Aktenzeichen W 1 K 16.32558
AufenthG § 60 Abs. 5
AsylG § 3, §§ 3a – 3e
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1
Leitsatz
1 Dass eine afghanische Hausfrau nicht alle Einzelheiten der beruflichen Tätigkeit ihres Ehemannes sowie Details von diesem gegenüber ausgesprochenen Bedrohungen kennt, erscheint vor dem Hintergrund der afghanischen Gesellschaftsverhältnisse, in denen sich eine Ehefrau in aller Regel nur um den Haushalt kümmert, plausibel. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es erscheint nicht lebensnah, dass Personen, ohne dass sie ernsthaften asylrelevanten Gefahren ausgesetzt sind, ihr wirtschaftlich angenehmes Leben in Afghanistan aufgeben, um sich auf eine sehr gefahrenträchtige Flucht zu begeben und dann im Zielland in der wirtschaftlichen und sozialen Hierarchie wieder „ganz unten anzufangen“. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3 Nach der Erkenntnismittellage wurden Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der afghanischen Regierung oder der internationalen Gemeinschaft verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, in Afghanistan gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
4 Es liegen keine stichhaltigen Gründe dafür vor, dass die vorverfolgten Kläger im Falle einer Rückkehr nunmehr sicher wären. Die Taliban sind in der Lage, ihre Gegner auch andernorts in Afghanistan grundsätzlich aufzuspüren. (Rn. 22 und 26) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. November 2016 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten.
Gründe
Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist auch begründet. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 30. November 2016 ist daher, soweit er noch Gegenstand der Klage ist und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling i.S.d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl I S. 2780 ff.) geändert worden ist (AsylG), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.
1. Die Klägerin zu 1) hat vorliegend substantiiert, lebensnah und ohne Steigerungen oder Übertreibungen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass ihr Ehemann bereits früher wegen seiner beruflichen Tätigkeit in Kunduz für die Organisation C. (C.), die Kredite an arme Menschen vergeben habe, bedroht worden sei. Die Familie sei aufgrund dieser Bedrohungen gezwungen gewesen, aus der Provinz Baghlan nach Kabul zu ziehen. Dort sei der Ehemann dann aufgrund seiner Tätigkeit, bei der er wiederum mit Ausländern zusammengearbeitet habe, telefonisch erneut bedroht worden. Nachdem sich die Bedrohungslage nicht wie erhofft gebessert habe, sondern die Bedrohungen im Gegenteil zugenommen hätten, habe sich die Familie dann schließlich zur Flucht entschlossen. Man habe dem Ehemann angedroht, dass er und seine Familie aufgrund der Zusammenarbeit mit den Ausländern umgebracht würden.
Die Klägerin zu 1) hat auf den erkennenden Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung einen in jeder Hinsicht glaubwürdigen und überzeugenden persönlichen Eindruck gemacht. Sie hat vorstehend skizziertes Vorbringen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung bis auf unwesentliche Details übereinstimmend und widerspruchsfrei vorgetragen. Auf Fragen und Vorhalte des Gerichts konnte sie stets ohne Zögern nachvollziehbare und authentische Antworten geben. Dass die Klägerin zu 1) bei ihren Schilderungen nicht zu allen Einzelheiten der beruflichen Tätigkeit ihres Ehemannes sowie den einzelnen Bedrohungen detaillierte Ausführungen gemacht hat, steht der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben nicht entgegen, da sie die Bedrohungen selbst nicht mitbekommen hat, sondern diese stets nur gegenüber dem Ehemann geäußert wurden. Sie sei nur Hausfrau und wisse daher lediglich, dass der Ehemann mit Ausländern zusammengearbeitet habe und zwar in der Verwaltung der Firmen. Dieses Vorbringen erscheint vor dem Hintergrund der afghanischen Gesellschaftsverhältnisse, in denen sich – wie hier – eine Ehefrau in aller Regel nur um den Haushalt kümmert, auch plausibel. Der geschilderten Bedrohungslage steht auch nicht entgegen, dass die Kläger nicht bereits unmittelbar zu Beginn der Bedrohungen in Kabul ausgereist sind, sondern zunächst noch mehrere Monate zugewartet haben. Dies erscheint dem Gericht lebensnah nachvollziehbar, nachdem die Klägerin zu 1) hierzu erläutert hat, dass sie immer gehofft hätten, dass die Bedrohungen weniger würden. Stattdessen seien diese mehr geworden seien, so dass man sich dann schließlich zur Flucht entschieden habe. Auch der Ehemann der Klägerin zu 1) hat in Übereinstimmung hierzu erklärt, dass gerade die letzte Drohung sehr intensiv gewesen sei, so dass die Familie daraufhin dann geflohen sei.
