Verwaltungsrecht

Zur aufschiebenden Wirkung einer unzulässigen Klage

Aktenzeichen  M 26 S 17.45648

Datum:
31.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 5 S. 3

 

Leitsatz

Ein Rechtsbehelf nach § 80 Abs. 1 VwGO entfaltet auch dann aufschiebende Wirkung, wenn er unzulässig und/oder unbegründet ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Klage des Antragstellers vom 10. Juli 2017 (Az. M 26 K 17.45647) gegen Nummer 5 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Mai 2017 im Zeitpunkt des vorliegenden Beschlusses aufschiebende Wirkung hat. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der zuständigen Ausländerbehörde sofort mitzuteilen, dass die Frage der Bestandskraft des Bescheides vom 26. Mai 2017 angesichts der anhängigen Klage M 26 K 17.45647 im Zeitpunkt der vorliegenden Eilentscheidung abweichend von der Abschlussmitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Juli 2017 nicht feststeht.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist seinen eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehöriger, tadschikischer Volkszugehörigkeit und schiitischen Glaubens. Er reiste am … September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … Mai 2016 einen Asylantrag.
Mit Bescheid vom 26. Mai 2017 erkannte das Bundesamt für … (Bundesamt) dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1 des Bescheids) und lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2). Auch der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Nr. 3). Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG lägen nicht vor (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung ende die Ausreisefrist 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte der Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Afghanistan oder in einen anderen Staat abgeschoben, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
Ausweislich der bei den Akten befindlichen Postzustellungsurkunde war der antragsteller unter der angegebenen Zustellanschrift A* … Str. … in A* … nicht zu ermitteln. Die Postzustellungsurkunde ging am 1. Juni 2017 wieder beim Bundesamt ein.
Mit Schreiben vom 11. Juli 2017 teilte das Bundesamt der Ausländerbehörde mit, dass der Asylantrag des Antragstellers nun unanfechtbar abgelehnt worden sei. Bestandskraft sei am 13. Juni 2017 eingetreten, da der Bescheid am 29. Mai 2017 als zugestellt gelte.
Gegen den Bescheid ließ der Antragsteller am 10. Juli 2017 Klage erheben. Zugleich beantragt er im gegenständlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, soweit Nr. 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Mai 2017 angefochten worden ist.
Weiterhin wird beantragt, die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Ausländerbehörde sofort mitzuteilen, dass die Frage der Bestandskraft dieses Bescheides vom 26. Mai 2017 angesichts der anhängigen Klage im Zeitpunkt der zu treffenden Eilentscheidung abweichend von der Abschlussmitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nicht feststeht.
Hilfsweise wird beantragt im Rahmen der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO die Beklagte zu verpflichten, den Bestandskraftvermerk zu widerrufen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller habe den Bescheid nicht erhalten, obwohl ihm von der Regierung von Oberbayern seit dem 10. Oktober 2016 die Asylunterkunft in der A* … Straße …, A* … … als Wohnsitz zugewiesen worden sei. Ausweislich der Meldebestätigung sei er am 17. Oktober 2016 dort eingezogen. Die erste Seite des Bescheides habe er dann am 3. Juli 2017 bei einem Besuch im Landratsamt erhalten. Die Namen der Bewohner würden von der Leitung der Unterkunft mit Aufklebern am Briefkasten angebracht; es gebe zwei Briefkästen für alle Bewohner. Da er seit dem 10. Oktober 2016 in dieser Unterkunft lebe, sei er sich ziemlich sicher, dass sein Name auf dem Briefkasten angebracht war. Dem Antragsteller seien unter der neuen Adresse A* … Str. … in A* … auch andere Schriftstücke wie beispielsweise seine Versichertenkarte und Mitteilungen der Schule zugestellt worden.
Das Bundesamt hat die Behördenakten vorgelegt, aber keinen Antrag gestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten – auch im Verfahren M 26 K 17.45647 – sowie die Behördenakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
1. Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nummer 5 des Bescheids des Bundesamts vom 26. Mai 2017 anzuordnen, war gemäß § 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers zunächst dahingehend auszulegen, dass die Feststellung begehrt wird, dass der Klage vom 10. Juli 2017 insoweit aufschiebende Wirkung zukommt (§ 80 Abs. 5 VwGO analog). Der so verstandene Antrag ist zulässig und begründet.
Da bezüglich der in Nr. 5 des angefochtenen Bescheides enthaltenen Abschiebungsandrohung im Klageverfahren von einer Anfechtungsklage auszugehen ist (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO), kommt grundsätzlich ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht. Allerdings hat vorliegend die Klage bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung (§ 75 Abs. 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 1 VwGO).
§ 80 Abs. 1 VwGO sieht für den Suspensiveffekt eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage neben der Einlegung bzw. Erhebung keine weiteren Tatbestandsvoraussetzungen vor. Folglich entfalten diese Rechtsbehelfe nach der herrschenden Meinung grundsätzlich auch dann aufschiebende Wirkung, wenn sie unzulässig und/oder unbegründet sind. Denn dies – also die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs – zu klären ist Aufgabe des Verwaltungs- bzw. Klageverfahrens. Neben den in § 80 Abs. 2 VwGO normierten Fallgruppen lassen die weit überwiegende Rechtsprechung und die herrschende Lehre, welchen sich die erkennende Einzelrichterin (§ 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG) vorliegend anschließt, eine Durchbrechung dieses Grundsatzes nur zu, wenn der gewählte Rechtsbehelf offensichtlich unzulässig ist (so bspw. BayVGH, B. v. 16. Juli 2002 – 10 CS 02.1548 – juris; vgl. zu den insoweit vertretenen Ansichten auch Eyermann, VwGO, Kommentar, 14. Auflage 2014, § 80 Rn. 13).
Trotz Ablaufs der Frist des § 74 Abs. 1 AsylG ist die in der Hauptsache erhobene Klage aber vorliegend jedenfalls nicht offensichtlich verfristet bzw. unzulässig, weil derzeit nicht mit Sicherheit feststeht, dass der Antragsteller die Zustellung des Bescheids mittels Postzustellungsurkunde am 1. Juni 2017 (der Postbedienstete hat auf der Urkunde kein Datum angegeben, so dass das Datum des Eingangs beim Bundesamt maßgeblich sein dürfte) gegen sich gelten lassen muss. Damit steht der Ablauf der Klagefrist des § 74 Abs. 1 AsylG am 15. Juni 2017 derzeit nicht mit Sicherheit fest. Bestehen Zweifel, ob der Hauptsacherechtsbehelf rechtzeitig eingelegt wurde, kann nicht von einer offensichtlichen Unzulässigkeit ausgegangen werden (OVG Magdeburg, B.v. 2.8.2012 – 2 M 58/12 – NVwZ-RR 2013, 85).
Nach § 10 Abs. 2 Satz 1 AsylG muss der Ausländer eine Zustellung unter der letzten Anschrift, die der jeweiligen Stelle aufgrund seines Asylantrags oder seiner Mitteilung bekannt ist, grundsätzlich gegen sich gelten lassen, wenn er – wie hier – für das Verfahren weder einen Bevollmächtigten bestellt noch einen Empfangsberechtigten benannt hat. Maßgebliche Anschrift ist insoweit unstreitig A* … Str. … in A* … An diese Adresse ist der angegriffene Bescheid ausweislich der Postzustellungsurkunde auch adressiert worden. Obwohl der Zustellungsversuch scheiterte, da der Antragsteller unter der vorstehend genannten Adresse nicht zu ermitteln war, muss er den Zustellungsversuch nach § 10 Abs. 2 Satz 4 AsylG grundsätzlich gegen sich gelten lassen. Kann eine Sendung dem Asylbewerber nicht zugestellt werden, so gilt die Zustellung nach dieser Vorschrift mit der Aufgabe zur Post als bewirkt, selbst wenn die Sendung als unzustellbar zurückkommt. Aufgrund dieser Bestimmungen gilt der Bescheid der Beklagten als spätestens am 1. Juni 2017 zugestellt, da die Postzustellungsurkunde an diesem Tag wieder beim Bundesamt einging.
Die Postzustellungsurkunde ist auch nach der Privatisierung der Deutschen Bundespost eine öffentliche Urkunde mit der sich aus § 173 VwGO, § 418 Abs. 1 ZPO ergebenden vollen Beweiskraft. Diese Beweiskraft erstreckt sich dabei vorliegend auch darauf, dass der Antragsteller unter der genannten Anschrift nicht zu ermitteln war.
Gemäß § 418 Abs. 2 ZPO ist aber der Beweis der Unrichtigkeit der mit der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen zulässig. Dieser Gegenbeweis erfordert, dass Tatsachen substantiiert vorgetragen werden, die den beurkundeten Sachverhalt widerlegen. Er ist durch qualifiziertes Bestreiten zu führen, indem die in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen nicht nur in Abrede gestellt werden, sondern ihre Unrichtigkeit substantiiert und schlüssig dargelegt wird (BSG, B.v. 28.9.1998 – B 11 AL 83/98 B -, juris).
