Verwaltungsrecht

Zuerkennung subsidiären Schutzes nach Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  M 17 K 16.35671

Datum:
21.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 4 Abs. 1

 

Leitsatz

Eine ausführliche, detaillierte und im Wesentlichen widerspruchsfreie Verfolgungsgeschichte ist geeignet, susidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG zu begründen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 8. Dezember 2016 wird in den Nrn. 3 bis 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Parteien tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung am 20. März 2017 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen war. Denn in der frist- und formgerechten Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und insoweit begründet, als der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG hat; Nrn. 3 bis 6 des Bescheids vom 8. Dezember 2016 sind insoweit rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO).
1. Das Bundesamt hat zu Recht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) abgelehnt.
1.1 Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d) Richtlinie 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. VG Ansbach, U.v. 28.4.2015 – AN 1 K 14.30761 – juris Rn. 65ff. m.V. auf: BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
1.2 Der Kläger hat sich hier auf eine Verfolgungsgefahr durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit seines Bruders bei der Polizei berufen. Dies begründet aber bereits mangels Anknüpfung an die dort genannten Merkmale keine Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG (vgl. a. VG Würzburg, U.v. 28.10.2016 – W 1 K 16.31835 – juris Rn. 33). Das Gericht folgt insoweit der zutreffenden Begründung der Beklagten im angegriffenen Bescheid, auf die verwiesen wird (§ 77 Abs. 2 AsylG).
2. Der Kläger kann nach Auffassung des Gerichts jedoch subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG beanspruchen.
2.1 Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt:
1.die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe,
2.Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder
3.eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Insbesondere wenn keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, ist für die Glaubwürdigkeit auf die Plausibilität des Tatsachenvortrags des Asylsuchenden, die Art seiner Einlassung und seine Persönlichkeit – insbesondere seine Vertrauenswürdigkeit – abzustellen. Der Asylsuchende ist insoweit gehalten, seine Gründe für eine Verfolgung bzw. Gefährdung schlüssig und widerspruchsfrei mit genauen Einzelheiten vorzutragen (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27.85 – juris).
2.2 Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt:
a) Der Kläger hat sowohl beim Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung am 20. März 2017 sehr ausführlich, detailliert und im Wesentlichen widerspruchsfrei geschildert, dass sein Bruder ein hochrangiger Offizier bei der Polizei gewesen sei, Drogenhändler verhaftet und die Taliban bekämpft habe. Er habe zahlreiche Drohungen der Taliban erhalten, die sowohl ihn selbst als auch seine Familie betroffen hätten, und bei einem Handgranatenangriff im Jahr 2015 auf sein Haus in Kabul, in dem auch der Kläger gelebt habe, sei die Frau des Bruders getötet worden. Diese Schilderungen sind nach dem Gesamteindruck, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, glaubwürdig. Insbesondere können sie nicht deshalb in Zweifel gezogen werden, weil der Kläger beim Bundesamt angegeben hatte, dass der Handgranatenangriff 2014 gewesen sei. Denn in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger nachvollziehbar ausgeführt, dass er bei der Anhörung beim Bundesamt sehr aufgeregt gewesen sei und deswegen einen Fehler gemacht habe.
b) Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln besteht für Familienangehörige von (hochrangigen) Personen, die mit der Regierung verbunden sind oder diese unterstützen, wie z.B. Polizisten u.ä., die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass diese als Vergeltungsmaßnahmen und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft von der Taliban angegriffen und entführt oder getötet werden (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan, Die aktuelle Sicherheitslage, Update vom 30.09.2016, S. 22; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 41, 47 f.; vgl. a. UNAMA, annual report 2016, S. 64ff.; VG München, U.v. 25.11.2016 – M 24 K 16.31412; VG Würzburg, U.v. 28.10.2016 – W 1 K 16.31835 – juris).
c) Da es sich bei dem Bruder des Klägers um einen hochrangigen Offizier der Polizei handelte, der die Taliban jahrelang bekämpfte und wiederholt Drohungen der Taliban auch gegenüber seiner Familie – und damit dem Kläger – erhielt, ist auch der Kläger selbst in das Blickfeld der Taliban geraten. Damit ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch die Taliban unterworden wird (vgl. VG Würzburg, U.v. 28.10.2016 – W 1 K 16.31835 – juris; VG Gelsenkirchen, U.v. 14.11.2013 – 5a K 2879/11.A – juris; jeweils zum Sohn eines Geheimdienstmitarbeiters).
Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass der Aufenthaltsort des Bruders nicht bekannt ist und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dieser tot ist. Gerade wenn der Bruder von der Taliban für die Verluste, die er ihnen zugefügt hat, nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist nachvollziehbar, dass diese an anderen ihnen bekannten Familienmitgliedern, wie dem Kläger, Vergeltung üben wird.
Gleiches gilt für den Umstand, dass der Kläger erst drei Monate nach dem Handgranatenangriff ausreiste. Der Kläger hat insoweit in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, dass er sich in dieser Zeit versteckt und das Haus nicht verlassen habe.
d) Schließlich kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kläger in Afghanistan z.B. in Kabul aufgrund der Anonymität dieser Großstadt eine inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG zur Verfügung steht, da der Handgranatenangriff auf das Haus der Familie gerade in Kabul erfolgte. Bestätigt wird dies durch den Umstand, dass nach den glaubhaften Schilderungen des Klägers die in Afghanistan verbliebene Mutter, die Ehefrau und das Kind des Klägers häufig den Wohnsitz wechseln, weil sie sich weiterhin bedroht fühlen (vgl. a. VG Würzburg, U.v. 28.10.2016 – W 1 K 16.31835 – juris Rn. 30 unter Bezugnahme auf das Gutachten von Dr. Danesch vom 30.4.2013).
Nach alledem war der Klage somit hinsichtlich § 4 AsylG (Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids) stattzugeben. Dementsprechend waren auch die Feststellung zu Abschiebungsverboten, die Abschiebungsandrohung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben (Nrn. 4 bis 6 des Bescheids).
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris); Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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