Dass die für die Ausreise letztlich kausalen Drohanrufe (auch) in zeitlicher Nähe zur Ausreise stattgefunden haben, ergibt sich nicht nur aus der Anhörung in der mündlichen Verhandlung, sondern auch bereits aufgrund der Ausführungen der Klägerin zu 1) vor dem Bundesamt, bei der diese u.a. davon berichtet hat, dass ihr Ehemann aufgrund der telefonischen Drohungen öfters sehr bedrückt gewesen sei, was sie auf wenige Wochen vor der Ausreise datiert hat. Soweit die Klägerin zu 1) vor dem Bundesamt angegeben hat, dass der Ehemann ca. zwei Monate vor der Ausreise aufgehört habe zu arbeiten, während sie in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass er bis drei oder vier Tage vor der Flucht seiner Tätigkeit nachgegangen sei, so stellt dies die Glaubhaftigkeit des Verfolgungsvorbringens nach Überzeugung des Gerichts nicht infrage. Sie hat vielmehr vor Gericht explizit erklärt, dass die seinerzeitige Angabe nicht korrekt gewesen und daher zu korrigieren sei und sie dies damals gegebenenfalls falsch gesagt habe oder ihre Aussage falsch übersetzt worden sei. Aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung hält das Gericht die Aussage der Klägerin zu 1) vor Gericht für glaubhaft, auch unter Berücksichtigung dessen, dass ihr ihre Ausführungen vor dem Bundesamt rückübersetzt worden sind. Es ist in diesem Zusammenhang auch zu bedenken, dass es sich bei dem fraglichen Gesichtspunkt der Beendigung der Tätigkeit des Ehemannes nicht um ein zentrales Element des Fluchtgeschehens handelt, sondern lediglich um einen das Gesamtgeschehen begleitenden Umstand, bei dem sicherlich leichter Unsicherheiten oder Fehler in der Darstellung der früheren Erlebnisse auftreten können. Auch hat die Klägerin zu 1) bereits vor dem Bundesamt angegeben, dass ihr Ehemann „bis fast zum Schluss“ gearbeitet habe, was eher für eine Beendigung der Tätigkeit nur wenige Tage vor der Ausreise spricht.
Der Ehemann der Klägerin zu 1), der sich seit Ende 2017 nunmehr auch in Deutschland aufhält und ebenfalls einen Asylantrag gestellt hat, wurde in der mündlichen Verhandlung als Zeuge vernommen und hat übereinstimmend mit dem Vorbringen seiner Ehefrau die Bedrohungen gegenüber seiner Person wie auch den Klägern im hiesigen Verfahren geschildert. Er hat insoweit auch glaubhaft und widerspruchsfrei vorgetragen, wie er bereits in Kunduz wegen seiner Tätigkeit für C. bedroht worden sei, daraufhin seinen Job aufgegeben habe und Ende 2010/Anfang 2011 mit der Familie nach Kabul gezogen sei. In der Zeit in Kabul habe er in verschiedenen Firmen gearbeitet, die mit den Amerikanern und anderen Ausländern Geschäfte gemacht hätten, insbesondere A. und M. Beide Firmen hätten unter anderem als Geschäftsfeld gehabt, (gepanzerte) Fahrzeuge für die Amerikaner auf der US-Airbase in B. sowie für andere ausländische Auftraggeber in Afghanistan zu vermieten. Der Ehemann der Klägerin war hierbei auch in hochrangigen Positionen bei diesen Firmen beschäftigt, nämlich als Finance Manager bzw. Managing Director. Ab Juli 2015 sei es dann auch in Kabul zu telefonischen Drohanrufen gekommen. Ihm sei dabei mitgeteilt worden, dass er ungläubig sei, da er mit den Amerikanern zusammenarbeite. Er würde diese durch seine Tätigkeit schützen, weshalb er umgebracht werden müsse. Er und seine gesamte Familie hätten nicht mehr das Recht zu leben. Insgesamt habe er im Zeitraum von Juli 2015 bis Ende November 2015 in unregelmäßigen Abständen insgesamt ca. 13-15 derartige Anrufe bekommen. Bei der letzten Bedrohung habe der Anrufer viele Informationen über die Familie gehabt, so u.a. auch, wann und wo seine Kinder zur Schule gehen würden. Diese letzte sehr intensive Drohung sei dann der Anlass gewesen, 3-4 Tage später aus Afghanistan auszureisen.
