Verwaltungsrecht

Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Äthiopien

Aktenzeichen  AN 3 K 17.31776

Datum:
20.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 1920
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1, § 31 Abs. 2 S. 1, Abs. 3, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
AufenthG § 11 Abs. 1, Abs. 2, § 60 Abs. 1
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1, § 154 Abs. 1, § 161 Abs. 1
QRL Art. 4 Abs. 4
RVG § 30 Abs. 1 S. 1
ZPO §§ 114 ff.

 

Leitsatz

1 Den Erkenntnisquellen sind keine Gründe zu entnehmen für eine Widerlegung der beweiserleichternden Vermutung bei relevanter Vorverfolgung in Äthiopien als oromischer Volkszugehöriger mit geäußerter regierungskritischer Haltung. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2 Wird die Flüchtlingseigenschaft gerichtlich zuerkannt, ist der streitgegenständliche Bescheid hinsichtlich des subsidiären Schutzstatus und der Abschiebungsverbote wegen Gegenstandslosigkeit aufzuheben. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine Abschiebungsandrohung ist aufzuheben, wenn ihr wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die rechtliche Grundlage fehlt. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
4 Bei Entfallen der Ausreisepflichtigkeit ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots aufzuheben. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 10. März 2017 wird hinsichtlich der Ziffern 1 und 3, 4, 5 und 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m.§ 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die im Hauptantrag auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG beschränkte Klage ist zulässig und begründet.
Die Ziffern 1, 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der Bescheid, wie beantragt, insoweit aufzuheben.
1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling i.S.d. Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung, wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Ergänzend hierzu bestimmt § 3a AsylG die Verfolgungshandlungen, § 3b AsylG die Verfolgungsgründe, § 3c AsylG die Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, § 3d AsylG die Akteure, die Schutz bieten können und § 3e AsylG den internen Schutz.
§ 3a Abs. 3 AsylVfG regelt ausdrücklich, dass zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. den in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen muss.
Ausschlussgründe, wonach ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, sind in § 3 Abs. 2 und 3 AsylG geregelt.
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 des AufenthG.
Mit Rücksicht darauf, dass sich der Schutzsuchende vielfach hinsichtlich asylbegründender Vorgänge außerhalb des Gastlandes in einem gewissen, sachtypischen Beweisnotstand befindet, genügt bezüglich dieser Vorgänge für die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebotene richterliche Überzeugungsgewissheit in der Regel die Glaubhaftmachung. Dies bedeutet, dass das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit begnügen muss, die auch nicht völlig auszuschließende Zweifel mit umfasst (vgl. BVerwG, U.v. 29.11.1977, Buchholz 402.24, § 28 AuslG Nr. 11; U.v. 16.4., 1.10. und 12.11.1985, Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG Nrn. 32, 37 und 41).
Dabei ist der Beweiswert der Aussage des Asylbewerbers im Rahmen des Möglichen wohlwol-lend zu beurteilen. Er muss jedoch andererseits von sich aus unter Angabe genauer Einzelhei-ten einen in sich stimmigen, widerspruchsfreien Sachverhalt schildern. Bei erheblichen Wider-sprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann ihm nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 20.10.1987, Buchholz 310, § 86 Abs. 3 VwGO, Nr. 37; B.v. 21.07.1989, Buchholz 402.25, § 1 AsylVfG, Nr. 113).
An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerfG, B.v. 29.11.1990, InfAuslR 1991, 94, 95; BVerwG, U.v. 30.10.1990, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 135; B.v. 21.7.1989, Buchholz a.a.O., Nr. 113).
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“). Dieser gilt für Anerkennung und Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft gleichermaßen und entspricht demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 -, juris Rn.20/23).
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 –, juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 QRL zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 -, juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 -, juris Rn.25; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2014, § 3 AsylG, Rn. 9-14).
2. Gemessen an den dargestellten Grundsätzen konnte der Kläger glaubhaft darlegen, dass er unmittelbar vor seiner Ausreise Maßnahmen staatlicher Stellen in Anknüpfung an in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründen ausgesetzt war und dass er für den Fall seiner Rückkehr mit einer Wiederholung der sowohl vor dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung beschriebenen staatlichen Maßnahmen der Inhaftierung wegen seiner regierungskritischen Haltung rechnen muss. Der Kläger hat deshalb einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4 AsylG) und darf nicht nach Äthiopien abgeschoben werden, § 60 Abs. 1 AufenthG.
Der Kläger hat für seinen konkreten Einzelfall glaubhaft dargelegt, dass er in Äthiopien staatlicher Verfolgung ausgesetzt war.
Nach seinen Einlassungen in der mündlichen Verhandlung, die detailreich, anschaulich und frei von Widersprüchen waren und sich mit dem Inhalt der dem Gericht zur Verfügung stehenden und zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen decken, geriet der Kläger nach der Demonstration am 29./30. April 2014 als oromischer Volkszugehöriger mit geäußerter regierungskritischer Haltung derart ins Visier staatlicher Stellen, dass die für die Annahme politischer Verfolgung erforderliche Eingriffsintensität erreicht wurde (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 20.2.2013, a.a.O. Rn.34).
Dabei ist für die Annahme einer begründeten Furcht vor Verfolgung unerheblich, ob der Betroffene tatsächlich die politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG.
Nachdem auch die Beschreibung seiner Flucht, für deren Glaubhaftigkeit das Gericht maßgeblich darauf abstellt, dass der Kläger ausgebildeter Kampfsportler ist, sowohl von der geografischen Beschreibung der Verhältnisse als auch von den Abläufen überzeugt hat, ist davon auszugehen, dass dem Kläger die geschilderten Verfolgungshandlungen tatsächlich widerfahren sind und er für den Fall seiner Wiedereinreise nach Äthiopien mit weiteren Verfolgungshandlungen staatlicher Stellen zu rechnen hat. Gründe, die diese Vermutung nach dem Maßstab des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU widerlegen könnten, sind weder den der Entscheidung zugrundeliegenden Erkenntnisquellen zu entnehmen noch ergeben sie sich aus dem Vortrag der Beteiligten, insbesondere auch nicht aus den Erwägungen des Bundesamtes in der Begründung des streitgegenständlichen Bescheides.
Die Glaubhaftigkeit des klägerischen Vorbringens wird insbesondere dadurch verstärkt, dass er – im Gegensatz zu den meisten Asylbewerbern mit äthiopischer Staatsangehörigkeit – nicht angibt, sich im Bundesgebiet exilpolitisch zu betätigen.
Da der Kläger nicht den Aberkennungsausnahmen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt und auch nicht den in § 3 Abs. 3 AsylG anderweitigen Schutzumfang genießt, ist ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 3 Abs. 4 AsylG).
Nachdem die Klage im Hauptantrag Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung mehr über die hilfsweise gestellten Anträge.
Gleichwohl war der streitgegenständliche Bescheid auch in den Ziffern 3 und 4 wegen Ge-genstandslosigkeit aufzuheben, vgl. § 31 Abs. 3 und 2 Satz 1 AsylG (Beck’scher Onlinekommentar, Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 16. Edition, Stand 1.11.2017, § 31 AsylG Rn. 23 f.).
Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 war aufzuheben, weil ihr wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die rechtliche Grundlage fehlt (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG), wegen Entfallens der Ausreisepflichtigkeit war auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2, 1 AufenthG aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kostenentscheidung mit Ab-wendungsbefugnis folgt §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 b AsylVfG.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen