Europarecht

Erfolgreicher vorläufiger Rechtsschutzantrag gegen Anordnung der Abschiebung in die Schweiz im Rahmen des Dublin-Verfahrens

Aktenzeichen  W 8 S 17.50436

Datum:
11.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 80, § 83b
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 4

 

Leitsatz

1 Für den Ablauf der Sechsmonatsfrist des Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO ist auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt (Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO). (Rn. 10) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Ein früher erteiltes Visum fällt als zuständigkeitsbegründendes Kriterium im Fall der erneuten Einreise des Asylsuchenden weg. (Rn. 11) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Ein Asylsuchender kann sich im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine ihm gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf einen Verstoß gegen die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin III-VO berufen. Denn die Verordnung gewährleistet, dass dem Schutzsuchenden ein wirksamer Rechtsbehelf gegen jede ihm gegenüber möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zusteht (EuGH BeckRS 2017, 118290). (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die unter Nr. 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 1. August 2017 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist armenische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben am 30. Mai 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 11. Juli 2017 einen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 18. Juli 2017 erklärten die schweizerischen Behörden mit Schreiben vom 28. Juli 2017 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom 1. August 2017 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung in die Schweiz wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf neun Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 9. August 2017 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 17.50435 Klage und im vorliegenden Verfahren beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der beiliegenden Klage wird wiederhergestellt.
Zur Begründung ließ die Antragstellerin im Wesentlichen vorbringen: Sie sei nie in der Schweiz gewesen. Es müsse sich offenkundig um eine Verwechslung aufgrund einer Namensgleichheit handeln.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 17.50435) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Antragstellers ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheides vom 1. August 2017 begehrt.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO – betreffend die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids – ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 1. August 2017 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten, so dass das private Interesse der Antragstellerin, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegt.
Die Schweiz ist für die Durchführung des Asylverfahrens nicht zuständig. Die Zuständigkeit der Schweiz ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO. Zwar liegt – entgegen dem Vorbringen des Antragstellerbevollmächtigten – ein von der polnischen Botschaft stellvertretend für die Schweiz ausgestelltes Visum vom 7. Dezember 2016 (gültig vom 30.12.2016 bis 24.1.2017) vor. An der Identität der Antragstellerin bestehen insofern auch keine Zweifel, insbesondere hat sie selbst eingeräumt über dieses Visum verfügt zu haben und mit diesem zu ihrer Tochter nach London gereist zu sein. Das Visum ist auch noch nicht mehr als sechs Monate abgelaufen (vgl. Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO). Abzustellen ist für den Ablauf auf den Zeitpunkt, zu dem die Antragstellerin ihren Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedsstaat stellt (Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO). Zu diesem Zeitpunkt, hier also der 11. Juli 2017, war das bis 24. Januar 2017 gültige Visum noch nicht länger als sechs Monate abgelaufen. Die Schweiz hat sich zudem ausdrücklich bereit erklärt, die Antragstellerin aufzunehmen.
Jedoch besteht gleichwohl keine Zuständigkeit der Schweiz, weil es an der weiteren Voraussetzung des Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO fehlt, dass die Antragstellerin zwischenzeitlich das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten nicht verlassen hat. Jeder Fall der Ausreise aus dem Unionsgebiet ist relevant. Der Wortlaut von Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO ist eindeutig. Das früher erteilte Visum fällt als zuständigkeitsbegründendes Kriterium im Fall der erneuten Einreise des Asylsuchenden Weg (Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 29 AsylG Rn. 36). Das Gericht hat keine Zweifel, dass die Antragstellerin nach einem mehrmonatigen Aufenthalt Ende 2016/Anfang 2017 (nach Angaben der Antragstellerin vom 15.12.2016 bis 6.3.2017) in London wieder in ihr Herkunftsland Armenien zurückgereist ist und sich danach ein neues griechisches Visum (gültig vom 28.5.2017 bis 22.6.2017) besorgt hat, mit dem sie über Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist (vgl. dazu auch Bl. 47 und 55 der BA-Akte) und das zudem als zuletzt ablaufendes Visum ohnehin vorrangig ist (vgl. Art. 12 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Dublin III-VO). Für den zwischenzeitlichen Aufenthalt in ihrer Heimat spricht unter anderem auch die vorgelegte Ultraschall-Untersuchung des Herzens der Antragstellerin am 13. März 2017 in der Staatlichen Medizinischen Universität in Eriwan (vgl. Bl. 63 der BA-Akte).
Die Antragstellerin kann sich im Rahmen ihres Rechtsbehelfs gegen eine ihr gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auch auf den Verstoß gegen die Zuständigkeitsvorschriften der Dublin III-VO berufen. Denn die Dublin III-VO gewährleistet, dass dem Schutzsuchenden ein wirksamer Rechtsbehelf gegen jede ihm gegenüber möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zusteht (vgl. EuGH, U.v. 26.7.2017 – 10-670/16 – juris).
Nach alledem war dem Antrag stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.

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