Aktenzeichen M 12 K 16.139
Leitsatz
1. Kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 4 Abs. 5 AufenthG bei Nichtvorliegens eines Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei. (redaktioneller Leitsatz)
2. Voraussetzung für das Aufenthaltsrecht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers nach Art. 7 S. 1 EWG Türkei ist, dass der Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates im Zeitpunkt des Familiennachzugs angehört, wobei die Geburt im Bundesgebiet dem genehmigten Zuzug gleichzusetzen ist, das Kind dort seit mindestens drei Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz haben muss und die Arbeitnehmereigenschaft während der ersten drei Aufenthaltsjahre des Kindes andauern muss. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
1. Die Klage ist als Untätigkeitsklage zulässig. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, dass im Jahr 2015 ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 4 Abs. 5 AufenthG gestellt wurde. Über diesen Antrag ist ohne zureichenden Grund in angemessener Frist bislang sachlich nicht entschieden worden.
2. Die Klage ist jedoch unbegründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 4 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Gem. § 4 Abs. 5 AufenthG ist ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.
Ein Anspruch der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 4 Abs. 5 AufenthG besteht nicht, da ihr kein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei zusteht.
a) Ein Aufenthaltsrecht aufgrund eigener Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmerin gem. Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) hat die Klägerin nicht erworben, da sie nicht mindestens ein Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung als Arbeitnehmerin bei demselben Arbeitgeber aufweisen kann. Dies wird auch von der Klagepartei nicht bestritten.
b) Ein Aufenthaltsrecht könnte sich daher nur aus Art. 7 ARB 1/80 ergeben. Nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 haben Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.
Die Rechte, die Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 verleiht, setzen notwendig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, da dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sonst jede Wirkung genommen würde.
Voraussetzung für das Aufenthaltsrecht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ist, dass der Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates angehört und das Kind dort seit mindestens drei Jahren seinen ordnungsgemäßen Wohnsitz haben muss.
Dabei setzt Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entgegen der Auffassung der Klägerin voraus, dass die Arbeitnehmereigenschaft des Familienangehörigen, zu dem der Familiennachzug genehmigt wurde, im Zeitpunkt des Familiennachzugs bestehen und während der ersten drei Aufenthaltsjahre andauern muss (OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 7.2.2012 – OVG 11 S 75.11 – juris). Dies entspricht der Auslegung von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 durch den Europäischen Gerichtshof, der auf das Vorliegen der anspruchsbegründenden Voraussetzungen während der ersten drei Jahre des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat abstellt (vgl. EuGH, U.v. 17.4.1997 – C-351/95 – juris; U.v. 16.6.2011 – C-484/97 – juris). Die Geburt im Bundesgebiet ist dem genehmigten Zuzug gleichzusetzen (EuGH, U.v. 7.7.2005 – C-373/03 – juris).
Im Fall der Klägerin, die im Bundesgebiet geboren ist, kommt es daher auf die ersten drei Jahre nach ihrer Geburt, sprich den Zeitraum vom …. August 1989 bis …. August 1992, an.
Da der Vater der Klägerin erst am …. Januar 1991 in das Bundesgebiet eingereist ist, kann die Klägerin ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 von diesem nicht ableiten.
Mit ihrer Mutter hat die Klägerin zwar über den gesamten maßgeblichen Zeitraum tatsächlich zusammengelebt. Diese hat jedoch zum Zeitpunkt der Geburt der Klägerin nicht (mehr) dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehört, so dass die notwendige Arbeitnehmereigenschaft im Zeitpunkt des Familiennachzugs nicht bestanden und somit auch nicht während der ersten drei Aufenthaltsjahre angedauert hat.
Der Begriff der Zugehörigkeit des türkischen Arbeitnehmers zum regulären Arbeitsmarkt bezeichnet im Rahmen der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 die Gesamtheit der Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats nachkommen und somit das Recht haben, eine Berufstätigkeit in dessen Hoheitsgebiet auszuüben (EuGH, U.v. 26.11.1998 – C-1/97 – juris; U.v. 24.1.2008 – C-294/06 – juris).
Ein türkischer Arbeitnehmer gehört trotz einer vorübergehenden Unterbrechung seines Arbeitsverhältnisses für den Zeitraum, der angemessen ist, um eine andere Beschäftigung zu finden, weiterhin im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats an, und zwar unabhängig davon, welchen Grund die Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt hat, sofern diese Abwesenheit vorübergehender Natur ist (EuGH, U.v. 7.7.2005 – C-383/03 – juris). Ein türkischer Arbeitnehmer ist erst dann vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen, wenn er objektiv keine Möglichkeit mehr hat, sich in den Arbeitsmarkt wiedereinzugliedern, oder den Zeitraum überschritten hat, der angemessen ist, um nach einer vorübergehenden Beschäftigungslosigkeit eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden.
Die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs zum Begriff der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 können auch für die Auslegung von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 herangezogen werden. Würde dieser Begriff unterschiedlich ausgelegt, je nachdem, ob er im Rahmen von Art. 6 oder von Art. 7 ARB 1/80 betrachtet wird, könnte dies die Kohärenz des Systems beeinträchtigen, das der Assoziationsrat eingerichtet hat, um die Lage der türkischen Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat schrittweise zu festigen (EuGH, U.v. 18.12.2008 – C-337/07 – juris).
Die Mutter der Klägerin ist ausweislich des Rentenversicherungsverlaufs vom …. Juni 2015 (Bl. 14 ff. der Behördenakte) in der Zeit vom …. April 1985 bis …. Dezember 1986 einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen und dürfte daher Rechte aus Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben haben. Im Anschluss daran sind bis zum …. September 1987 allerdings keinerlei Zeiten verzeichnet. Vom …. September 1987 bis …. November 1987 sind Zeiten der Arbeitslosigkeit verzeichnet. Danach folgen nach einer weiteren Lücke erst wieder vom …. April 1988 bis …. August 1988 Zeiten von Arbeitslosigkeit. Vom …. August 1988 bis zum …. September 1989 folgen ausschließlich Pflichtbeitragszeiten für Kindererziehung, Schwangerschaft/Mutterschutz.
Zwar führt nach der o.g. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht jede vorübergehende Abwesenheit des türkischen Arbeitnehmers vom Arbeitsmarkt zum Ausscheiden aus dem regulären Arbeitsmarkt. Die praktische Wirksamkeit der eingeräumten Rechte umfasst vielmehr auch das Recht auf vorübergehende Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses. Eine derartige Unterbrechung ist für die Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt jedoch nur dann unschädlich, wenn der Betroffene tatsächlich eine neue Arbeit sucht und der Arbeitsverwaltung unter Beachtung der jeweiligen nationalen Vorschriften zur Verfügung steht, um innerhalb eines angemessenen Zeitraums eine andere Beschäftigung zu finden. Ist dieser nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung der Zielsetzung des Assoziationsabkommens zu bestimmende angemessene Zeitraum für eine effektive Beschäftigungssuche überschritten, gehört der Betroffene nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt an. Unter Hinweis auf die insoweit als Leitlinien heranzuziehenden Regelungen für freizügigkeitsberechtigte Gemeinschaftsangehörige ist dabei in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein Zeitraum von sechs Monaten zur Stellensuche grundsätzlich als ausreichend angesehen worden (vgl. U.v. 26.2.1991 – C-292/89 – juris). Etwas anderes gilt danach in den Fällen, in denen der Betroffene nach Ablauf dieses Zeitraums den Nachweis erbringt, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg eine neue Beschäftigung sucht (OVG Berlin-Brandenburg, a. a. O.).
Die Mutter der Klägerin ist im vorliegenden Fall nach Beendigung ihrer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zum …. Dezember 1986 bis zum Beginn des Mutterschutzes am …. August 1988 über eineinhalb Jahre keiner Beschäftigung als Arbeitnehmerin im Bundesgebiet nachgegangen. Damit ist der Zeitraum von sechs Monaten, der im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung der Gesamtumstände und insbesondere der erst ein Jahr und acht Monate währenden Beschäftigung im Bundesgebiet ausreichend erscheint, um ein Vielfaches überschritten. Aussichtsreiche Bemühungen um eine neue Arbeitsstelle während der gesamten Dauer der erheblich länger als sechs Monate währenden Arbeitslosigkeit sind weder vorgetragen worden noch ersichtlich. Vielmehr ist festzustellen, dass die Mutter der Klägerin in diesem Zeitraum lediglich etwa acht Monate arbeitslos gemeldet war und damit der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stand. Im Übrigen Zeitraum sind keinerlei Zeiten gemeldet mit der Folge, dass die Mutter der Klägerin in diesen Zeiten der Arbeitsverwaltung nicht zur Verfügung stand, so dass in diesen Zeiträumen nicht von ernsthaften Bemühungen der Mutter der Klägerin um einen neuen Arbeitsplatz ausgegangen werden kann. Insbesondere liegt eine über neunmonatige Unterbrechung im Versicherungsverlauf ohne Arbeitslosigkeitsmeldung nach Beendigung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung vor, so dass die angemessene Frist von sechs Monaten zur Arbeitsplatzsuche bereits ohne jedes Bemühen in dieser Richtung verstrichen ist.
Da die Mutter der Klägerin somit zum Zeitpunkt ihrer Geburt wegen Überschreitung des Zeitraums, der angemessen ist, um nach einer vorübergehenden Beschäftigungslosigkeit eine neue Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zu finden, nicht mehr dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik angehört hat, hat die Klägerin Rechte gem. Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 nicht erworben. Auf die Frage, ob sie Rechte nach dem ARB 1/80 durch ihre Ausreise in die Türkei verloren hat, kommt es daher nicht mehr an.
3. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf EUR 5.000,- festgesetzt (§ 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.