Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Syrien) – zuerkennend

Aktenzeichen  RO 11 K 16.33098

Datum:
7.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 57668
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3d, § 3e, § 4

 

Leitsatz

1. Dem Kläger droht jedoch als (bald) Wehrpflichtigen bei einer Rückkehr in seine Heimat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung. Angesichts der angespannten Lage in Syrien und des Mangels an Soldaten bei den syrischen Streitkräften geht das Gericht davon aus, dass eine erhöhte Gefährdungswahrscheinlichkeit auch bei jungen Syrern besteht, die – wie der Kläger – bald das wehrdienstpflichtige Alter erreichen werden. (Rn. 16 und 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer Rückkehr nach Syrien droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einziehung zum Wehrdienst und in Anknüpfung an eine unterstellte oppositionelle Gesinnung eine menschenrechtswidrige Behandlung. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid vom 17.11.2016 wird in Nr. 2 aufgehoben, soweit er dem entgegensteht.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht kann mit Einverständnis der Prozessparteien ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Beklagte hat mit der „Generalerklärung“ vom 27. Juni 2017 (Az. 234 – 7604/1.17) ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Der Kläger hat mit Schreiben vom 15.1.2018, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, ebenfalls auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Die zulässige Klage ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Dieser hat im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 Asylgesetz (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG.
Diese ist ihm zuzuerkennen, da er sich nach der Überzeugung des Gerichts aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen seiner vermuteten politischen Überzeugung außerhalb Syriens befindet, § 3 Abs. 1, 4 AsylG. Es kann dahingestellt bleiben, ob er Syrien wegen Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift verlassen hat, da ihm bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche droht, da er sich durch seinen Auslandsaufenthalt der drohenden Einberufung zum Militärdienst entzogen hat.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von
1. dem Staat,
2.Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder
3.nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, vgl. § 3e AsylG.
Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Es kommt auch nicht darauf an, ob er diese Merkmale tatsächlich aufweist. Vielmehr reicht es aus, wenn ihm diese von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG. Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt auch bei einer erlittenen Vorverfolgung der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG vom 1.6.2011 Az. 10 C 25.10). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut vor solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 Az. Au 2 K 14.30422). In der Vergangenheit liegenden Umständen kommt damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei.
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich ein solcher Nachfluchtgrund bereits daraus ergibt, dass der Kläger aus Syrien ausgereist ist, in Deutschland Asyl beantragt und sich seither hier aufgehalten hat (so z.B. VG Regensburg vom 29.6.2016 Az. RO 11 K 16.30707, RN 11 K 16.30723 und RN 11 K 16.30666). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs rechtfertigen diese Umstände alleine nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen jemanden bei einer Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer unterstellten politischen Überzeugung verfolgen (vgl. BayVGH vom 12.12.2016 Az. 21 B 16.30338, 21 B 16.30364 und 21 B 16.30371).
Dem Kläger droht jedoch als (bald) Wehrpflichtigen bei einer Rückkehr in seine Heimat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung. Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht deshalb, weil er sich durch seinen Auslandsaufenthalt dem Militärdienst entzogen hat (vgl. BayVGH vom 12.12.2016 Az. 21 B 16.30372). Rückkehrern im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige, Reservisten), die sich durch Flucht ins Ausland einer in der Bürgerkriegssituation drohenden Einberufung zum Militärdienst entzogen haben, droht bei der Einreise im Zusammenhang mit den Sicherheitskontrollen von den syrischen Sicherheitskräften, in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung, insbesondere Folter. Dies gilt unabhängig davon, ob die betreffende Person bereits einen Einberufungsbescheid erhalten hat oder nicht. In Syrien besteht eine allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts wird die Wehrpflicht durchgesetzt und es ist kaum möglich, sich dieser zu entziehen (vgl. Auskunft AA vom 2. Januar 2017 an VG Düsseldorf).
Der am … geborene Kläger ist zwar im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht volljährig. Er wird jedoch in nicht mal einem Jahr 18 Jahre alt. Angesichts der angespannten Lage in Syrien und des Mangels an Soldaten bei den syrischen Streitkräften geht das Gericht davon aus, dass eine erhöhte Gefährdungswahrscheinlichkeit auch bei jungen Syrern besteht, die – wie der Kläger – bald das wehrdienstpflichtige Alter erreichen werden.
Es ist weder erkennbar noch vorgebracht, dass der Kläger endgültig vom Militärdienst freigestellt ist (vgl. BayVGH vom 12.12.2016 Az. 21 B 16.30371). Hierzu lässt sich diesem Urteil folgendes entnehmen:
„Das System der allgemeinen Wehrpflicht beruht auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren. Männer, die 18 Jahre alt werden, müssen sich zur Generalrekrutierungsstelle begeben (Befragung, Foto, Bluttest). Danach wird ihnen ein Militärdienstbuch ausgehändigt. Bei Beginn des Militärdienstes müssen bei der Generalrekrutierungsstelle die zivilen Ausweise und das Militärdienstbuch abgegeben werden und der Betreffende erhält umgehend den Militärdienstausweis bevor er zu seiner Einheit entsandt wird. Wenn der Dienst absolviert ist, bekommt man „Entlassungspapiere“, die man bei der Generalrekrutierungsstelle abgibt und erhält den zivilen Ausweis und das Militärbuch – versehen mit dem Stempel, dass der Militärdienst geleistet und die Person entlassen wurde (vgl. Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada -Antworten auf Informationsanfragen v. 13. 8.2014, SYR104921.E, S.5).
Im August 2014 erließ Präsident Assad die Gesetzesverordnung Nr. 33, die einige Artikel der Verordnung Nr. 30 aus dem Jahr 2007 zum obligatorischen Militärdienst ersetzt. Dabei wurde unter anderem die Regel angepasst, dass der einzige Sohn der Familie vom Militärdienst befreit werden kann (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.3.2015, S. 5 f.). Die Freistellung wird im „Militärbüchlein“ festgehalten. Bis die Mutter 50 Jahre alt ist, muss die Freistellung jährlich neu beantragt werden. Danach gilt die Freistellung für immer (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als „einziger Sohn“, S. 1; Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada, Antworten auf Informationsanfragen SYR104921.E vom 13.8.2014, S. 2 f). … Der Senat ist davon überzeugt, dass diese Freistellung vom Militärdienst von den syrischen staatlichen Stellen auch vor dem Hintergrund des Charakters des um seine Existenz kämpfenden Staates (…) im Wesentlichen beachtet wird.“
Der Kläger gab bei seiner Anhörung beim Bundesamt an, noch vier Brüder zu haben – … (ca. 13 Jahre), … und … (ca. 10 Jahre) und … (ca. 9 Jahre) -, welche sich alle in Saudi-Arabien aufhielten. Der Kläger unterfällt damit nicht der „Einziger-Sohn-Regelung“. Die Beklagte ist dem nicht entgegen getreten. Es ist auch weder vorgebracht noch erkennbar, dass er aus anderen Gründen endgültig vom Militärdienst freigestellt wurde. Daher ist davon auszugehen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einziehung zum Wehrdienst und in Anknüpfung an eine unterstellte oppositionelle Gesinnung eine menschenrechtswidrige Behandlung droht.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Höhe des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.

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