Aktenzeichen M 30 K 17.70084
Leitsatz
1. Zentraler Bezugspunkt der Zumutbarkeitsprüfung zur inländischen Fluchtalternative ist der Begriff der “Niederlassung” in der beabsichtigten Zielregion, in der dem Kläger eine dauerhafte Wohnsitznahme objektiv möglich sein muss. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. In der Verfassung Sierra Leones sind die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen, Emigration und die Rückkehr verankert. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Sierra Leone gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Auch wenn die Lebensumstände als äußerst schwierig zu bezeichnen sind, ist davon auszugehen, dass sich ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann ein Existenzminimum erwirtschaften kann. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
I.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamts vom 24. November 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG hat, noch Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich einer Abschiebung des Klägers nach Sierra Leone vorliegen. Die auf der Ablehnung des Asylantrags als unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit 30tägiger Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG und dessen Befristung sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Es ist schon nicht glaubhaft gemacht, dass Ihm droht ein ernsthafter Schaden droht (1.1), jedenfalls besteht ein inländische Fluchtalternative (1.2).
1.1 Dem Kläger droht kein ernsthafter Schaden i.S.d § 4 Abs. 1 AsylG.
1.1.1 Nach § 4 AsylG ist subsidiärer Schutz einem Ausländer zuzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG).
Die Furcht vor Verfolgung sowie die Gefahr eines ernsthaften Schadens ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32). Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
Hinsichtlich einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Ausländer insbesondere hinsichtlich individueller Gründe für einen asylrechtlichen Schutzstatus befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung. Dabei sind die Herkunft, der Bildungsstand und das Alter des Asylsuchenden sowie sprachliche Schwierigkeiten zu berücksichtigen. Dem Ausländer obliegt es aber dennoch, gegenüber dem Tatsachengericht einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Daher ist Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ein geeigneter Vortrag, welcher den Asylanspruch hinsichtlich der in die eigene Sphäre des Asylsuchenden fallenden Ereignissen – insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen – lückenlos trägt (vgl. BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11).
Der Ausländer muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen; er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – NVwZ 1990, 171; BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – NVwZ 1985, 658; BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag sowie in Fällen, in welchen der Vortrag nach den Erkenntnismaterialien, der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, kann dem Asylsuchenden in der Regel nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. VGH Kassel, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris Rn. 15; VGH Mannheim, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris Rn. 35; BVerwG, B.v. 23.5.1996 – 9 B 273/96 – juris Rn. 2; B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – NVwZ 1990, 171; U.v. 8.2.1989 – 9 C 29/87 – juris Rn. 8; U.v. 23.2.1988 – 9 C 273/86 – juris Rn. 11; B.v. 12.9.1986 – 9 B 180/86 – juris Rn. 5; U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – NVwZ 1985, 658).
1.1.2 In Anwendung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG beim Kläger nicht vor. Das Gericht ist nicht überzeugt, dass dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Insoweit fehlt es an einem substantiierten und nachvollziehbaren klägerischen Vortrag.
Dem Kläger droht offensichtlich weder die Verhängung noch die Vollstreckung einer Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG). Der Kläger war zu keinem Zeitpunkt Rebell; im Übrigen hat die Regierung nach dem Ende des Bürgerkriegs eine Generalamnestie ausgesprochen.
Da der Bürgerkrieg beendet ist und sich Sierra Leone seit vielen Jahren im stabilen Frieden befindet, scheidet auch ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aus, der gerade einen internationalen oder innerstaatlichen Konflikt voraussetzt.
