Verwaltungsrecht

Zuständigkeit der BRD nach Ablauf der Überstellungsfrist

Aktenzeichen  M 9 K 15.50445

Datum:
2.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29
AufenthG AufenthG § 60
GG GG Art. 20 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1 Ist die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens infolge des Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen und ist eine Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat nicht mehr möglich, so hat der betreffende Antragsteller einen Anspruch auf Durchführung des Asylverfahrens durch die Bundesrepublik Deutschland.   (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Prüfung der Voraussetzungen des § 60 AufenthG obliegt dem Bundesamt in dem dafür vorgesehenen Verfahren. Eine Entscheidung des Gerichts ohne abschließende Prüfung oder materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache durch das Bundesamt würde gegen Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verstoßen.   (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … April 2015 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 VwGO konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Klägerseite auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hat und seitens der Beklagte eine allgemeine Verzichtserklärung vorliegt.
Die zulässige Klage ist begründet, soweit die Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge begehrt wird. Im Übrigen ist die Klage unbegründet, da das Bundesamt über die Anträge der Kläger in der Sache noch nicht entschieden hat, nach der bei Bescheidserlass geltenden Rechtslage auch nicht entscheiden musste und wegen der fehlenden Durchführung eines Verwaltungsverfahrens nicht zuletzt wegen des verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungsgrundsatzes kein Anspruch auf die begehrte Entscheidung des Gerichts besteht.
Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, die nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblich ist, sind die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig und die Abschiebeanordnung rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO ist die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylbegehrens mittlerweile entfallen und auf die Beklagte übergegangen, da die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO von 6 Monaten ab Zustellung des unanfechtbaren Ablehnungsbeschlusses im Eilverfahren abgelaufen ist. Es ist nicht erkennbar, dass Ungarn sich entgegen der unionsrechtlichen Bestimmungen der Dublin-III-VO nicht auf diesen Fristablauf berufen wird und ausnahmsweise dennoch zur Übernahme der Kläger bereit ist. Eine solche Bereitschaft kann auch nicht unterstellt werden (BayVGH B.v. 11.2.2015, 13a ZB 15.50005).
Aus der objektiven Rechtswidrigkeit folgt auch eine entsprechende subjektive Rechtsverletzung der Kläger im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens ist notwendiger Bestandteil etwaiger materiell-rechtlicher Asylansprüche und muss gegenüber der Beklagten deshalb auch geltend gemacht werden können, wenn – wie hier – nach Ablauf der Überstellungsfrist eine Zuständigkeit der Bundesrepublik in Betracht kommt.
Da die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig mittlerweile rechtswidrig ist folgt daraus auch die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsanordnung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Die Klage war im Übrigen abzuweisen. Eine Verpflichtung der Beklagten, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. I AufenthG vorliegen hat ebenso wenig Erfolg wie die hilfsweise beantragte Verpflichtung festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG vorliegen. Die Prüfung der Voraussetzungen obliegt dem Bundesamt in dem dafür vorgesehenen Verfahren. Nach Aktenlage fehlt trotz der von der Familie vorgelegten Papiere nach wie vor eine Feststellung der Staatsangehörigkeit; die Papiere weisen die Antragsteller als palästinensische Flüchtlinge aus. Aufgrund der Übernahmezusage der ungarischen Behörden, wonach die Kläger dort am 12. Dezember 2014 Asyl beantragt hätten und kurz darauf verschwunden seien, durfte eine materiell-rechtliche Prüfung der Asylanträge auch unterbleiben. Aufgrund des in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG normierten Prinzips der Gewaltenteilung, die als tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes zur gegenseitigen Kontrolle, Hemmung und Mäßigung dient (Jarass/Pieroth, GG, Kommentar, 12. Auflage, Art. 20 Rn. 23 ff.) ist für diese Prüfung das Bundesamt zuständig. Weder eine abschließende Prüfung noch eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache durch das Bundesamt liegen vor.
Die Kostenfolge beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen