Europarecht

Unzulässige Abschiebungsanordnung wegen Ablauf der Überstellungsfrist nach Ungarn

Aktenzeichen  B 3 K 15.50319

Datum:
28.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 17, Art. 18, Art. 23, Art. 27, Art. 29
AsylG AsylG § 27a, § 31 Abs. 6
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Nach Ablauf von sechs Monaten nach der fiktiven Annahme des Wiederaufnahmegesuchs geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. (redaktioneller Leitsatz)
Liegen weder eine ausdrückliche Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaates zur Wiederaufnahme des Asylbewerbers noch Anhaltspunkte für die Annahme einer nach Fristablauf bestehenden Aufnahmebereitschaft des ersuchten Mitgliedstaates vor, steht dem Asylbewerber hinsichtlich der Prüfung der Zuständigkeit des Mitgliedstaates ein subjektiv-öffentliches Recht zu.     (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18.11.2015 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die Ablehnung des Asylantrags durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellt sich inzwischen als rechtswidrig dar und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gleiches gilt für die Abschiebungsanordnung.
Die Ablehnung des Asylantrags gemäß § 27a, § 31 Abs. 6 AsylG als unzulässig, erfolgte ursprünglich zu Recht, weil Ungarn als Mitgliedsstaat der Europäischen Union gemäß Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO verpflichtet war, die Kläger wieder aufzunehmen, die während der Prüfung ihres Antrags in Ungarn einen weiteren Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland gestellt haben.
Diese ursprünglich rechtmäßige Ablehnung stellt sich nunmehr jedoch als rechtswidrig dar, weil Ungarn nicht mehr der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Staat ist. Die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Dublin III-VO ist abgelaufen.
Diese Überstellungsfrist beträgt gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO grundsätzlich sechs Monate nach der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Ungarn. Da es sich vorliegend um ein Wiederaufnahmegesuch im Sinne von Art. 23 Abs. 1 i. V. m. Art. 18 Abs. 1b Dublin III-VO handelt und Ungarn innerhalb von zwei Wochen (vgl. Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO) keine Antwort darauf erteilte, war gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO davon auszugehen, dass dem Wiederaufnahmegesuch vom 31.07.2015 mit Wirkung vom 15.08.2015 stattgegeben wurde. Die Überstellung der Kläger nach Ungarn wurde allerdings nicht innerhalb von sechs Monaten nach der fiktiven Annahme des Wiederaufnahmegesuchs (vom 15.08.2016, s.o.) durchgeführt, so dass der ursprünglich zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Wiederaufnahme der Kläger verpflichtet ist; vielmehr geht nach Ablauf dieser Frist die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat, hier die Bundesrepublik Deutschland, über (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO). Damit ist die Bundesrepublik Deutschland seit dem 15.02.2016 für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger zuständig.
Im vorliegenden Fall gibt es im Übrigen auch keinen vernünftigen Anhaltspunkt dafür, dass der ersuchte Staat – Ungarn – als nunmehr unzuständiger Mitgliedstaat einem nachträglich gestellten Ersuchen zustimmen und dadurch nach Art. 17 Dublin III-VO beschließen würde, das Selbsteintritt auszuüben, wenn bereits jetzt seine Zustimmung nur auf einer gesetzlichen Fiktion beruht.
Eine Fristverlängerung gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, insbesondere wegen Inanspruchnahme des Kirchenasyls ab dem 01.03.2016 (vgl. dazu Bayerisches Verwaltungsgericht Bayreuth, Gerichtsbescheid vom 07.03.2016, Az. B 3 K 15.50293), kommt vorliegend nicht in Betracht, weil das Kirchenasyl erst nach dem bereits erfolgten Zuständigkeitsübergang erfolgte.
Auch eine „Verlängerung“ der Überstellungsfrist durch das erfolglose Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO kann nach dem Wortlaut von Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO nicht (mehr) angenommen werden.
Danach beginnt die Überstellungsfrist von sechs Monaten entweder nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchens oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung zu laufen, „wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 (Dublin III-VO) aufschiebende Wirkung hat“. Nach Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO sehen die Mitgliedsstaaten in ihrem nationalen Recht Regelungen zur „aufschiebenden Wirkung“ vor. Die Dublin III-VO stellt hierfür folgende drei Varianten zur Verfügung:
Nach der 1. Variante kann das nationale Recht ein Bleiberecht der betroffenen Person bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs vorsehen.
Nach der 2. Variante kann das nationale Recht vorsehen, dass die Überstellung der betroffenen Person automatisch ausgesetzt wird, bis ein Gericht innerhalb einer angemessenen Frist entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird.
Die 3. Variante gibt dem Betroffenen die Möglichkeit, bei einem Gericht eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. Die Mitgliedsstaaten sorgen für einen wirksamen Rechtsbehelf dergestalt, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis eine Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist.
Der nationale Gesetzgeber hat damit verschiedene Möglichkeiten zur Rechtsetzung. Er muss sich dabei nicht der europarechtlichen Terminologie anschließen; es genügt, wenn er die europarechtlichen Absichten und Ziele umsetzt.
Der deutsche Gesetzgeber hat sich für die 3. Variante entschieden. Nach aktuellem deutschem Recht hat der Rechtsbehelf die Klage gegen eine Überstellungsentscheidung keine aufschiebende Wirkung (vgl. § 75 AsylG). Der Rechtsbehelf mit dem Ziel, dass das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Überstellungsentscheidung des Bundesamtes anordnet, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Dem Erfordernis, die Überstellung vor einer gerichtlichen Entscheidung über den (ersten) Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auszusetzen, wird in § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG Rechnung getragen.
Damit bleibt festzuhalten, dass dem Rechtsbehelf – der Klage – nach deutschem Recht keine aufschiebende Wirkung im Sinne von Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO zukommt, es sei denn das Gericht ordnet gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung an (vgl. dazu VG Regensburg vom 26.01.2016, Az. RO 4 K 15.50476).
Da der Antrag der Kläger auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung erfolglos blieb (vgl. Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 07.12.2015, Az. B 3 S 15.50318), haben die erhobenen Klagen der Kläger gerade keine aufschiebende Wirkung im Sinne von Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO und deshalb auch keine Auswirkung auf den Ablauf der Überstellungsfrist.
Die Kläger sind durch die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig auch in ihren Rechten verletzt.
Die Rechtswidrigkeit der Entscheidung bewirkt dann eine Rechtsverletzung bei dem Adressaten des Verwaltungsakts, wenn die in der Dublin III-VO festgelegten Vorschriften für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats nicht nur die organisatorischen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern auch dem Grundrechtsschutz dienen und folglich individualschützend sind (vgl. BVerwG, U. v. 16.11.2015, Az. 1 C 4.15 in juris Rn. 24).
Zwar erwachsen einem Asylbewerber grundsätzlich keine subjektiven Rechte aus dem Ablauf von Fristen, die die Zuständigkeit zweier Mitgliedsstaaten regeln. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedenfalls im Fall der ausdrücklichen Zustimmung des ersuchten Mitgliedsstaates zur Aufnahme entschieden, dass sich aus einem Fristablauf keine subjektiven Rechte des Asylbewerbers ableiten lassen (vgl. BVerwG vom 27.10.2015, Az. 1 C 32.14 u. a., in juris).
In der vorliegenden Fallkonstellation liegt allerdings gerade keine ausdrückliche Zustimmung des ersuchten Mitgliedsstaates vor. Vielmehr ist nach dem Wortlaut der Dublin III-VO von seiner Zustimmung lediglich auszugehen; sie wird aus pragmatischen, organisatorischen Gründen durch Fristablauf fingiert (s.o.), um das Verfahren – auch im Interesse des Asylbewerbers – zu beschleunigen (so ausdrücklich EuGH, Urteil vom 10.12.2013, Az. C 394/12, Abdullahi; BVerwG vom 08.07.2015, Az. 1 B 30.15).
Aus diesem Beschleunigungsgebot lässt sich nicht nur die Selbsteintrittspflicht des überstellenden Mitgliedstaats ableiten, wenn das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates unangemessen lang andauert (vgl. dazu EuGH vom 14.11.2013, Az. C-4/11, Puid; vom 21.12.2011, Az. C-411/10, Az. C-493/10, N.S. u. a. Rdnrn. 98 und 108) sondern auch die Pflicht, keine Überstellung mehr vorzunehmen, wenn er inzwischen zuständig, der Zielstaat nicht mehr zur Aufnahme bereit und dazu auch nicht verpflichtet ist. Denn dann ist mit der Rücküberstellung des betroffenen Asylbewerbers zu rechnen, was die sachliche Prüfung seines Asylantrages unnötig verzögern würde und deshalb mit dem Anspruch des Asylbewerbers auf ein effektives und zügiges Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates nicht zu vereinbaren wäre (vgl. dazu OVG Sachsen vom 05.10.2015, Az. 5 B 259/15.A – in juris -).
Es bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass Ungarn trotz Fristablaufs weiterhin aufnahmebereit sein könnte. Eine Verpflichtung zur Aufnahme über die normierten sechs Monate hinaus lässt sich aus der Zustimmungsfiktion jedenfalls nicht ableiten. Für die Annahme einer darüber hinaus bestehenden Aufnahmebereitschaft des ersuchten Mitgliedstaats hat die Beklagte nichts vorgetragen. Die materielle Beweislast hierfür liegt bei der Beklagten, so dass der fehlende Nachweis zu ihren Lasten geht.
Für einen Individualrechtsschutz spricht außerdem die Erwägung, dass nach Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung besteht (s. auch Erwägungsgrund Nr. 19 und Art. 46 Abs. 1 Buchst. a Nr. ii der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes). Als eine solche ist auch eine Unzuständigkeitsentscheidung nach nationalem Recht zu erachten (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof vom 03.12.2015, Az. 13a B 15.50173).
2. Da das Bundesamt den Asylantrag zu Unrecht nach § 27a AsylG als unzulässig abgelehnt hat, liegen auch die Voraussetzungen für die Abschiebungsanordnung in Nr. 2 des Bescheids nach § 34a AsylG nicht vor (BVerwG, U. v. 16.11.2015, Az. 1 C 4.15, in juris Rn. 33). Aus dem gleichen Grund fehlen die Voraussetzungen für den Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 AufenthG.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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