Zwar vermag das Vorbringen des Antragstellers im vorliegenden Eilverfahren nach diesen Maßstäben die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde noch nicht zu erschüttern und dem Gericht die Überzeugung zu vermitteln, dass der Inhalt der Urkunde eine unzutreffende Tatsache wiedergibt, soweit es in ihr heißt, der Antragsteller sei am Tag des Zustellungsversuchs unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln gewesen. Der Antragsteller muss hierfür substantiiert und schlüssig darlegen, dass er erstens im Zeitpunkt der Zustellung tatsächlich (noch) unter der angegebenen Anschrift wohnhaft war, und dass er zweitens zu diesem Zeitpunkt ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen hatte, dass ihm Post dort auch zugestellt werden konnte. Dem genügen die bisher vorgelegten Unterlagen und die Angaben in der eidesstattlichen Versicherung noch nicht. Die vorgelegte Anmeldebestätigung bescheinigt nur den Tag des Einzugs und der Anmeldung unter der angegebenen Adresse, nicht jedoch, dass der Antragsteller auch im Zeitpunkt der Zustellung dort noch wohnhaft war. Soweit es in der eidesstattlichen Versicherung heißt, der Antragsteller sei sich „ziemlich sicher, dass sein Name auf dem Briefkasten angebracht war, weil er schon seit Oktober 2016 in der Unterkunft lebe“, bestätigt dies keineswegs, dass er während der Dauer des Asylverfahrens hinreichend Sorge dafür getragen hat, dass ihn u.a. Mitteilungen des Bundesamtes erreichen können (§ 10 Abs. 1 AsylG). Vielmehr impliziert dies, dass sich der Antragsteller insoweit allein auf die Leitung der Unterkunft verlassen hat. Nicht allzu aussagekräftig sind insoweit Fotos von der aktuellen Briefkastensituation (die im Übrigen teilweise nicht mit den Aussagen des antragstellers in der eidesstattlichen Versicherung übereinstimmt), da sich der Gegenbeweis auf die Verhältnisse am Tag der Zustellung beziehen muss. Soweit es schließlich in der eidesstattlichen Versicherung heißt, der Antragsteller habe „in dieser Zeit auch die Versichertenkarte und Mitteilungen der Schule erhalten“, werden weder konkrete Zustellungszeitpunkte genannt noch Schriftstücke oder die entsprechenden Umschläge vorgelegt.
Dennoch ist angesichts der Versicherung des Antragstellers, er habe tatsächlich in der Unterkunft gelebt und die Unterkunftsleitung habe die Namen der Bewohner stets an den Briefkästen angebracht, im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung nicht auszuschließen, dass der Antragsteller den Gegenbeweis hinsichtlich der o.a. Tatsachen im Klageverfahren führen kann und wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass dem Gericht aus einer Vielzahl von Verfahren Zustellungsfehler seitens der Post bei in Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber zu bewirkenden Zustellungen bekannt sind. Als Mittel für den Gegenbeweis kommen beispielsweise die Vorlage von dem Antragsteller zugegangenen Schriftstücken sowie Aussagen von Mitarbeitern der Unterkunft, des Landratsamts oder sonstiger Zeugen in Betracht. Das Gericht weist darauf hin, dass diesbezüglich vorliegend eine Amtsermittlungspflicht nicht besteht, sondern die Erschütterung der Beweiskraft zunächst dem Antragsteller obliegt. Abgesehen von der Beweiskraft der Postzustellungsurkunde und der Eigenart eines Gegenbeweises wäre es nicht sachgerecht, Gerichte und Behörden mit der Sachaufklärung über Umstände zu belasten, die einem Verfahrensbeteiligten unmittelbar zugänglich sind, weil sie seine eigenen Angelegenheiten betreffen (BSG, B.v. 28.9.1998, a.a.O.).
Von einer offensichtlichen Unzulässigkeit der Klage wegen Versäumung der Klagefrist kann nach den oben dargelegten Maßstäben nach alledem derzeit nicht ausgegangen werden.
2. Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes hat der Antragsteller gegenüber der Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO analog auch einen Anspruch darauf, die Wirkungen der jedenfalls derzeit (im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung) so nicht haltbaren Abschlussmitteilung des Bundesamtes vom 11. Juli 2017 rückgängig zu machen (vgl. dazu VG München, B. v. 26.4.2017 – M 17 S. 17.37173 – juris; VG München, B.v. 7.4.2017 – M 24 S. 17.35690 – bisher nicht veröffentlicht). Da den vorgelegten Akten des Bundesamts nicht zu entnehmen ist, dass die Abschlussmitteilung angesichts der erhobenen Klage inzwischen aufgehoben wurde, ist eine bevorstehende Vollstreckung nicht auszuschließen.
3. Da die Hauptanträge Erfolg haben, brauchte über den Hilfsantrag nicht entschieden zu werden.
4. Die Antragsgegnerin hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des (gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfreien) Eilverfahrens zu tragen.
5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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