Europarecht

Die sechsmonatige Frist für die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat wird allein durch einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unterbrochen

Aktenzeichen  15 B 16.50080

Datum:
29.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 107841
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 12 Abs. 2, Art. 20 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 34a Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1 Die sechsmonatige Frist für die Überstellung wird auch dann erneut in Lauf gesetzt, wenn das Verwaltungsgericht einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen eine Abschiebungsanordnung (§ 34a Abs. 1, Abs. 2 S. 1 AsylG) ablehnt (BVerwG BeckRS 2016, 48044). (redaktioneller Leitsatz)
2 Dem unionsrechtlichen Begriff der „aufschiebenden Wirkung“ unterfällt unabhängig von der terminologischen Einordnung nach nationalem Recht auch das allein durch die Antragstellung gem. § 34a Abs. 2 S. 1 AsylG bewirkte gesetzesunmittelbare Abschiebungsverbot des § 34a Abs. 2 S. 2 AsylG. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 7 K 14.50105 2015-05-21 GeB VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Der Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 21. Mai 2015 wird geändert. Die Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 31. Juli 2014 wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen gesamtschuldnerisch. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Entscheidung ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Kostenschuldner können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Kostengläubigerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.
Bedenken gegen eine Überstellung der Kläger nach Lettland wurden im Berufungsverfahren nicht mehr geltend gemacht; insoweit sind auch keine Umstände ersichtlich, die der Prüfung ihrer Asylanträge in dem bezeichneten Staat entgegenstehen könnten. Daher war – nur noch – über die Rechtsfrage des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO zu entscheiden. Der Senat sieht das Rechtsmittel der Beklagten vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15/15 – NVwZ 2016, 1185 = juris Ls und Rn. 11; B.v. 22.8.2016 – 1 B 95/16, 1 PKH 75/16, 1 VR 4 /16 – juris Rn. 7 m.w.N.) für begründet an.
1. Im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung schließt sich der Senat der zuletzt in mehreren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts geäußerten Meinung an, dass die sechsmonatige Frist für die Überstellung auch dann erneut in Lauf gesetzt wird, wenn das Verwaltungsgericht einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen eine Abschiebungsanordnung (§ 34 a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AsylG) ablehnt (BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15/15 – NVwZ 2016, 1185 = juris Ls und Rn. 11). Danach ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 20 Abs. 1 Buchst. d Dublin II-VO, dass dem Mitgliedstaat in Fällen der Inanspruchnahme von Rechtsschutz stets die volle Überstellungsfrist zur Vorbereitung und Durchführung zur Verfügung stehen muss und die Frist für die Durchführung der Überstellung daher erst zu laufen beginnt, wenn grundsätzlich vereinbart und sichergestellt ist, dass die Überstellung erfolgen werde und lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben (EuGH, U.v. 29.1.1.2009 – C-19/08, Petrosian – juris Rn. 43 ff.). Dem unionsrechtlichen Begriff der „aufschiebenden Wirkung“ unterfällt mithin unabhängig von der terminologischen Einordnung nach nationalem Recht auch das allein durch die Antragstellung gemäß § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylG bewirkte gesetzesunmittelbare Abschiebungsverbot des § 34 a Abs. 2 Satz 2 AsylG. Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich klar, dass die Auffassung, nach der eine bloße Hemmung einer mit der Annahme eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs in Lauf gesetzten Überstellungsfrist anzunehmen sei (so VGH BW, U.v. 27.8.2014 – A 11 S 1285/14 – NVwZ 2015, 92), nicht dem Unionsrecht entspricht.
Die Entscheidung des EuGH (U.v. 29.1.2009 – C-19/08 – juris) zu Art. 20 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung (EU) Nr. 343/2003 (Dublin II-VO), der bis auf im vorliegenden Zusammenhang unerhebliche, marginale Änderungen wortgleich mit Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ist, stellte zunächst fest (a.a.O. Rn. 33), dass der Wortlaut der Vorschrift an sich keine Feststellung darüber erlaube, ob die Frist zur Überstellung bereits ab einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung laufe, mit der die Durchführung der Überstellung ausgesetzt werde, oder erst ab einer (erg.: endgültigen) Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des genannten Verfahrens entschieden werde. Unter Heranziehung der Entstehungsgeschichte (a.a.O. Rn. 41), einer vergleichenden Folgenbetrachtung (a.a.O. Rn. 47 bis 52) und zur „Wahrung der praktischen Wirksamkeit von Art. 20 Abs. 1 Buchst. d der Verordnung Nr. 343/2003“ ergebe sich aber (a.a.O. Rn. 46), dass die Frist (erg.: in jedem Fall) erst ab der gerichtlichen Entscheidung zu laufen beginne, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden werde und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen könne.
2. Auch wenn nicht zu übersehen ist, dass sich aus einem derart gestreckten Zeitablauf möglicherweise für die fortbestehende Bereitschaft des „zuständigen Mitgliedstaats“ zur Übernahme der betroffenen Personen Probleme ergeben können, weil sich in der Praxis die „drittstaatsangehörigen Antragsteller“ (Art. 2 Buchst. a und b Dublin III-VO) inzwischen in den „ersuchenden Mitgliedstaat“ integriert haben könnten, bedeutet das für den Streitfall, dass die Überstellungsfrist erst mit der Rechtskraft der in der Hauptsache ergehenden (End) Entscheidung über Rechtmäßigkeit des Bescheids der Beklagten vom 31. Juli 2014 zu laufen beginnt. Denn mit dem die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anordnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 10. Februar 2015 wurde der zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendete Lauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist, der frühestens mit der Zustellung des ersten Eilbeschlusses an die Beklagte am 8. September 2014 begonnen hatte, erneut unterbrochen und diese Frist damit gleichsam wieder „auf 0“ gestellt.
3. Die Bedenken, die sich aus dem Verhalten der Beklagten insbesondere in den letzten vier Monaten des Jahres 2015 hinsichtlich des Rechtsschutzbedürfnisses für den vorliegenden Fall unter dem Blickwinkel des Verbots widersprüchlichen Verhaltens („venire contra factum proprium“) ergeben haben könnten, weil der Vollzug der Regeln der Dublin-Verordnung wohl nicht nur in Bezug auf syrische Staatsangehörige – zumindest „faktisch“ – ausgesetzt war, greifen nach der Rückkehr der Beklagten zu einer einheitlichen Rechtsanwendung nicht (mehr) durch.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO, § 83 b AsylG. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. Der Gegenstandswert beträgt 6.000 Euro (§ 30 Abs. 1 RVG).
5. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.

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