Dem Kläger droht auch keine Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Der Kläger ist im Jahr 1997 im Alter von 11-12 Jahren aus Sierra Leone ausgereist. Zwischen der Ausreise und dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung liegen 23 Jahre. Es ist im höchsten Maße unwahrscheinlich, dass der Kläger von Opfern seines Vaters bzw. dessen Verwandtschaft in Sierra Leone schon rein äußerlich wiedererkannt wird. Auch die Behauptung, der Vater sei als Rebell bekannt und trage wie der Kläger selbst einen bekannten Namen, führt zu keiner anderen Bewertung. Nach einer Auskunft des Auswärtigen Amts vom 17. Oktober 2005 scheinen sowohl Namen als auch Personen aus dem Bürgerkrieg nicht mehr im Gedächtnis der Bevölkerung zu sein. Es sei daher bei einer Rückkehr nach Sierra Leone grundsätzlich nicht mit Racheakten oder Repressalien zu rechnen. Es müsse jedoch damit gerechnet werden, dass ehemalige Kämpfer von Verwandten und vom Familienverbund nicht mehr akzeptiert und aufgenommen würden. Wie der Kläger selbst vorträgt hat er keinerlei Verwandtschaft mehr in Sierra Leone. Es droht ihm daher auch kein Ausschluss aus einem Familienverbund. Auch die Erzählung vom Tod des Freundes des Vaters ändert an der gerichtlichen Überzeugung nichts. Wie der Kläger selbst vorträgt, hat er die Geschichte von der Frau des Opfers erfahren. Diese hat den Tod ihres Mannes nicht selbst erlebt, sondern diesen später tot aufgefunden. Das Motiv der Tat bleibt daher offen. Gegen eine Racheaktion spricht dagegen vielmehr, dass die Frau von der Dorfgemeinschaft Unterstützung bei der Suche nach Ihrem Mann erhalten hat. Dies zeigt eine starke vorherrschende Integration des Paares in der Dorfgemeinschaft auf, was sicherlich dann nicht der Fall gewesen wäre, wenn die Menschen vor Ort rachsüchtig wären. Das Gericht ist daher überzeugt, dass der Kläger mit der Vergangenheit seines Vaters in dem Herkunftsland nicht konfrontiert wäre.
Die vom Kläger gemachten schriftlichen Ausführungen Opfer von Menschenhandel zu werden sind vage und letztlich bloße Vermutungen. Weder äußerte oder vertiefte der Kläger seine diesbezüglichen Befürchtungen in der Befragung vor dem Bundesamt, noch in der mündlichen Verhandlung. Menschenhandel betrifft besonders Frauen und Kinder; Zwangsarbeit ist insbesondere ein Problem ländlicher Regionen (USDOS – US Department of State- Sierra Leone 2019 Human Rights Report vom 11.03.2020; BFA – Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leine, Wien, 3.5.2017; BTI – Bertelsmann Stiftung´s Transformation Index 2016, Sierra Leone Country Report, S. 12).
1.2 Jedenfalls besteht eine inländische Fluchtalternative i.S.v. §§ 3e, 4 Abs. 3 AsylG, auf die der Kläger zu verweisen wäre. Es wäre dem Kläger in Bezug auf eine Bedrohung durch die Opfer seines Vaters bzw. deren Verwandten außerhalb der Stadt … zumindest in allen größeren Städten Sierra Leones möglich, unbehelligt zu leben.
Es erscheint bereits fraglich, ob der Kläger mit der Vergangenheit seines Vaters überhaupt an einem neuen Ort konfrontiert werden würde. Darüber hinaus steht es dem Kläger frei, auf Nachfragen Dritter über die Gewalttaten seines Vaters zu reden. Schließlich existiert in Sierra Leone auch kein ausreichendes Melderegister (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.10.2017). Wie das Auffinden von Rebellen aus dem Bürgerkrieg und ihren Angehörigen gelingen soll, vermag das Gericht trotz der verhältnismäßig geringen Landesgröße Sierra Leones nicht nachzuvollziehen. Der Aufwand diese Personen in ganz Sierra Leone zu suchen – ohne zentrales Melderegister und sonstige organisierte Strukturen – wäre für die Opfer des Bürgerkriegs bzw. ihre Verwandten enorm, vor allem im Vergleich zu der Chance, tatsächlich jemanden zu finden. Zudem ist diesen Personen bereits nicht bekannt, ob sich die gesuchte Person überhaupt in Sierra Leone aufhält. Dabei ist zu unterstellen, dass gewisse, immer wieder berichtete Vodoo-Praktiken u.ä. dem Bereich des Okkulten und des Aberglaubens zuzuordnen sind und zur Überzeugung des Gerichts nicht funktionieren.
1.2.1 Dem Kläger wäre es auch zumutbar, sich am Ort der inländischen Fluchtalternative den Lebensunterhalt zu verdienen.
Zentraler Bezugspunkt der Zumutbarkeitsprüfung ist der Begriff der „Niederlassung“ in der beabsichtigten Zielregion, womit – jedenfalls mittelfristig – eine dauerhafte Wohnsitznahme in der jeweiligen Zielregion gemeint ist, welche dem Kläger objektiv möglich sein muss und nicht an rechtlichen Zuwanderungsbeschränkungen scheitern darf (Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 5. Edition Stand: 1.7.2020, § 3e AsylG Rn. 36 f., 50). Unzumutbar ist eine Niederlassung jedenfalls dann, wenn dem Betroffenen in dem verfolgungssicheren Landesteil Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG drohen (Wittmann a.a.O Rn. 40; VGH BW, U.v. 16.10.2017 – A 11 S 512/17 – BeckRS 2017, 135067 Rn. 63 f.).
