Aktenzeichen 1 C 45/20
§ 22 S 1 AufenthG
§ 29 Abs 3 S 1 AufenthG
§ 30 Abs 1 S 1 Nr 3 Buchst c AufenthG
§ 30 Abs 1 S 1 Nr 3 Buchst d AufenthG
§ 30 Abs 1 S 1 Nr 3 Buchst e AufenthG
§ 30 Abs 1 S 1 Nr 3 Buchst f AufenthG
§ 30 Abs 1 S 1 Nr 3 Buchst g AufenthG
§ 6 Abs 3 S 1 AufenthG
§ 36 Abs 2 S 1 AufenthG
§ 36a Abs 1 S 1 AufenthG
§ 36a Abs 1 S 4 AufenthG
§ 36a Abs 2 S 1 Nr 1 AufenthG
§ 36a Abs 2 S 2 AufenthG
§ 36a Abs 3 Nr 1 AufenthG
§ 60 Abs 5 AufenthG
§ 60 Abs 7 AufenthG
Art 3 Abs 2 Buchst c EGRL 86/2003
Art 4 Abs 1 Buchst a EGRL 86/2003
Art 20 EUGrdRCh
Art 21 EUGrdRCh
Art 51 Abs 1 S 1 EUGrdRCh
Art 52 Abs 3 S 1 EUGrdRCh
Art 7 Abs 1 EUGrdRCh
Art 20 Abs 3 GG
Art 3 Abs 1 GG
Art 6 Abs 2 S 1 GG
Art 6 Abs 1 GG
Art 14 MRK
Art 8 Abs 1 MRK
Leitsatz
Eine Ehe ist nicht im Sinne des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG “vor der Flucht” geschlossen, wenn sie erst nach Verlassen des Herkunftslandes eingegangen wurde. Eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund ist im Lichte von Art. 6 Abs. 1 GG anzunehmen, wenn die für den Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG herangezogenen Gründe einen Ausschluss nach Art oder Reichweite nicht (mehr) rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – 1 C 30.19).
Verfahrensgang
vorgehend VG Berlin, 19. Juni 2020, Az: 38 K 495.19 V, Urteil
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihr ein Visum zum Zwecke des Nachzugs zu ihrem Ehemann zu erteilen.
2
Die im März 1994 geborene Klägerin und ihr im Februar 1976 geborener Ehemann sind sudanesische Staatsangehörige. Der Ehemann der Klägerin verließ die Republik Sudan nach eigenen Angaben im Mai 2010. Nach etwa dreijährigem Aufenthalt in Libyen reiste er im Oktober 2013 in das Bundesgebiet ein. Im Mai 2017 wurde ihm der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt. Seine gegen die Ablehnung des Asylantrags im Übrigen gerichtete Klage blieb ohne Erfolg. Die Ausländerbehörde des Beigeladenen erteilte ihm erstmals im Juli 2017 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG. In einem Merkblatt des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurde er darauf hingewiesen, dass die Möglichkeiten des Familiennachzugs vorübergehend eingeschränkt seien, ein Familiennachzug u.a. für Ehegattinnen erst nach dem 16. März 2018 wieder möglich sei.
3
Die Klägerin und ihr Ehemann, die sich eigenen Angaben zufolge im Jahr 2015 kennenlernten und verlobten, einander aber noch nicht begegnet sind, gingen im August 2017 die Ehe miteinander ein. Bei der Eheschließung im Sudan ließ sich der Ehemann der Klägerin vertreten (“Handschuhehe”).
4
Im Juli 2019 beantragte die Klägerin die Erteilung eines Visums zum Nachzug zu ihrem Ehemann. Der Beigeladene stimmte der Erteilung des Visums nicht zu. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Khartum lehnte den Antrag unter Hinweis auf den Ausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ab.
5
Das Verwaltungsgericht hat die insoweit erhobene Klage abgewiesen. Ein Anspruch der Klägerin auf Erteilung eines Visums aus § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen, weil diese die Ehe nicht bereits vor der Flucht ihres Ehemannes, sondern erst nach dessen Verlassen des gemeinsamen Herkunftslandes geschlossen habe. Der Regelausschlussgrund stehe in Widerspruch weder zu Unionsrecht noch zu Art. 6 Abs. 1 GG. Ebenso wenig verstoße er gegen Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 14 EMRK und Art. 20 GRC. § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG entfalte zudem eine mit Art. 20 Abs. 3 GG vereinbare unechte Rückwirkung. Eine atypische Situation, die eine Abweichung von dem Regelfall erfordere, sei in Bezug auf die Klägerin weder ersichtlich noch vorgetragen. Diese habe auch keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, da die Vorschrift auf den in den §§ 28, 30 und 36a AufenthG abschließend geregelten Nachzug zum subsidiär schutzberechtigten Ehegatten nicht anwendbar sei.
6
Die Klägerin nimmt zur Begründung ihrer Sprungrevision auf ein im März 2021 erstelltes Rechtsgutachten für “Pro Asyl” Bezug und macht unter anderem geltend, die Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei nicht nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen. Diese Norm benachteilige Ehegatten von subsidiär Schutzberechtigten gegenüber Ehegatten von Ausländern, die einen der in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. c, d und e AufenthG genannten Aufenthaltstitel besäßen. Sie verstoße zudem gegen das Rückwirkungsverbot. Ausländer, die – wie ihr Ehemann – nach dem 16. März 2016 und vor dem 31. Juli 2018 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erlangt und bis zum 31. Juli 2018 geheiratet hätten, hätten aufgrund von § 104 Abs. 13 AufenthG i.d.F. vom 17. März 2016 davon ausgehen dürfen, den Nachzug ihrer Familienangehörigen betreiben zu dürfen.
7
Die Beklagte verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts. Insbesondere sei die Erteilung eines Visums gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AufenthG durch § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ausgeschlossen. Dieser stehe im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK. Die Ungleichbehandlung gegenüber Ausländern, deren Angehörige nach § 30 AufenthG nachziehen dürften, sei durch unterschiedliche unionsrechtliche Verpflichtungen oder ein Interesse an einer Anwerbung dieser Ausländer sachlich gerechtfertigt. Eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG sei in Bezug auf die Klägerin nicht zu erkennen.
8
Der Beigeladene verteidigt ebenfalls das Urteil des Verwaltungsgerichts und führt ergänzend aus, es streite viel dafür, dass § 36a Abs. 1 AufenthG keine einklagbaren subjektiv-öffentlichen Rechte begründe.
9
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich nicht an dem Verfahren.