Verwaltungsrecht

Zulässigkeit einer Untätigkeitsklage im Asylverfahren bei Verstoß gegen Mitwirkungspflichten

Aktenzeichen  M 12 K 16.30420

Datum:
14.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 75
AsylG AsylG § 10, 24 Abs. 4
RL 2013/32/EU Art. 31
RL 2005/85/EG RL 2005/85/EG Art. 23

 

Leitsatz

Für die Frage, ob über einen Asylantrag in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist, bieten die in § 24 Abs. 4 AsylG in nationales Recht umgesetzte asylrechtliche Regelung des Art. 23 Abs. 2 S. 2 RL 2005/85/EG sowie die Regelung in Art. 31 Abs. 3 RL 2013/32/EU einen gesetzlichen Anhaltspunkt.  (redaktioneller Leitsatz)
Hat der Kläger vor mehr als 19 Monaten einen Antrag zur Durchführung des Asylverfahrens gestellt, sind die in § 24 Abs. 4 AsylG bzw. Art. 31 Abs. 3 S. 1 und S. 2 RL 2013/32/EU genannten sechs Monate bei weitem überschritten und eine angemessene Frist für eine Entscheidung über den Asylantrag des Klägers bereits abgelaufen.     (redaktioneller Leitsatz)
Hat der Kläger dadurch gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen, dass er die Änderung seiner Anschrift nicht mitgeteilt hat und ihm ein Fragebogen des Bundesamtes, der zu einer deutlichen Verkürzung des Asylverfahrens hätte führen können, nicht zugestellt werden konnte, liegt für die Nichtentscheidung des Bundesamtes daher ein zureichender Grund vor.  (redaktioneller Leitsatz)
Der Klage fehlt im Übrigen das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, weil die Entscheidung über den Asylantrag auf einfachere Weise durch die Mitwirkung des Klägers erreicht werden kann.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Verwaltungsstreitsache konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil sowohl der Klägerbevollmächtigte (Schreiben vom …2.2016) als auch die Beklagte (Schreiben vom 25.2.2016) auf eine solche verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage ist unzulässig, § 75 VwGO. Zwar ist die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 75 Satz 2 VwGO „angemessene Frist“ gegeben. Bis zu welchem Zeitpunkt die Frist für eine Entscheidung über einen Asylantrag noch als angemessen zu bewerten ist, lässt sich nicht verallgemeinernd beantworten, sondern ist von den Umständen des Einzelfalls abhängig (BVerwG, U.v.11.7.2013 – 5 C 23/12 D – juris – zur Frage der Unangemessenheit der Dauer eines gerichtlichen Verfahrens).
Bei der Beantwortung dieser Frage ist das, auch im elften Erwägungsgrund zur Richtlinie 2005/85/EG bzw. dem achtzehnten Erwägungsgrund zur Richtlinie 2012/32/EU zum Ausdruck kommende, Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einer schnellen und dem an einer inhaltlich richtigen Entscheidung von maßgeblicher Bedeutung. So liegt es gem. dem achtzehnten Erwägungsgrund zur Richtlinie 2013/32/EU sowohl im Interesse der Mitgliedsstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird. Es gilt daher im Asylverfahren, wie sich aus den europäischen Vorgaben (Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85/EG bzw. Art. 31 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU) ergibt, dass über den Antrag so rasch wie möglich entschieden werden soll. Dem gegenüber stehen das öffentliche Interesse (Art. 20 Abs. 3 GG) und das private Interesse des Antragstellers an einer inhaltlich richtigen Entscheidung. Dies kann je nach Einzelfall – abhängig von verschiedenen Einflussfaktoren – dazu führen, dass sich die Verfahrensdauer bis zu einer sachlichen Entscheidung über den Asylantrag verlängert.
