Aktenzeichen M 26 K 17.40538
Leitsatz
1. Einem nicht unbedeutenden Initiator und Akteur der als Volksverteidigungsfront bezeichneten Bewegung der Hazara droht bei einer Rückkehr in die Provinz Wardak eine ernsthafte individuelle Bedrohung in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. (Rn. 14) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Ist nicht auszuschließen, dass ein afghanischer Asylbewerber als herausgehobener Repräsentanten der Sache der Hazara wahrgenommen wurde und er ein potentielles Ziel von Anschlägen bildet, ist ihm die Inanspruchnahme internen Schutzes nicht zumutbar. (Rn. 15) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Volkszugehörige der Hazara unterliegen in Afghanistan zwar noch einer gewissen Diskriminierung, sind aber weder in ganz Afghanistan noch in der Provinz Wardak einer an ihrer Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden, gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure ausgesetzt (VGH München BeckRS 2017, 101006). (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28.4.2017 wird in den Nrn. 3-6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger und die Beklagte je die Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
1. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO. Die im Übrigen zulässige Klage hat in der Sache in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Der Kläger hat im für die Entscheidung über die Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts erweist sich daher insoweit als rechtswidrig und war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben. Die Beklagte war zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
2. Bezüglich des Klägers liegen nach Ansicht des Gerichts die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG vor. Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht.
Die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens für jedermann aufgrund eines solchen Konflikts ist erst dann gegeben, wenn der bewaffnete Konflikt eine solche Gefahrendichte für Zivilpersonen mit sich bringt, dass alle Bewohner des maßgeblichen betroffenen Gebiets ernsthaft individuell bedroht sind. Es werden nur außergewöhnliche Situationen erfasst, die durch einen sehr hohen Gefahrengrad gekennzeichnet sind. Eine Individualisierung kann sich insbesondere aus gefahrerhöhenden persönlichen Umständen in der Person des Schutzsuchenden ergeben, die ihn von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen. Je mehr der Schutzsuchende zu belegen vermag, dass er aufgrund solcher individueller gefahrerhöhenden Umstände spezifisch betroffen ist, desto niedriger kann der erforderliche Grad willkürlicher Gewalt sein. Maßgeblicher örtlicher Bezugspunkt für die Beurteilung des Vorliegens der dargestellten Voraussetzungen ist die Herkunftsregion des Betroffenen, in die er typischerweise zurückkehren wird.
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat der Kläger glaubhaft darlegen können, dass er bei Rückkehr in seine Herkunftsregion (Provinz Maidan Wardak) der Gefahr einer ernsthaften individuellen Bedrohung in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt sein wird. Er hat glaubhaft dargelegt, dass er ein nicht unbedeutender Initiator und Akteur der von ihm in der Anhörung als Volksverteidigungsfront bezeichneten Bewegung der Hazara war, die er in ihrer Entwicklung von den Anfängen als einer Bewegung des Zivilschutzes gegen die Kuchi und Taliban bis hin zu einer Friedensgruppe, die sich um die Versöhnung zwischen den verfeindeten Akteuren im Jahre 2014 bemühte, nachgezeichnet hat. Er hat seine Angaben in der Anhörung vor dem Bundesamt glaubhaft dahingehend substantiiert, dass er als Logistiker und Versorger und auch Bewerber dieser Bewegung seine Person, seine Arbeit und auch finanzielle Mittel bereitgestellt hat. Das Gericht hält den Kläger seiner Persönlichkeit nach, wie sie sich in der mündlichen Verhandlung dargestellt hat, für glaubwürdig. Er hat in der mündlichen Verhandlung Bild- und Videomaterial zur Verfügung gestellt, welches dokumentiert, dass er sich politisch und auch medial für das Hazarajat an exponierter Stelle eingesetzt hat. Insofern liegen in seiner Person gefahrerhöhende Umstände vor, die ihn bei Rückkehr zusätzlich der Gefahr gezielter Gewalttaten aussetzen, so dass der erforderliche Grad einer zu befürchtenden ernsthaften individuellen Bedrohung erreicht wird.
Die Inanspruchnahme internen Schutzes nach § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3e AsylG ist in diesem Einzelfall nach Ansicht des Gerichts für den Kläger aus den oben dargelegten Gründen nicht zumutbar, da nicht auszuschließen ist, dass er in ganz Afghanistan als herausgehobener Repräsentant der Sache der Hazara wahrgenommen und als Ziel von Anschlägen ausgesucht werden wird.
3. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klage war insoweit abzuweisen.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgungshandlung (§ 3a AsylG) kann grundsätzlich nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG).
Ausgehend hiervon konnte das Gericht nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger vorliegen. Der Kläger konnte weder in der Anhörung vor dem Bundesamt noch in der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung konkrete ihn betreffende Verfolgungshandlungen, die auch eine erforderliche Mindestschwere aufweisen, durch die Taliban belegen. Dass seine Tätigkeit für die Hazara bereits zu solchen konkreten individuellen Verfolgungshandlungen geführt haben, konnte nicht dargelegt werden.
Eine Verfolgung allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara hat der Kläger nicht zu befürchten. Volkszugehörige der Hazara unterliegen in Afghanistan zwar noch einer gewissen Diskriminierung, sind aber weder in ganz Afghanistan noch in der Heimatprovinz der Kläger einer an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden, gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure ausgesetzt (BayVGH, B.v. 20.1.2017 – 13a ZB 16.30996 – juris Rn. 11 m.w.N.). Gemäß der aktuellen Auskunftslage hat sich die Lage für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara grundsätzlich verbessert (Lagebericht des Auswärtiges Amtes vom 19.10.2016, S. 9).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.