Aktenzeichen M 19 S 19.50515
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 , § 77 Abs. 1 S 1, § 80, § 83b
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz
1. Die mit dem sog. „Salvini-Dekret“ vom 4. Oktober 2018 einhergehende Reduktion der Unterkunftskapazitäten lässt ein evidentes Missverhältnis zur Zahl der im Asylverfahren befindlichen Migranten nicht erkennen. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es nicht klar, ob sichergestellt ist, dass vulnerable Personen, und insbesondere eine Mutter mit ihrem Neugeborenen, in familiengeeigneten Einrichtungen im CARA. bwz. CAS-System sicher und verzugsfrei ohne kritische Phasen von Obdachlosigkeit oder anderweitig unklarer oder unzureichender Unterbringung, eventuell sogar damit verbundener Trennung von Familienmitgliedern, behördlich gesteuert Zugang finden. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 17. Mai 2019 gegen den Bescheid vom 7. Mai 2019 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Der minderjährige Antragsteller, vertreten durch seine Mutter, begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller, ein nigerianischer Staatsangehöriger, wurde am 3. April 2019 in der Bundesrepublik geboren. in die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Angaben beruhen auf seinen Aussagen, Dokumente wurden nicht vorgelegt. Der Asylantrag des Antragstellers gilt nach § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG am Tag der Mitteilung der Geburt, am 16. April 2019, als gestellt.
Das Bundesamt stellte am 15. März 2019, noch vor der Geburt des Antragstellers, für dessen Mutter ein Aufnahmeersuchen an Italien. Italien erklärte mit Schreiben vom 18. März 2019 seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags der Mutter des Antragstellers.
Mit Bescheid vom 7. Mai 2019, zugestellt am 14. Mai 2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von sechs Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Italien aufgrund der erklärten Zuständigkeit für die Mutter des Antragstellers nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auch für den Antragsteller zuständig sei. Abschiebungsverbote bestünden nicht; der Schutz von Kleinstkinder sei in Italien zwischenzeitlich sichergestellt. Die Antragsgegnerin beruft sich insoweit auf ein Rundschreiben Italiens vom 8. Januar 2019.
Am 17. Mai 2019 erhob der Antragsteller durch seine bevollmächtigte Rechtsanwältin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 19 K 19.50514). Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid anzuordnen.
Zur Begründung bezog er sich auf die Angaben seiner Mutter gegenüber dem Bundesamt.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung – bei interessengerechter Auslegung nur hinsichtlich der Nummer 3 des Bescheids vom 7. Mai 2019 – ist zulässig, da wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG der erhobenen Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt und er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt wurde.
Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids vom 7. Mai 2019, auf den im Sinne von § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird, bestehen bei summarischer Prüfung durchgreifenden Bedenken.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Zwar ist Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Indes ist aber die Abschiebung (derzeit) rechtlich nicht zulässig. Der Abschiebungsanordnung steht entgegen, dass der Antragsteller ein Kleinstkind ist.
1. Die Antragsgegnerin ist zwar voraussichtlich zutreffend davon ausgegangen, dass Italien der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist.
a) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Italien hat sich ausdrücklich für das Asylverfahren der Mutter des Antragstellers zuständig erklärt und ist nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO damit auch für das Verfahren des Antragstellers zuständig.
b) Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ein.
c) Gleichfalls ist die sechsmonatige Überstellungsfrist (fristauslösendes Ereignis ist die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs oder die endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf) gemäß Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO, die einen Zuständigkeitswechsel begründen würde auch ohne, dass der zuständige Mitgliedstaat die Verpflichtung zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person ablehnt, noch nicht abgelaufen.
d) Die Zuständigkeit ist schließlich auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung an Italien als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO scheitern würde.
Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) ist davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. Diese nicht unwiderlegliche Vermutung ist auch nicht erschüttert. Von systemischen Mängeln ist nur auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Ls. und Rn. 6). Von solchen Mängeln kann jedoch nach Auffassung des Gerichts in Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausgegangen werden (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 4.4.2018 – 10 LB 96/17 – juris Rn. 32 ff.; VG München, B.v. 13.3.2019 – M 9 S 17.50582 – juris Rn. 18).
Nichts anderes ergibt sich aus dem am 4. Dezember 2018 in Kraft getretenen sog. „Salvini-Dekret“ vom 4. Oktober 2018 (abrufbar unter www.normattiva.it/uri-res/N2Ls ?urn:nir:stato:legge:2018-12-01; 132; vgl. auch OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018, 10 LB 201/18, juris Rn. 40). Die damit zwar einhergehende Reduktion der Unterkunftskapazitäten lässt jedoch ein evidentes Missverhältnis zur Zahl der im Asylverfahren befindlichen Migranten nicht erkennen (vgl. VG München, B.v. 1.3.2019 – M 11 S 19.50094).
e) Die demnach bestehende Zuständigkeit Italiens ändert sich schließlich auch nicht deshalb, weil individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen würden.
Nach dieser Vorschrift kann zwar jeder Mitgliedstaat einen Asylantrag prüfen, auch wenn er – wie im vorliegenden Fall – nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Hierbei handelt es sich um eine restriktiv zu handhabende Ausnahmebestimmung, die eine Zuständigkeitsübernahme in Fällen ermöglicht, in denen außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern. Unter bestimmten Voraussetzungen kann das durch Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO eingeräumte Ermessen der Antragsgegnerin sich auf Null reduzieren.
Allein der Status als Neugeborener zwingt die Antragsgegnerin jedoch schon wegen der zeitlichen Beschränkung des Abschiebungshindernisses (vgl. hierzu unter Nr. 2) nicht zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO (vgl. ähnlich VG München, B.v. 13.10.2015 – M 12 S 15.50785 – juris Rn. 39).
Italien ist daher zuständig.
2. Die Überstellung an Italien ist allerdings (derzeit) rechtlich nicht zulässig.
Der Abschiebung des Antragstellers nach Italien steht ein – vom Bundesamt bei Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG zu prüfendes – zielstaats- oder inlandsbezogenes Abschiebungshindernis entgegen. Der Abschiebung steht entgegen, dass es sich bei dem Antragsteller um ein neugeborenes Kind handelt.
Nach der Einschätzung des Gerichts ist bei summarischer Prüfung in Bezug auf das in dem Bescheid erwähnte Kontingent familiengeeigneter Plätze im CARA- bzw. CAS -System (vgl. Seite 16 des Bescheids) nicht klar, ob tatsächlich sichergestellt ist, dass vulnerable Personen, und insbesondere eine Mutter mit ihrem Neugeborenen, in diese Einrichtungen auch sicher und verzugsfrei ohne kritische Phasen von Obdachlosigkeit oder anderweitig unklarer oder unzureichender Unterbringung, eventuell sogar damit verbundener Trennung von Familienmitgliedern, behördlich gesteuert Zugang finden (vgl. ausführlich VG Düsseldorf, B.v. 4.7.2018 – 22 L 5076/17.A – juris Rn. 36 ff.). Die allgemeine Zusicherung Italiens vom 8. Januar 2019, die auch in einer Antwort der Bundesregierung v. 13.3.2019, BT-Drs. 19/8340, S. 21 f./34, Erwähnung findet, ist – auch vor dem Hintergrund dem Gericht in Einzelfällen bekannter Verhaltensmuster italienischer Behörden – zu unkonkret, um bestehende Zweifel auszuräumen, die es rechtfertigen würde, von der bisherigen Rechtsprechung zugunsten von Kleinstkinder nunmehr abzuweichen.
Das Gericht geht daher davon aus, dass bei dem Antragsteller als besonders schutzbedürftiger Person eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn zuvor entsprechende individuelle Garantien eingeholt würden, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind. Solche Garantien liegen nicht vor. Aus diesen Gründen überwiegt das Interesse der Antragstellerin das Vollzugsinteresse.
3. Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids vom 7. Mai 2019 voraussichtlich erfolgreich sein wird, überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes nicht. Es war daher – ungeachtet der Tatsache, dass das dargelegte inlandsbezogene Abschiebungshindernis ein nur vorübergehendes ist – die aufschiebende Wirkung der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO anzuordnen (vgl. VG München, B.v. 4.9.2017 – M 9 S 17.51064).
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).