Europarecht

Verlängerung der Überstellungsfrist bei Inhaftierung

Aktenzeichen  Au 1 E 18.50712

Datum:
27.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26028
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

Eine Verlängerung der Überstellungsfrist auf höchstens ein Jahr nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO ist nicht wirksam, wenn die Überstellung nicht gerade an der Inhaftierung des Asylsuchenden scheitert, sondern an organisatorischen Schwierigkeiten. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig verpflichtet, die Regierung von * – Zentrale Ausländerbehörde * – anzuweisen, von der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zur Überstellung des Antragstellers nach Italien abzusehen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Antragsgegnerin zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein gambischer Staatsangehöriger, begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Regierung von * – Zentrale Ausländerbehörde * – anzuweisen, von der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zur Überstellung des Antragstellers nach Italien abzusehen.
Er reiste am 29. Oktober 2017 in das Bundesgebiet ein und stellte am 30. November 2017 einen förmlichen Asylantrag. Nachdem für den Antragsteller ein EURODAC-Treffer vorlag, stellte das Bundesamt am 20. Dezember 2017 ein Übernahmegesuch an Italien, auf welches Italien nicht reagierte.
Mit Bescheid vom 8. Januar 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen und ordnete die Abschiebung nach Italien an.
Ausweislich der in den Akten befindlichen Empfangsbestätigung wurde der Bescheid dem Antragsteller am 11. Januar 2018 persönlich in der Aufnahmeeinrichtung * ausgehändigt.
Am 12. Januar 2018 erhob der Antragsteller hiergegen Klage (Au 8 K 18.50073) und begehrte zudem im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen (Au 8 S 18.50074). Den Eilantrag lehnte das Verwaltungsgericht Augsburg mit Beschluss vom 22. Januar 2018 ab. Die Klage wurde mit Urteil vom 9. März 2018 abgewiesen. Das Urteil ist seit dem 12. Mai 2018 rechtskräftig.
Der Antragsteller befand sich vom 15. März 2018 bis 22. Mai 2018 in Untersuchungshaft. Aufgrund des Ersuchens der Zentralen Ausländerbehörde * vom 4. April 2018 erteilte die Staatsanwaltschaft * am 6. April 2018 ihr Einvernehmen mit der Abschiebung. Am 15. Mai 2018 verlängerte die Antragsgegnerin die Überstellungsfrist bis zum 22. Januar 2019, weil eine Überstellung des Antragstellers wegen dessen Inhaftierung nicht möglich sei und teilte dies den italienischen Behörden mit Schreiben vom 15. Mai 2018 mit.
Am 28. August 2018 ließ der Antragsteller Klage erheben und begehrt die Aufhebung des Bescheids der Antragsgegnerin vom 8. Januar 2018. Über die Klage ist bislang noch nicht entschieden worden. Vorliegend begehrt er einstweiligen Rechtsschutz. Zur Begründung wird ausgeführt, dass ein Anordnungsanspruch gegeben sei, weil eine Abschiebung des Antragstellers wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist nicht mehr erfolgen dürfe. Es liege auch ein Anordnungsgrund vor, weil das Bundesamt sowie die für die Durchführung der Überstellung zuständige Zentrale Ausländerbehörde * von einer vollziehbaren Ausreisepflicht des Antragstellers ausgingen.
Der Antragsteller beantragt,
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der zuständigen Zentralen Ausländerbehörde * die Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu untersagen.
Das Bundesamt hat die Behördenakte vorgelegt, sich ansonsten im vorliegenden Verfahren aber nicht geäußert.
Ergänzend wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Behördenakte.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
1. Gegenstand des nach § 123 VwGO statthaften und auch im Übrigen zulässigen Antrags ist die vom Antragsteller begehrte einstweilige Anordnung der Verpflichtung der Antragsgegnerin, die Regierung von * – Zentrale Ausländerbehörde * – anzuweisen, von der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zur Überstellung des Antragstellers nach Italien abzusehen.
2. Der Antrag ist auch begründet.
a) Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete strittige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend sind dabei gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
b) Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Antragsteller das Bestehen eines Anordnungsgrundes sowie eines Anordnungsanspruches glaubhaft gemacht.
(1) Die Antragsgegnerin sowie die Zentrale Ausländerbehörde * gehen – wie sie dem Gericht gegenüber telefonisch mitgeteilt haben – davon aus, dass eine Überstellung des Antragstellers nach Italien wegen der Verlängerung der Überstellungsfrist nach wie vor noch möglich und rechtlich zulässig ist. Der Antragsteller muss daher immer noch mit der Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen rechnen, sodass ein Anordnungsgrund besteht.
