Europarecht

Keine systemischen Mängel des italienischen Asylverfahrens hinsichtlich besonders schutzbedürftiger Personen

Aktenzeichen  M 19 S 19.50461

Datum:
8.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 46755
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 UAbs. 2
GRC Art. 4
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Italien verfügt über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes und richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren, das prinzipiell funktionsfähig ist und sicherstellt, dass rücküberstellte Asylantragsteller im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen müssen  (Rn. 24). (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch bei besonders schutzbedürftigen Personengruppen ist nicht mehr davon auszugehen, dass diesen in Italien – während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss – eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Eine konkrete Garantieerklärung der italienischen Behörden ist diesbezüglich nicht mehr erforderlich (Rn. 25 – 26). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Die Antragstellerinnen begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Die am 10. Februar 1987 geborene Antragstellerin zu 1, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste am 8. Februar 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Angaben beruhen auf ihren Aussagen, Dokumente wurden nicht vorgelegt. Die Antragstellerinnen zu 2 bis 4 sind ihre minderjährigen Kinder. Die Antragstellerinnen stellten hier am 9. April 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.
Bei ihrer Anhörung durch die Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde) am 25. März 2019 gab die Antragstellerin zu 1 an, seit März 2008 in Italien gelebt zu haben.
Beim Bundesamt wurde sie am 9. April 2019 angehört.
Eine Eurodac-Recherche am 11. Februar 2019 ergab für die Antragstellerin zu 1 einen Treffer der Kategorie 1 für Italien.
Das Bundesamt stellte am 3. April 2019 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien, das die italienischen Behörden mit Schreiben vom 17. April 2019 für die gesamte Familie akzeptiert haben.
Mit Bescheid vom 2. Mai 2019, zugestellt am 3. Mai 2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 6 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Italien aufgrund des dort gestellten Asylantrags für dessen Behandlung zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im italienischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor.
Am 8. Mai 2019 erhoben die Antragstellerinnen Klage zum Verwaltungsgericht München (M 19 K 19.50460). Gleichzeitig beantragten sie,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids anzuordnen.
Zur Begründung wurde auf die Angaben beim Bundesamt Bezug genommen. Ferner trug der Vater der Antragstellerinnen zu 2 bis 4 vor, er finde in Italien keine Arbeit, sie hätten dort keine Unterkunft und kein Geld für Essen. Seine Frau, die Antragstellerin zu 1, müsse sich um das Baby kümmern und könne deshalb nicht arbeiten.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Er ist zwar zulässig, insbesondere wurde er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt.
Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung keine Zweifel. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Ausgehend von den Eurodac-Daten und dem Vortrag des Antragstellers ist vorliegend Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Der Umstand der Asylantragstellung in Italien wird belegt durch den für die Antragstellerin zu 1 erzielten Eurodac-Treffer mit der Kennzeichnung „IT1“.
b) Dies ergibt sich mangels vorrangiger Zuständigkeitskriterien aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da Italien der erste Mitgliedstaat war, dessen Grenze die Antragstellerin zu 1 aus einem Drittstaat kommend – ohne Aufenthaltsrecht und damit illegal – überschritten hat. Diese Zuständigkeit ist aufgrund der Antragstellung binnen Jahresfrist nicht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO entfallen. Auch nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin ein, weil das Wiederaufnahmegesuch für die Antragstellerin fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung bzw. von drei Monaten nach Asylantragstellung erfolgte. Die italienischen Behörden haben dieses akzeptiert. Italien ist daher nach Art. 25 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, die Antragstellerinnen wieder aufzunehmen.
c) Die Überstellung ist auch nicht rechtlich unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 80 f.; U.v. 19.3.2019 – C-297/1 – juris Rn. 84; U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.), der im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, gilt grundsätzlich die Vermutung, dass in den Mitgliedsstaaten die Behandlung von Asylbewerbern mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtscharta und der EMRK in Einklang steht. Um diese Vermutung zu widerlegen, müssten Umstände substantiiert vorgetragen und ggf. belegt werden, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Dies läge nur vor, wenn einem Asylbewerber gerade aufgrund seiner besonderen Schutzbedürftigkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92, 95).
Davon ist nach Auffassung des Gerichts für Italien nicht auszugehen. Italien verfügt über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes und richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren, das prinzipiell funktionsfähig ist und sicherstellt, dass rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen müssen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der am 4. Dezember 2018 in Kraft getretenen gesetzlichen Änderungen bezüglich Aufnahmebedingungen und Unterbringung, sog. „Salvini-Dekret“ vom 4. Oktober 2018 (vgl. VG Würzburg, B.v. 16.4.2019 – W 10 S 19.50280 – juris Rn. 31; VG Ansbach, B.v. 15.4.2019 – AN 14 S 19.50278 – juris Rn. 23; VG Trier, B.v. 5.4.2019 – 7 L 1263/19.TR – juris LS 1; VG Düsseldorf, B.v. 4.4.2019 – 15 L 3696/18.A – juris LS 3; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018 – 10 LB 201/18 – juris Rn. 40). Das bisherige System wird danach völlig neu organisiert und es wird nun zwischen einer Erstaufnahme („prima accoglienza“) und einer sekundären Versorgungsschiene („Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“ – SIPROIMI) unterschieden. Asylsuchende (auch „Dublin-Rückkehrer“) werden in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und verbleiben während des Asylverfahrens dort. In den SIPROIMI werden ausschließlich unbegleitete Minderjährige sowie international Schutzberechtigte untergebracht. Diese Umstrukturierung führt jedoch nicht zu einem Mangel an Unterbringungsplätzen. Auch medizinische Versorgung von Asylbewerbern ist weiterhin gesichert (Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Gesamtaktualisierung 27.9.2018, S.15 f., 22).
2. Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen, sind nicht ersichtlich. Die Tarakhel-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Tarakhel / Schweiz, Nr. 29217712 – NVwZ 2015, 127) steht dieser Einschätzung nicht (mehr) entgegen. Denn auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei den Antragstellerinnen um eine Familie mit (Klein-)Kindern und damit um eine besonders schutzbedürftige Personengruppe handelt, ist nun nicht mehr davon auszugehen, dass diesen in Italien – weder während des Asylverfahrens noch nach dessen Abschluss – eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Es ist nicht mehr erforderlich, dass die italienischen Behörden eine konkrete Garantieerklärung zu Gunsten der Antragstellerinnen abgeben. Italien hat mit Schreiben seines Dublin-Units vom Januar 2019 (circular letter n. 1.2019) gegenüber den Mitgliedsstaaten zugesichert, dass auch alle „Dublin-Rückkehrer“ untergebracht werden können und, dass in den Einrichtungen deren elementare Rechte, insbesondere die Familieneinheit und der Schutz von Minderjährigen garantiert werden. Für diese Zusicherung der italienischen Behörden gilt ebenfalls der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.
Die italienischen Behörden haben seit 2014 die Zahl der Unterbringungsplätze deutlich erhöht; gleichzeitig sind die Ankunftszahlen in der jüngeren Vergangenheit deutlich zurückgegangen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8.5.2019, S. 12). Es ist weder vorgetragen noch aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln zu ersehen, dass aktuell besonders schutzbedürftige Personengruppen in Italien entgegen dieser Zusicherung nicht angemessen untergebracht und versorgt werden würden. In den Erstaufnahmeeinrichtungen sind Plätze für Familien und allein reisende Frauen mit Kindern vorgesehen, auf Vulnerabilität und Familieneinheit wird geachtet (Länderinformationsblatt S. 6, 7). Darüber hinaus ist sichergestellt, dass die Verfahren von besonders schutzbedürftigen Personen priorisiert bearbeitet werden (AIDA, Country Report, Italy, April 2019, S. 68). Im Übrigen ist den italienischen Behörden im vorliegenden Verfahren schon im Rahmen des Wiederaufnahmeersuchens durch die Antragsgegnerin mitgeteilt worden, dass es sich hier um eine Familie mit (Klein-)Kindern handelt. Die italienischen Behörden haben dies auch zur Kenntnis genommen, wie sich aus dem Schreiben des dortigen Innenministeriums vom 17. April 2019 ergibt. Das Gericht geht daher davon aus, dass den Antragstellerinnen zeitnah nach ihrer Rückkehr nach Italien eine geeignete Unterkunft zur Verfügung gestellt werden wird und ihnen weder materielle Not noch Obdachlosigkeit droht (VG Würzburg, B.v. 16.4.2019 – W 10 S 19.50280 – juris Rn. 41 ff.; VG Ansbach, B.v. 15.4.2019 – AN 14 S 19.50278 – juris Rn. 31; VG Trier, B.v. 5.4.2019 – 7 L 1263/19.TR – juris LS 2; VG Düsseldorf, B.v. 4.4.2019 – 15 L 3696/18.A – juris LS 4).
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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