Bei der Bewertung, ob eine Frist noch als angemessen i. S.v. § 75 Satz 1 VwGO anzusehen ist, spielt insbesondere der Schwierigkeitsgrad einer Entscheidung eine Rolle. Je komplexer sich die im Rahmen der Entscheidung über den Asylantrag ergebenden Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht darstellen, umso mehr Zeit ist der Behörde für die Entscheidung einzuräumen (vgl. Art. 31 Abs. 3 Satz 3 der Richtlinie 2013/32/EU zu der den Mitgliedsstaaten eingeräumten Möglichkeit der Fristverlängerung um höchstens neun Monate). Fristverlängernd kann sich auch das Verhalten des Antragstellers selbst auswirken. Verletzt er seine Mitwirkungspflicht aus § 15 AsylG und erschwert oder verhindert dadurch die Entscheidung der Behörde, kann dies auch die Angemessenheit einer längeren Frist begründen (vgl. Art. 31 Abs.3 Satz 3 lit.c) der Richtlinie 2013/32/EU).
Einen gesetzlichen Anhaltspunkt für die Bestimmung der Angemessenheit der Frist gem. § 75 Satz 1 VwGO im Bereich des Asylrechts bieten die in § 24 Abs. 4 AsylG in nationales Recht umgesetzte asylrechtliche Regelung des Art. 23 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2005/85/EG sowie die Regelung in Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU. So sieht Art. 23 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2005/85/EG vor, dass der Kläger nach sechs Monaten einen Auskunftsanspruch hat. Art. 31 Abs. 3 Satz 1 und 2 der Richtlinie 2013/32/EU sieht nunmehr vor, dass das Prüfungsverfahren innerhalb von sechs Monaten nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht wird. Vor diesem Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass eine angemessene Frist jedenfalls nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit der Asylantragstellung abgelaufen ist (so auch VG Regensburg, B.v.6.7.2015 -RN 1 K 15.31185 – juris). Ist die Entscheidung über den Asylantrag nicht binnen der vorgenannten Regelbearbeitungszeit von sechs Monaten seit Asylantragstellung getroffen worden, bedarf es regelmäßig bestimmter vom Bundesamt darzulegenden Gründe, die eine längere Bearbeitungszeit als angemessen erscheinen lassen. Gem. Art. 31 Abs. 3 Satz 3 der Richtlinie 2013/32/EU können die Mitgliedsstaaten die Sechsmonatsfrist um höchstens neun weitere Monate verlängern, wenn a) sich in tatsächlicher und/oder rechtlicher Sicht komplexe Fragen ergeben; b) eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, das Verfahren innerhalb von sechs Monaten abzuschließen; c) die Verzögerung eindeutig darauf zurückzuführen ist, dass der Antragsteller seinen Pflichten nach Art. 13 (der Richtlinie 2913/32/EU) nicht nachgekommen ist. Ausnahmsweise können die Mitgliedsstaaten die Fristen gemäß diesem Absatz in ausreichend begründeten Fällen um höchstens drei Monate überschreiten, wenn dies erforderlich ist, um eine angemessene und vollständige Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zu gewähren, Art. 31 Abs. 3 Satz 4 der Richtlinie 2013/32/EU. Gem. Art. 31 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32/EU können die Mitgliedsstaaten den Abschluss des Prüfungsverfahrens weiter aufschieben, wenn aufgrund einer aller Voraussicht nach vorübergehenden ungewissen Lage im Herkunftsstaat vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, innerhalb der in Absatz 3 festgelegten Fristen zu entscheiden. Die Mitgliedsstaaten schließen das Prüfungsverfahren in jedem Fall innerhalb einer maximalen Frist von 21 Monaten nach der förmlichen Antragstellung ab, Art. 31 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU.
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist im vorliegenden Fall eine angemessene Frist für eine Entscheidung über den Asylantrag des Klägers bereits abgelaufen. Der Kläger hat am 21. November 2014, mithin vor mehr als 19 Monaten, einen Antrag zur Durchführung eines Asylverfahrens beim Bundesamt gestellt (Bl. 12 BA), über den bis heute nicht entschieden ist. Damit sind die in § 24 Abs. 4 AsylG bzw. Art. 31 Abs. 3 Satz 1 und 2 der Richtlinie 2013/32/EU genannten sechs Monate bei weitem überschritten. Es ergeben sich keine Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass eine Entscheidungsfrist von mehr als 19 Monaten im vorliegenden Fall noch angemessen ist.
Es liegt aber gegenwärtig ein zureichender Grund im Sinne von § 75 Satz 2 VwGO für die fehlende Entscheidung über den Asylantrag des Klägers innerhalb einer angemessenen Frist vor, so dass die Klage unzulässig ist.
Das Bundesamt hat dem Kläger mit Postzustellungsurkunde an die ihm bekannte Adresse …-Straße … in … einen Fragebogen zugesandt mit dem Hinweis, dass anhand der darin vom Kläger gemachten Angaben die Möglichkeit besteht, das Asylverfahren deutlich zu verkürzen. Er wurde auch darauf hingewiesen, dass für Antragsteller aus Eritrea eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit besteht, internationalen Schutz zu erlangen (Bl. 36 BA). Die Postzustellungsurkunde kam mit dem Hinweis zurück: „Adressat unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln“.
Das Bundesamt hat den Fragebogen richtig adressiert. Gem. § 10 Abs. 1 AsylG hat der Kläger während der Dauer des Asylverfahrens vorzusorgen, dass ihn Mitteilungen des Bundesamtes, der zuständigen Ausländerbehörde und der angerufenen Gerichte stets erreichen können; insbesondere hat er jeden Wechsel seiner Anschrift den genannten Stellen unverzüglich anzuzeigen. Gem. § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG muss der Ausländer Zustellungen und formlose Mitteilungen unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, gegen sich gelten lassen, wenn er für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsbevollmächtigten benannt hat oder diesen nicht zugestellt werden kann. Der Kläger wurde über diese Vorschriften auch schriftlich belehrt (Bl. 16 BA).
Der Kläger muss daher die Zustellung des Fragebogens mit PZU am 25. Januar 2016 gem. § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG gegen sich gelten lassen, weil er die Änderung der Anschrift (… in …) dem Bundesamt nicht mitgeteilt hat. Der Kläger hat dadurch gegen seine Mitwirkungspflicht im Asylverfahren verstoßen. Für die Nichtentscheidung des Bundesamtes liegt daher ein zureichender Grund vor.
Im Übrigen fehlt der Klage auch das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, weil das Ergebnis – Entscheidung über den Asylantrag – auf einfachere Weise durch Mitwirkung des Klägers bei der Behörde erreicht werden kann. Ungeschriebene Voraussetzung für die Zulässigkeit einer jeden Inanspruchnahme des Gerichts ist das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis (BVerfGE 61,126/135). Für eine unnötige oder gar missbräuchliche Ausübung von Klagemöglichkeiten brauchen die Gerichte nicht zur Verfügung zu stehen. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis ist insbesondere dann nicht gegeben, wenn der Kläger sein Ziel auf anderem Wege schneller und einfacher erreichen könnte (Eyermann, VwGO; Kommentar, Vor §§ 40-53, Rn.11).
Die Behörde hat von sich aus die neue Adresse des Klägers (… in …) ermittelt (Bl. 54 BA) und dem Kläger den Fragebogen zur Beschleunigung des Verfahrens am 20. Februar 2016 erneut mit PZU zugeschickt (Bl. 69 BA).
Der Prozessbevollmächtigte hat zwar angegeben, der Kläger habe den Fragebogen ausgefüllt im Februar 2016 zurückgeschickt, in der Akte befindet er sich aber nicht. Es liegt in der Verantwortung des Klägers, den Zugang des Fragebogens bei der Behörde sicherzustellen. Dies hat er nicht getan. Der Klage vom … März 2016 fehlt daher das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, weil es einen einfacheren Weg gegeben hätte, über den Asylantrag schnell zu entscheiden, nämlich den Fragebogen vollständig zu übersenden und für dessen Zugang zu sorgen (Eyermann, a. a. O., Rn. 12).
Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff.ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen