Europarecht

Erfolglose Klage eines nigerianischen Asylbewerbers gegen Überstellung nach Italien im Dublin-Verfahren

Aktenzeichen  M 19 K 18.51284

Datum:
22.5.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 46759
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 13 Abs. 1 S. 1, Art. 29 Abs. 2 S. 2
VwGO § 80 Abs. 5, § 113 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 11 Abs. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a

 

Leitsatz

1. Für eine wirksame Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO genügt der Umstand, dass sich die betreffende Person in Strafhaft befindet. Eine Verlängerungsentscheidung wegen Inhaftierung erfordert hingegen nicht, dass das Scheitern einer Überstellung ursächlich gerade darauf zurückzuführen ist, dass die betreffende Person in Haft ist. (Rn. 25) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Für eine wirksame Verlängerungsentscheidung reicht “Asylhaft” i.S.v. Art. 28 Dublin III-VO nicht aus, da in diesem Fall mit der Haft gerade kein weiterer schutzwürdiger Zweck (General- oder Spezialprävention) durch den Mitgliedstaat verfolgt wird. (Rn. 25) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien weisen aktuell keine systemischen Schwachstellen auf, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. Art. 4 GRCh mit sich bringen. (Rn. 27 – 29) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Eine Verheiratung lediglich “nach traditionellem Ritus” reicht für den Nachweis einer Eheschließung in Nigeria nicht aus. Aus Partnerschaften, die nicht staatlich registriert und anerkannt sind, können weder im Asylrecht noch im Aufenthaltsrecht Ansprüche abgeleitet werden (OVG Münster BeckRS 2016, 49118). (Rn. 31) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) konnte über die Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da beide Parteien hierauf verzichtet haben.
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 26. April 2018 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Ausgehend von den Eurodac-Daten und dem Vortrag der Klägerin ist vorliegend Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Der Umstand der Asylantragstellung in Italien wird belegt durch den für den Kläger erzielten EURODAC-Treffer mit der Kennzeichnung „IT1“.
Dies ergibt sich mangels vorrangiger Zuständigkeitskriterien aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da Italien der erste Mitgliedstaat war, dessen Grenze der Kläger aus einem Drittstaat kommend – ohne Aufenthaltsrecht und damit illegal – überschritten hat. Diese Zuständigkeit ist aufgrund der Antragstellung binnen Jahresfrist nicht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO entfallen. Auch nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte ein, weil das Wiederaufnahmegesuch für die Klägerin fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung bzw. von drei Monaten nach Asylantragstellung erfolgte. Die italienischen Behörden haben hierauf nicht geantwortet, so dass davon auszugehen ist, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde (Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO). Italien ist daher nach Art. 25 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO verpflichtet, die Klägerin wieder aufzunehmen.
b) Die Beklagte ist auch nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig geworden. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO beträgt die Frist zur Überstellung sechs Monate ab dem Zeitpunkt der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat. Die sechsmonatige Frist begann mit Zustellung des Beschlusses des Gerichts vom 19. Juli 2018 im Verfahren gem. § 80 Abs. 5 VwGO (M 19 S 18.51285) am 19. Juli 2018 (erneut) zu laufen (BVerwG, U. v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – juris Rn. 11).
Die Beklagte hat die Überstellungsfrist mit Schreiben vom 18. Januar 2019 an das italienische Innenministerium zulässigerweise auf ein Jahr verlängert. Sie endet daher am 19. Juli 2019.
Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kann die Überstellungsfrist u.a. auf höchstens ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung „aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte“. Für eine wirksame Fristverlängerung genügt der Umstand, dass sich die betreffende Person in Strafhaft befindet. Eine Verlängerungsentscheidung wegen Inhaftierung erfordert hingegen nicht, dass das Scheitern einer Überstellung ursächlich gerade darauf zurückzuführen ist, dass die betreffende Person in Haft ist (anders: VG Augsburg, B.v. 27.9.2018 – Au 1 E 18.50712 – juris Rn. 20). Die Dublin III-VO trifft keine ausdrückliche Aussage dazu, ob „aufgrund Inhaftierung“ einen Kausalzusammenhang von gescheiterter Überstellung und Haft erfordert oder eine Möglichkeit der Fristverlängerung gewährt für alle Fälle, in denen sich die betreffende Person in Strafhaft befindet. Für letzteres spricht, dass kaum Fälle denkbar sind, in denen ein Mitgliedstaat eine von ihm inhaftierte Person tatsächlich nicht überstellen kann; Inhaftierte unterliegen grundsätzlich einem unmittelbaren (Überstellungs-)Zugriff des Mitgliedsstaats. Allenfalls wäre denkbar, dass beispielsweise wegen Vorliegens eines Europäischen Haftbefehls eines anderen Mitgliedstaates eine Überstellung an den für die Durchführung des Asylverfahrens nach der Dublin III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat nicht erlaubt ist. Beschränkte sich die Norm allerdings auf diese Fälle, hätte sie keinen nennenswerten Anwendungsbereich. Weder dem Verordnungstext noch den Erwägungsgründen lassen sich Hinweise auf ein solch restriktives Verständnis entnehmen. Deshalb liegt der Zweck der Vorschrift darin, dem jeweiligen Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Betroffene inhaftiert ist, zu gestatten, eine gerichtlich verhängte Strafhaft wenigstens für den Zeitraum von bis zum einem Jahr durchsetzen zu können, ohne zugleich für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig zu werden (in diesem Sinne wohl auch Hruschka in Dörig, Handbuch des Migrations- und Integrationsrecht, 2018, § 12 Rn. 293; Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, 2018, Art. 29 Rn. 33). Nicht ausreichen für eine wirksame Verlängerungsentscheidung wird demgegenüber etwa „Asylhaft“ im Sinne des Art. 28 Dublin III-VO (Koehler, Praxiskommentar zum Europäischen Asylzuständigkeitssystem, 2018, Art. 29 Rn. 33; vgl. auch Flizwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, 2014, Art. 29 K.12, die insoweit von „administrativer Haft“ sprechen), da in diesem Fall – anders als bei der Strafhaft – mit der Haft gerade kein weiterer schutzwürdiger Zweck (General- oder Spezialprävention) durch den Mitgliedstaat verfolgt wird. Schutzwürdige Belange des Betroffenen stehen dieser Auslegung nicht entgegen, da er den Umstand einer strafrechtlichen Verurteilung und Inhaftierung zu vertreten hat, und ihm überdies auch keine Möglichkeit einzuräumen ist, durch eigenes deliktisches Verhalten die Zuständigkeitsordnung für die Durchführung des Asylverfahrens zu steuern. Im Ergebnis ist damit Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO Ausdruck der Achtung vor der Strafrechtsordnung der Mitgliedstaaten. Diese ermöglicht eine Fristverlängerung, wenn der Betroffene inhaftiert ist.
Der Kläger befand sich bis zum 31. Januar 2019 in Strafhaft. Die Überstellungsfrist wurde zulässigerweise verlängert und Italien ist daher verpflichtet, den Kläger innerhalb der laufenden Überstellungsfrist wieder aufzunehmen.
c) Die Überstellung ist auch nicht rechtlich unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) ist davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes und richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, das prinzipiell funktionsfähig ist und sicherstellt, dass rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen müssen. Diese widerlegliche Vermutung ist nicht erschüttert. Von systemischen Mängeln ist nur auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Ls. und Rn. 6). Davon ist kann jedoch nach Auffassung des Gerichts in Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung für Italien nicht auszugehen (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 4.4.2018 – 10 LB 96/17 – juris Rn. 32 ff.; VG München, B.v. 13.3.2019 – M 9 S 17.50582 – juris Rn. 18).
Nichts anderes ergibt sich aus dem am 4. Dezember 2018 in Kraft getretenen sog. „Salvini-Dekret“ vom 4. Oktober 2018 (abrufbar unter www.normattiva.it/uri-res/N2Ls ?urn:nir:stato:legge:2018-12-01; 132; vgl. auch OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018, 10 LB 201/18, juris Rn. 40). Die damit zwar einhergehende Reduktion der Unterkunftskapazitäten lässt jedoch ein evidentes Missverhältnis zur Zahl der im Asylverfahren befindlichen Migranten nicht erkennen.
2. Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen, sind nicht ersichtlich. Der Abschiebung stehen zudem weder zielstaatsbezogene noch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse entgegen, so dass sie auch im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden kann. Es ist weder ersichtlich noch vom Kläger dargetan, dass seine Hepatitis-B-Erkrankung eine Reiseunfähigkeit begründet oder sich im Fall einer Rückführung nach Italien erheblich verschlechtern würde. In Italien besteht auch für Dublin-Rückkehrer Zugang zum dortigen Gesundheitssystem (vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 4.4.2018 – Az. 10 LB 96/17 – juris Rn. 62ff.).
Bei der sich ebenfalls in Deutschland befindlichen „Ehefrau“ des Klägers, handelt es sich nicht um eine Familienangehörige i.S.v. Art. 2 Buchst. g Dublin-III-VO. Ein Nachweis für eine Eheschließung bereits in Nigeria wurde nicht erbracht. Der Kläger hat selbst vorgetragen, lediglich nach traditionellem Ritus verheiratet zu sein. Dies genügt nicht zum Nachweis einer Eheschließung. Eine ausländerrechtlich vergleichbare Behandlung nicht verheirateter Paare wie verheiratete Paare (vgl. Art. 2 Buchst. g S2.str. 1 Dublin-III-VO) sieht das deutsche Recht nicht vor. Aus sonstigen Partnerschaften, die nicht staatlich registriert und anerkannt sind, können weder aus dem Asylrecht noch aus dem Aufenthaltsrecht Ansprüche abgeleitet werden (vgl. OVG NW, U.v. 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A – juris Rn. 29 ff. m.w.N.). Zudem würde eine Anwendung von Art. 9 der Dublin-III-VO jedenfalls nicht zu einer Zuständigkeit Deutschlands führen, da die Ehefrau nicht Begünstigte internationalen Schutzes Deutschlands ist.
Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.

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