsteller hat, soweit aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen ersichtlich, erstmals mit seinem Folgeantrag seinen psychischen Gesundheitszustand geltend gemacht und hierfür ein nervenärztliches Attest vom 12. März 2014 vorgelegt. Aus diesem geht hervor, dass der Antragsteller aktuell an einer depressiven Störung, schwere Episode (F32.2G) leidet.
Das Bundesamt hat die Ablehnung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf die geltend gemachte Erkrankung wohl zu Unrecht darauf gestützt, dass es das fachärztliche Attest vom 12. März 2014 an den Anforderungen gemessen hat, die das Bundesverwaltungsgericht für das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aufgestellt hat (U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – juris). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ist der Auffassung, dass sich aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht ableiten lasse, dass die Anforderungen an ein PTBS-Attest auf die Fälle von Depressionen zu übertragen seien. Soweit dieses in im Urteil vom 11. September 2007 darauf abgestellt habe, dass die Diagnose „depressive Symptomatik im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung“ ohne Nennung aufschlussreicher Anhaltspunkte für diesen Befund nicht nachvollziehbar begründet sei, ging es primär um eine PTBS (BayVGH, B.v. 26.5.2014 – 13a ZB 13.30310 – juris Rn. 5, B.v. 26.8.2014 – 13a ZB 14.30219 – juris Rn. 5; B.v. 30.3.2016 – 13a ZB 15.30248 – juris).
Sollte beim Antragsteller eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode (F33.2G) gegeben sein, wie dies im Attest vom 13. Dezember 2016 aufgeführt, ist eine solche in Afghanistan wohl nicht ausreichend behandelbar (so BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064 – juris zu einer rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Ausbildung).
Das Gericht verkennt nicht, dass die im Attest vom 13. Dezember 2016 aufgeführte Erkrankung in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Ablehnung des Folgeantrags und der Ankündigung aufenthaltsbeendender Maßnahmen seitens der Ausländerbehörde steht und dass der Antragsteller fast 17 Monate nicht in ärztlicher Behandlung gewesen ist und keine Medikamente eingenommen hat.
Bei der im Entscheidungszeitpunkt nur summarisch beurteilungsfähigen Sachlage hat das Gericht allerdings derzeit ernstliche Zweifel daran, dass die Entscheidung der Antragsgegnerin – die keine vertieften Ausführungen zur Situation des Antragstellers enthält und die auch auf jegliche Ausführungen zur Frage der Verfügbarkeit von therapeutischen und/oder medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten verzichtet – im Hauptsacheverfahren Bestand haben wird, da zumindest nach dem Erkenntnisstand des Eilverfahrens erhebliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers im Falle einer Rückführung akut und gravierend verschlechtern könnte.
Daher war dem Antrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).