Aktenzeichen V R 40/13
Leitsatz
1. NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 führt dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612) .
2. NV: Bei mehreren Berechtigten (Eltern) ist das Kindergeld an denjenigen zu zahlen, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen ist, auch wenn die Berechtigten zivilrechtlich etwas anderes vereinbart haben. Durch zivilrechtliche Vereinbarungen, auch wenn sie durch gerichtlichen Vergleich bestätigt werden, kann § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht außer Kraft gesetzt werden (Bestätigung der Rechtsprechung) .
Verfahrensgang
vorgehend FG Köln, 28. August 2013, Az: 12 K 1212/11, Urteil
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 28. August 2013 12 K 1212/11 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
1
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist deutscher Staatsbürger, der in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebt und selbständig tätig ist. Sein 2004 geborener Sohn S lebt im Haushalt der nicht mit dem Kläger verheirateten Kindsmutter in Polen und ist pflegebedürftig. Die Kindsmutter ist polnische Staatsangehörige. Sie war bis einschließlich August 2010 nichtselbständig tätig. Im September 2010 wurde ihr nach kurzer Arbeitslosigkeit Pflegegeld für die Betreuung des Kindes zuerkannt. Sie erhält zudem polnische Familienleistungen.
2
Nachdem die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) für S zunächst sog. Differenzkindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrags zwischen deutschem und polnischem Kindergeld festgesetzt hatte, hob sie die Festsetzung mit Bescheid vom September 2010 mit Wirkung ab Mai 2010 auf, da die Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld habe. Den dagegen eingelegten Einspruch des Klägers wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 18. März 2011 zurück. Der daraufhin erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2014, 2026 abgedruckten Urteil überwiegend statt. Es verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung von Differenzkindergeld in näher bezifferter Höhe für den Zeitraum Mai 2010 bis einschließlich März 2011 und wies die Klage insoweit ab, als sie auf einen höheren Betrag gerichtet war. Dagegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
3
Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 23. September 2014 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache Trapkowski C-378/14 ausgesetzt. Nach Veröffentlichung des EuGH-Urteils Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst –DStRE– 2015, 1501) hat der Senat das Verfahren wiederaufgenommen und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, sich zu dem EuGH-Urteil zu äußern. Beide Beteiligten sind der Auffassung, der EuGH habe ihren Rechtsstandpunkt bestätigt.
4
Die Familienkasse beantragt,das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
5
Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.
6
Nach den Feststellungen des FG habe die Kindsmutter weder einen Wohnsitz noch einen ständigen Aufenthalt im Inland. Ihr stehe daher kein Kindergeld zu. Zudem habe er, der Kläger, sich vor dem Amtsgericht K (Polen) dazu verpflichtet, das Kindergeld an die Kindsmutter weiterzuleiten.