(2) Dem Antragsteller steht auch ein Anordnungsanspruch zu. Eine Überstellung nach Italien darf nicht mehr erfolgen, weil nach Ablauf der Überstellungsfrist am 22. Juli 2018 die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin-III-VO) auf die Antragsgegnerin übergegangen ist. Damit stellt sich der Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. Januar 2018 mittlerweile als rechtswidrig dar (siehe hierzu auch BayVGH, B.v. 17.8.2018 – 13a AS 18.50050 – juris, Rn. 15).
(a) Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO geregelten Frist von sechs Monaten nach Entstehen der Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverpflichtung durchgeführt wird. Am 20. Dezember 2017 richtete die Antragsgegnerin ein Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden. Die italienischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin nicht geantwortet und ihm damit stattgegeben, was die Verpflichtung nach sich zieht, die entsprechende Person wieder aufzunehmen (Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO). Am 4. Januar 2018 galt somit die Zustimmung zur Wiederaufnahme des Antragstellers als erteilt und Italien hatte den Antragsteller wieder aufzunehmen. Die sechsmonatige Frist wäre demzufolge am 4. Juli 2018 abgelaufen. Vorliegend ist die Überstellungsfrist allerdings erst am 22. Juli 2018 abgelaufen, weil die sechsmonatige Überstellungsfrist mit der Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das Verwaltungsgericht Augsburg am 22. Januar 2018 neu zu laufen begonnen hatte (vgl. auch BayVGH, B.v. 17.8.2018 – 13a AS 18.50050 – juris, Rn. 15).
(b) Die Überstellungsfrist ist von der Antragsgegnerin auch nicht wirksam gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO auf ein Jahr verlängert worden. Nach dieser Vorschrift kann die Frist höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte. Vorliegend ist diese Voraussetzung nicht gegeben. Ausweislich des Wortlauts der Vorschrift des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO ist eine Verlängerung der Überstellungsfrist nur zulässig, wenn eine Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist nicht möglich ist und hierfür die Inhaftierung der betreffenden Person ursächlich ist. Im Fall des Antragstellers ist allerdings eine Überstellung nicht wegen der Inhaftierung des Antragstellers gescheitert. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der von der Antragsgegnerin getroffenen Entscheidung zur Verlängerung der Überstellungsfrist auf ein Jahr am 15. Mai 2018 konnte die Antragsgegnerin nicht davon ausgehen, dass eine Überstellung des Antragstellers gerade wegen der Inhaftierung nicht erfolgen können wird. Denn bereits am 6. April 2018 erteilte die Staatsanwaltschaft * das Einvernehmen zur Abschiebung i.S.d. § 72 Abs. 4 AufenthG gegenüber der Zentralen Ausländerbehörde *. Wie sich zudem aus einem Schreiben der Polizeiinspektion – Schubwesen – * vom 9. Mai 2018 an die Staatsanwaltschaft * ergibt, war zum Zeitpunkt der Verlängerung der Überstellungsfrist bereits eine Luftabschiebung nach Italien für den 6. Juli 2018 geplant und ein konkreter Flug nach * ausgewählt. Unter Berücksichtigung dieser Umstände durfte die Antragsgegnerin am 15. Mai 2018 keinesfalls davon ausgehen, dass eine Abschiebung des Antragstellers wegen dessen Inhaftierung scheitern werde. Selbst für den Fall, dass noch kein konkreter Abschiebetermin festgestanden hätte, hätte die Antragsgegnerin nicht annehmen können, dass eine Abschiebung aufgrund der Inhaftierung nicht werde erfolgen können, weil die Überstellungsfrist noch über zwei Monate gelaufen wäre und eine Überstellung sich auch innerhalb dieser Zeit organisieren und realisieren lassen müsste. Sofern dies nicht möglich ist, beruht dies nicht auf der Inhaftierung der betreffenden Person, sondern hat ihre Ursache in organisatorischen Schwierigkeiten der mit der Abschiebung befassten Behörden, die in deren Verantwortungsbereich fällt, aber eine Verlängerung der Überstellungsfrist nicht zu rechtfertigen vermag.
(c) Dem Antragsteller steht auch ein subjektives Recht zu, sich auf den Ablauf der Überstellungsfrist und die mittlerweile eingetretene Zuständigkeit der Antragsgegnerin zu berufen. Er hat nach materiellem Asylrecht einen Anspruch darauf, dass die nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zuständige Antragsgegnerin das Asylverfahren durchführt (EuGH, U.v. 25.10.2017 – C-201/16 – juris Rn. 46).
3. Die Kostenentscheidung für das gerichtliche Verfahren ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Als unterlegener Teil hat die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Dieser Beschluss ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.

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