Die Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin zu 1) wie auch ihres Ehemannes wird nach Überzeugung des Gerichts auch dadurch bestätigt, dass der Ehemann im Laufe des gerichtlichen Verfahrens Firmenausweise der Firmen C. und A. sowie Arbeitsverträge bei der Firma M. ab dem 1. September 2013 vorgelegt hat. Das Gericht hat keinen Anlass, an deren Echtheit zu zweifeln; auch die Beklagte hat diesbezüglich nichts Gegenteiliges im Verfahren vorgebracht. Überdies hat der Kläger erklärt, dass er im September 2015 einen Antrag auf Schutzerteilung in den USA über das Programm „Special Immigrant Visa“ bei der amerikanischen Botschaft gestellt habe. In diesem Zusammenhang hat er ein Empfehlungsschreiben seines ehemaligen Arbeitgebers A. vorgelegt sowie ein Schreiben des amerikanischen Botschafters in Kabul vom 13. Juni 2017, wonach der Ehemann der Klägerin als Konsequenz aus der Anstellung bei oder im Auftrag der amerikanischen Regierung oder der ISAF ernsthafte Bedrohungen erfahren hat/erfährt.
Die Glaubhaftigkeit des Vorbringens sowie deren persönliche Glaubwürdigkeit wird nach Überzeugung des Gerichts zusätzlich dadurch gestützt, dass die Klägerin zu 1) und ihr Ehemann die Lebenssituation der Familie unisono dergestalt geschildert haben, dass sie in Afghanistan wirtschaftlich sehr gut gelebt und dort ein sorgenfreies Leben geführt hätten, was sich nicht zuletzt auch aus der Höhe des Gehalts des Ehemannes laut der vorgelegten Arbeitsverträge ergibt. Der Ehemann der Klägerin zu 1) hat diesbezüglich in der mündlichen Verhandlung sodann weiter erklärt, dass sie ihr Heimatland sicherlich nicht verlassen und die Flucht auf sich genommen hätten, wenn sie nicht tatsächlich in Gefahr gewesen wären. Dies erscheint plausibel; umgekehrt erscheint es nicht lebensnah, dass Personen, ohne dass sie ernsthaften Gefahren der in § 3a AsylG beschriebenen Art ausgesetzt sind, ihr wirtschaftlich angenehmes Leben im Herkunftsland aufgeben, um sich auf eine sehr gefahrenträchtige Flucht zu begeben und dann im Zielland in der wirtschaftlichen und sozialen Hierarchie wieder „ganz unten anzufangen“.
Die vorgetragenen Bedrohungen stehen überdies mit der Erkenntnismittellage zu Afghanistan in Einklang, da afghanische Zivilisten, die mit der Regierung oder den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, von regierungsfeindlichen Kräften bedroht oder angegriffen werden, was auch für den Fall gelten kann, wenn eine bestimmte Tätigkeit bereits beendet worden ist (vgl. UNHCR-Richtlinien vom 19.4.2016, S. 43 f.).
Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass nicht nur der Ehemann der Klägerin zu 1), sondern auch diese selbst und ihre Kinder entsprechend dem geschilderten Inhalt der Drohanrufe unmittelbar mit dem Tod bedroht worden und daher vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist sind. Anders kann man auch den drohenden Hinweis auf die Erkenntnisse zum Privatleben der Kläger, etwa dazu, wo und wann sie in die Schule gehen, nicht verstehen. Die Bedrohung für sämtliche Kläger in eigener Person haben die Klägerin zu 1) durchgängig vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie ihr Ehemann als Zeuge übereinstimmend vorgetragen. Dies entspricht überdies der Erkenntnismittellage, wonach auch Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder der internationalen Gemeinschaft verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, gemäß dem Prinzip der Sippenhaft zur Vergeltung angegriffen oder sogar getötet worden sind (vgl. UNHCR Richtlinien vom 19.4.2016, S. 47).
Angesichts der Vorverfolgung der Kläger in Afghanistan kommt diesen die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie zugute. Diese Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Kläger eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie im Fall einer Rückkehr in ihr Heimatland erneut von einer Verfolgung bedroht sind. So wird den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigemessen und der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann nur durch stichhaltige Gründe entkräftet werden.
Im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan sind vorliegend jedoch keine stichhaltigen Gründe dafür ersichtlich, dass die Kläger dort vor einer erneuten Verfolgung der vorgetragenen Art und deren Realisierung in Form ihrer Tötung nunmehr sicher wären, § 4 Abs. 4 EU-Qualifikationsrichtlinie. Insbesondere spricht nicht gegen eine erneute Verfolgung, dass der Ehemann der Klägerin zu 1) seine Tätigkeit inzwischen aufgegeben hat. Sowohl die Klägerin zu 1) wie auch ihr Ehemann haben gleichförmig und glaubhaft in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass er nicht nur aufgefordert worden sei, seine Tätigkeit zu beenden, sondern dass er wegen seiner Tätigkeit für die Amerikaner und andere Ausländer bestraft werden müsse. Dass die Drohung ausschließlich für den Fall der Fortführung der Tätigkeit ausgesprochen worden wäre, lässt sich dem und auch dem Vorbringen der Klägerin zu 1) beim Bundesamt nicht entnehmen; ein Widerspruch ist insoweit nicht ersichtlich. Vielmehr erscheint es selbstverständlich, dass die Anti-Regierungskräfte von dem Ehemann der Klägerin zu 1) auch fordern, seine in ihren Augen missliebige und bestrafungswürdige Tätigkeit zu beenden. Daher droht den Klägern auch bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan Verfolgung i.S.d. § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG.
2. Darüber hinaus besteht eine kausale Verknüpfung zwischen der geschilderten drohenden Verfolgung und dem Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung, §§ 3a Abs. 3, 3b Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 AsylG. Die Drohanrufe wurden aufgrund der Zusammenarbeit des Ehemanns der Klägerin zu 1) mit ausländischen Regierungen und anderen ausländischen Organisationen vorgenommen. Diese Zusammenarbeit steht ersichtlich in Widerspruch zur Grundhaltung und Überzeugung der regierungsfeindlichen Kräfte in Afghanistan, insbesondere der Taliban, nach deren Überzeugung eine solche Verbindung und Unterstützung ausländischer Kräfte streng verpönt und verboten ist. Hierbei ist unerheblich, ob der Ehemann und Vater der Kläger tatsächlich eine oppositionelle Einstellung gegenüber den Taliban sowie anderen Anti-Regierungskräften vertritt, da diese ihm zumindest eine solche entgegenstehende politische Überzeugung zuschreiben, wie sich aus dem glaubhaft geschilderten Inhalt der Drohanrufe eindeutig ergeben hat, § 3b Abs. 2 AsylG. Da die Familienmitglieder in denselben Anrufen gleichfalls aufgrund der Tätigkeit des Ehemanns und Vaters bedroht worden sind, ist es offensichtlich, dass die entgegenstehende politische Überzeugung im Sinne einer Sippenhaft auch den hiesigen Klägern als Familienmitgliedern zugeschrieben wird.
3. Die Verfolgung geht vorliegend von nichtstaatlichen Akteuren i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG aus, wobei es unerheblich ist, welche der vielfältigen in Afghanistan tätigen regierungsfeindlichen Organisationen vorliegend die Drohungen tatsächlich vorgenommen hat (wobei es durchaus lebensnah erscheint, dass der Verfolger seine Identität nicht preisgibt). Auf Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG durch den afghanischen Staat können die Kläger nicht verwiesen werden, da dieser erkennbar nicht in der Lage ist, für die Sicherheit der Kläger zu sorgen. Die Polizei und die Sicherheitskräfte sind in Afghanistan vielmehr nicht in der Lage, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen vielmehr häufig ohne Sanktionen (vgl. etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes, 19.10.2016, S. 5, 17).
4. Ebenso können die Kläger auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verwiesen werden. Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zum Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hierbei sind die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsland und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen.
Das Gericht geht – unter Berücksichtigung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie – davon aus, dass die Kläger im vorliegenden Fall an keinem Ort innerhalb Afghanistans internen Schutz erlangen können; eine Verfolgung droht den Klägern vielmehr landesweit. Diese Einschätzung stützt sich insbesondere darauf, dass die Familie bereits aufgrund einer früheren Bedrohung ihren Wohnsitz von der Provinz Baghlan nach Kabul verlegen musste und der Ehemann der Klägerin zu 1) und in der Folge die Kläger trotz der Anonymität der Großstadt Kabul von den regierungsfeindlichen Kräften aufgespürt und mit dem Tode bedroht worden sind. Es ist bei dieser Sachlage auch davon auszugehen, dass die Familie spätestens nunmehr, nachdem der Ehemann und Vater erneut mit Ausländern zusammengearbeitet und diese dadurch unterstützt hat, direkt ins Visier der Anti-Regierungskräfte geraten ist. Er hat damit in eklatanter Weise gegen deren Ideologie, insbesondere der Taliban und des IS, verstoßen. Der Ehemann und Vater der Kläger und in der Folge diese selbst weisen damit ein erkennbar erhöhtes Risikoprofil für eine weitere Verfolgung und entsprechende Vergeltungsmaßnahmen auf. Sie sind aufgrund der Vorgeschichte in einer Weise exponiert, dass sie als hochrangige Angriffsziele anzusehen sind. Diese Einschätzung wird überdies auch dadurch gestützt, dass der Ehemann der Klägerin zu 1) bei seinen Arbeitgebern stets sehr hochrangige Positionen bekleidet hat und er sowie seine Familie auch dadurch in besonderer Weise exponiert sind. Zudem hat der Ehemann der Klägerin zu 1) glaubhaft angegeben, dass er früher bereits in verschiedenen Provinzen gearbeitet hat (vgl. Aktenvermerk des Ehemanns der Klägerin vom 23.1.2017), so dass er und in der Folge seine Familie auch von größerer Bekanntheit sind und die Kläger damit leichter auch in anderen Regionen Afghanistans aufgefunden werden können. Das Gericht geht davon aus, dass dann, wenn die Kläger selbst in Kabul erneut ins Visier der Taliban geraten sind, dies für das gesamte Staatsgebiet Afghanistans zu gelten hat. Dem steht – wie bereits ausgeführt – nicht entgegen, dass der Ehemann der Klägerin seine Tätigkeit zwischenzeitlich aufgegeben hat, da er sowie die Kläger aufgrund der früheren herausgehobenen Tätigkeit weiterhin im Fadenkreuz der Anti-Regierungskräfte stehen. Die Verfolgerorganisation, mutmaßlich die Taliban, ist jedenfalls zumindest in der Lage, ihre Gegner auch andernorts in Afghanistan grundsätzlich aufzuspüren (Dr. D., Gutachten an das OVG Lüneburg vom 30.4.2013, ACCORD: „Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen“ vom 15. Februar 2013).
Nach alledem war der Klage stattzugeben und die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr.11, 711 ZPO.