1.2.1.1 Dem Kläger ist es rechtlich möglich, sich an jedem Ort in Sierra Leone niederzulassen und diesen Ort auch tatsächlich zu erreichen. In der Verfassung Sierra Leones sind die uneingeschränkte Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes, Auslandsreisen, Emigration und die Rückkehr verankert. Die Regierung respektiert diese Rechte üblicherweise (USDOS – U.S. Department of State – Sierra Leone 2019 Human Rights Report vom 11.3.2020), wenngleich es Berichte gibt, dass die Polizei Straßensperren nutzt um Geld von Reisen für die Weiterfahrt zu erpressen (USDOS – U.S. Department of State – Sierra Leone 2018 Human Rights Report vom 13.3.2019). Zwar erschweren solche Formen staatlicher Korruption ein Fortkommen innerhalb des Landes. Erkenntnismittel dafür, dass es den Menschen in Sierra Leone gänzlich unmöglich wäre innerhalb des Landes zu reisen oder die „Straßensperren“ ein Ausmaß, welches die üblicherweise im Land vorhandene Korruption übersteigen würde, liegen nicht vor.
1.2.1.2 Dem Kläger ist auch eine – jedenfalls mittelfristig – dauerhafte Niederlassung an einem anderen Ort als seinem Heimatort objektiv möglich.
1.2.1.2.1 Eine Unzumutbarkeit der Niederlassung ergibt sich vorliegend nicht aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. Es ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr nach Sierra Leone unmenschlichen Verhältnissen i.S.v. Art. 3 EMRK ausgesetzt würde. Es wird dem Kläger trotz der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Sierra Leone möglich sein, sein Existenzminimum zu sichern. Ein außergewöhnlicher Fall, wonach unter dem allgemeinen Gesichtspunkt schwieriger humanitärer Bedingungen im Herkunftsland von einer Abschiebung entsprechend den Anforderungen des Art. 3 EMRK „zwingend“ abzusehen wäre, liegt nicht vor.
Sierra Leone gehört trotz seines Rohstoffreichtums zu den ärmsten Ländern der Erde.
Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. Sierra Leone ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,1 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 539,2 US-Dollar (Stand Oktober 2019) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 181 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch. Die Jungendarbeitslosigkeit ist ein besonderes Problem (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2016 – Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2016). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 60,3% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert. Der Dienstleistungssektor trägt mit 32,4% und der Industriesektor mit 5,2% zum Bruttoinlandsprodukt bei. Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnlichen Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 – 11 A 633/05.A – juris Rn 28). Die Lebensumstände in Sierra Leone sind also als äußerst schwierig zu bezeichnen. Man geht aber davon aus, dass sich ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann in Sierra Leone ein Existenzminimum – wenn auch nur durch Gelegenheitsjobs – erwirtschaften kann. (vgl. VG Regensburg, U.v. 11.02.2019 – RN 14 K 17.3514 – juris).
Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
Auch angesichts der aktuellen Covid-19-Pandemie liegen keine Erkenntnisse vor, dass sich die Verhältnisse in Sierra Leone derart verschlechtert haben, dass es dem Kläger unzumutbar wäre, sich am Ort der inländischen Fluchtalternative den Lebensunterhalt zu verdienen.
Die tatsächlichen individuellen Umstände des Klägers werden es ihm daher ermöglichen, trotz dieser humanitären Verhältnisse in Sierra Leone seinen Lebensunterhalt zu sichern. Zwar war der Kläger seit seinem 11. bzw. 12. Lebensjahr nicht mehr im Herkunftsland, doch spricht er eine der Landessprachen Sierra Leones. Dem Kläger ist es auch möglich sich mit seiner Mutter, zu der er regelmäßigen Kontakt hat, über Besonderheiten des Landes auszutauschen und diese in Erfahrung zu bringen.
Der Kläger hat in Libyen als Schreiner gearbeitet und in Deutschland seit 2015 als Küchenhilfe eine Anstellung gefunden. Damit hat der Kläger gezeigt, dass er sich auch in immer wieder neuen Situationen, trotz seiner sehr schlechten Lese- und Schreibfähigkeiten und geringen Schulbildung von 3 Schuljahren, anpassen und den daraus erwachsenden Herausforderungen stellen kann.
Der Kläger ist gesund und niemanden zum Unterhalt verpflichtet. Es kann von ihm erwartet werden, dass er in Sierra Leone eine Erwerbstätigkeit aufnimmt, insbesondere aufgrund seiner langen Berufserfahren als Schreiner, und er somit in der Lage ist, sich ein Existenzminimum zu sichern. Der Kläger wäre auch nicht von der in Sierra Leone besonders stark verbreiteten Jugendarbeitslosigkeit betroffen, sondern könnte sich durch seine Berufserfahrung auf dem dortigen Arbeitsmarkt behaupten. Auch das Alter des Klägers (35. Lebensjahre) spricht nicht gegen eine Möglichkeit sich in Sierra Leone eine Existenz aufzubauen. Zwar ist der Altersdurchschnitt der Bevölkerung in Sierra Leone weitaus jünger als jener in Deutschland, doch zählen auf dem Arbeitsmarkt die Berufserfahrung und Fertigkeiten des Arbeitswilligen mehr, als dessen Alter.
1.2.1.2.2 Eine Unzumutbarkeit der Niederlassung ergibt sich vorliegend nicht aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
1.2.1.2.2.1 Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erfasst sind davon nur solche Gefahren‚ die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind‚ während Gefahren‚ die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben‚ nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Zudem muss es sich um eine einzelfallbezogene und individuell bestimmte Gefährdungssituation handeln, für die eine auf bestimmte Tatsachen gestützte beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht (Zimmerer in Decker/Bader/Kother, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 5. Edition Stand: 01.07.2020, § 60 AufenthG Rn. 32; Göbel-Zimmermann/Mausch/Hruschka in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 60 Rn. 71).
Dafür, dass der Kläger im Hinblick auf die Lebensbedingungen in Sierra Leone bei einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, wie es für die ausnahmsweise Annahme von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich wäre, ist allerdings nichts ersichtlich. Der Kläger ist gesund. Er ist in der Lage sich eine Existenz aufzubauen und zu sichern. Soweit der Kläger geltend macht, ihm drohe eine Gefahr in Zwangsarbeit oder den Menschenhandel zu geraten, bleibt der klägerische Vortrag vage und oberflächlich; im Übrigen wird auf obige Ausführungen verwiesen.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich ebenfalls nicht aufgrund der Covid-19-Pandemie. Unabhängig von der Regelung in § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG, wonach es bei allgemeinen Gefahren einer – vorliegend nicht bestehenden – Anordnung nach § 60a Abs. 1 AufenthG bedürfte, wäre der Kläger nicht über das allgemeine Risiko hinaus in besonderer Weise gefährdet, insbesondere nicht derart, dass er „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder Verletzungen ausgeliefert würde“ (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 – 9 ZB 14.30457 – juris Rn. 11; OVG NRW, B.v. 17.12.2014 – 11 A 2468/14.A – juris Rn. 14). Bei dem Großteil der Bevölkerung verläuft eine vom Coronavirus verursachte Erkrankung in der Regel eher mild. Ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben ältere Personen und Personen mit Vorerkrankungen, auch wenn schwere Verläufe auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung auftreten können und auch bei jüngeren Patienten beobachtet wurden (vgl. Steckbrief des RKI, Stand 7.8.2020, https://www.rki.de/DE/ Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html, Stand: 19.8.2020). Der Kläger ist gesund und gehört zu keiner Risikogruppe.
Darüber hinaus wird die Ausländerbehörde etwaige Veränderungen in den humanitären Verhältnissen Sierra Leones vor einer Abschiebung prüfen und ggf. berücksichtigen müssen
1.2.1.2.2.2 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht dem Kläger keine erheblich konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit. Der Kläger ist gesund und arbeitsfähig. Es ist nicht zu erwarten, dass er nach seiner Rückkehr dem baldigen Hungertod ausgeliefert wäre.
1.2.1.2.3 Eine dauerhafte Niederlassung ist auch aus sonstigen Umständen nicht unzumutbar. Insbesondere aus den vorgetragenen Krankheiten ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese den Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit und Lebensgestaltung derart einschränken werden, dass diesem eine – jedenfalls mittelfristig – dauerhafte Niederlassung unzumutbar wäre.
2. Insofern besteht auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK; auf obige Ausführungen wird verwiesen.
3. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor; auf obige Ausführungen wird verwiesen.
4. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung nach § 77 Abs. 2 AsylG, insbesondere hinsichtlich der Ausreisefrist von 30 Tagen und der Abschiebungsandrohung nach §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie dem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG, Bezug genommen.
II.
Die Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
III.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.