Europarecht

Beginn der Überstellungsfrist im Dublin III-Verfahren

Aktenzeichen  Au 3 K 15.50511

Datum:
18.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1, § 34a Abs. 2 S. 2
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 25 Abs. 2, Art. 27 Abs. 3c, Art. 29 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO beginnt im Fall der Stellung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO, mit dem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG beantragt wird, frühestens mit der Ablehnung dieses Antrags. (amtlicher Leitsatz)

Gründe

Bayerisches Verwaltungsgericht Augsburg
Aktenzeichen: Au 3 K 15.50511
Im Namen des Volkes
Gerichtsbescheid
vom 18. April 2016
In der Verwaltungsstreitsache

– Kläger –
bevollmächtigt: …
gegen

– Beklagte –
beteiligt: …
wegen Durchführung eines Asylverfahrens
erlässt das Bayerische Verwaltungsgericht Augsburg, 3. Kammer, durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht … als Vorsitzenden, den Richter am Verwaltungsgericht …, den Richter am Verwaltungsgericht … ohne mündliche Verhandlung am 18. April 2016 folgenden
Gerichtsbescheid:
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Der Kläger, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte am 3. August 2015 bei der Außenstelle … des Bundesamts einen Asylantrag. Nachdem eine EURODAC-Abfrage ergeben hatte, dass der Kläger bereits am 29. August 2013 in Italien einen Asylantrag gestellt hatte, richtete das Bundesamt am 29. September 2015 ein Wiederaufnahmegesuch an Italien. Eine Antwort erfolgte nicht.
Mit Bescheid vom 8. Dezember 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab, ordnete die Abschiebung nach Italien an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Am 17. Dezember 2015 erhob der Kläger Klage und beantragte sinngemäß,
den Bescheid des Bundesamts vom 8. Dezember 2015 aufzuheben.
Zugleich beantragte er, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 8. Dezember 2015 anzuordnen. Dieser Antrag wurde mit Beschluss des Gerichts vom 29. Januar 2016 abgelehnt. Daraufhin teilte der Bevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 5. Februar 2016 mit, dieser werde aller Voraussicht nach bis Ende Februar aus freien Stücken ausreisen.
Mit Schreiben vom 5. Februar 2016 kündigte das Gericht den Beteiligten den Erlass eines Gerichtsbescheids an.
Mit Schreiben vom 23. März 2016 teilte der Bevollmächtigte des Klägers mit, dieser habe es sich anders überlegt und wolle nun eine gerichtliche Entscheidung. Entgegen anwaltlichen Rates halte er sich nach wie vor in der Bundesrepublik auf.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung nach Italien ist rechtmäßig. Nach dieser Bestimmung ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylG) an, wenn der Ausländer in diesen Staat abgeschoben werden soll und feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
Da Italien das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts vom 29. September 2015 nicht innerhalb der Frist von zwei Wochen gemäß Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO beantwortet hat, ist es verpflichtet, den Kläger wieder aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für seine Ankunft zu treffen (vgl. Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO). Die kraft der Verordnung fingierte Zustimmung Italiens zur Wiederaufnahme des Klägers entfaltet konstitutive Wirkung (vgl. BayVGH, U.v. 21.5.2015 – 14 B 12.30323 – BayVBl 2015, 682 zur Dublin II-VO). Schon deshalb ist es nicht entscheidungserheblich, dass der Kläger früher in Griechenland einen Asylantrag gestellt hat und dort als Asylbewerber registriert worden ist.
Wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinn des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen (vgl. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO), gibt es nicht (vgl. BVerwG, B.v. 6.6.2014 – 10 B 35.14 – juris Rn. 5 f.).
Einer Rückführung des Klägers nach Italien stehen auch keine tatsächlichen oder rechtlichen Hindernisse entgegen. Dass die bei ihm diagnostizierte „venöse Malformation in den anterioren Stammganglien linkshirnig“ nicht in Italien behandelt werden kann, ist weder geltend gemacht noch ersichtlich. Der Kläger macht nicht geltend, er habe Italien wegen unzureichender medizinischer Behandlungsmöglichkeiten verlassen. Vielmehr trägt er vor, er habe sich nach Deutschland abgesetzt, weil er in Italien – wie bereits in seinem Heimatland Pakistan und in Griechenland – Morddrohungen von Landsleuten bzw. Angehörigen eines schiitischen Familienclans erhalten habe. Dieses unsubstantiierte Vorbringen ist jedoch nicht nachvollziehbar und völlig unrealistisch, zumal der Kläger offenbar nie Anzeige bei der Polizei erstattet hat.
Die Zuständigkeit Italiens ist bisher nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO entfallen. Da die 6-Monats-Frist noch nicht abgelaufen ist, kann dahingestellt bleiben, ob sich ein Rücküberstellungsbetroffener auf diese dem Aufnahmestaat zustehende Frist, nach deren Ablauf er eine Rückübernahme verweigern darf, überhaupt berufen kann (insoweit bejahend BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50173 – juris; verneinend VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris). Zwar sind seit der am 13. Oktober 2015 erfolgten Zustimmung Italiens zur Wiederaufnahme des Klägers inzwischen mehr als sechs Monate vergangen, doch beginnt die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO im Fall eines rechtzeitig gestellten Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO, mit dem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG beantragt wird, frühestens mit der Ablehnung des Eilantrags (vgl. VG Karlsruhe, B.v. 30.11.2014 – A 5 K 2026/14 – juris; VG Regensburg, B.v. 21.11.2014 – RN 5 S 14.50276 – juris; VG Frankfurt, B.v. 19.9.2014 – 6 L 586/14.A – juris; VG Dresden, B.v. 19.8.2014 – A 2 L 681/14 – juris; VG Cottbus, B.v. 14.8.2014 – 5 L 231/14.A – juris; VG Hamburg, B.v. 4.6.2014 – 10 AE 2414/14 – juris; VG Göttingen, B.v. 28.11.2013 – 2 B 887/13 – juris; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG Stand November 2013, § 27a Rn. 227; a.A. OVG NW, B.v. 8.9.2014 – 13 A 1347/14.A – juris zur Dublin II-VO).
Seit Inkrafttreten des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG (jetzt: § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG) ist eine Abschiebung bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. Damit wird den Anforderungen des Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO Rechnung getragen, wonach die betreffende Person die Möglichkeit haben muss, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. Zu unterscheiden sind demnach zwei Arten der aufschiebenden Wirkung: Die (herkömmliche) aufschiebende Wirkung einer Klage, die nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das Verwaltungsgericht angeordnet werden muss, und die (neu eingeführte) aufschiebende Wirkung des Eilantrags, die nach § 34 Abs. 2 Satz 2 AsylG von Gesetzes wegen eintritt. Da Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO pauschal auf Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO und damit alle dort enthaltenen Fälle verweist, erfasst die Vorschrift beide Formen der aufschiebenden Wirkung.
Soweit Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO den Fristbeginn an die „endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung“ knüpft, ist damit nicht nur die Entscheidung über die Klage, mit der die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung festgestellt wird, sondern auch die Entscheidung über den Eilantrag, mit der die aufschiebende Wirkung endet, gemeint (wie hier VG Karlsruhe, B.v. 30.11.2014 – A 5 K 2026/14 – juris Rn. 29 f.; a.A. OVG NW, B.v. 8.9.2014 – 13 A 1347/14.A – juris). In seiner allgemeinen Bedeutung umfasst der Begriff des Rechtsbehelfs auch Eilanträge auf Aussetzung der Vollziehbarkeit (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 – C-168/13 PPU – EuGRZ 2013, 417).
Für die Auslegung des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO, wonach die Überstellungsfrist bei einem fristgerecht gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung frühestens mit der Entscheidung über diesen Eilantrag beginnt, spricht vor allem der Sinn und Zweck der Vorschrift. Zu der Vorgängerregelung hat der Europäische Gerichtshof in dem Urteil in der Sache Petrosian (U.v. 29.1.2009 – C-19/08 – juris Rn. 33) bereits ausgeführt, die Überstellungfrist verfolge „in Anbetracht der praktischen Komplexität und der organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Durchführung der Überstellung einhergehen, das Ziel, es den beiden betroffenen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, sich im Hinblick auf die Durchführung abzustimmen und es insbesondere dem ersuchenden Mitgliedsstaat zu erlauben, die Modalitäten für die Durchführung der Überstellung zu regeln, die nach den nationalen Vorschriften dieses Staates erfolgen“. Es handelt sich also um eine Durchführungsfrist zur Organisation und Durchführung der Überstellung. Daher soll diese Frist erst ab dem Zeitpunkt laufen, zu dem „grundsätzlich vereinbart und sichergestellt ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird, und wenn lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben“ (a. a. O. Rn. 45). Dies ist nach der Petrosian-Entscheidung nicht der Fall, wenn eine Gerichtsentscheidung erst die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat, aber über die Klage noch nicht entschieden worden ist. Ansonsten würde sich die Umsetzungsfrist um die Zeit des Klageverfahrens, während der aufgrund der aufschiebenden Wirkung keine Überstellung möglich ist, verkürzen, was ihrem Zweck gerade zuwider laufen würde (a. a. O. Rn. 50).
Hieraus folgt, dass die Überstellungsfrist nach dem Ende der aufschiebenden Wirkung des Eilverfahrens erneut beginnt, weil erst dann die Überstellung rechtlich möglich ist und erst ab diesem Zeitpunkt der Mitgliedstaat den Zeitraum von sechs Monaten benötigt, der ihm für die Durchführung der Überstellung eingeräumt ist. Die hiermit verbundene Verfahrensverzögerung wird von dem Europäischen Gerichtshof im Interesse der Mitgliedstaaten bewusst hingenommen und kann daher nicht als Grund dafür verwendet werden, gegen Wortlaut und Systematik der Art. 27 und 29 Dublin III-VO trotz des Eintritts einer aufschiebenden Wirkung die Überstellungsfrist bereits mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs beginnen zu lassen oder im Wege einer Rechtsfortbildung von einer Fristhemmung während des Eilverfahrens auszugehen (so aber VGH BW, U.v. 27.8.2014 – A 11 S 1285/14 – juris; vgl. zum Ganzen bereits VG Augsburg, G.v. 22.10.2014 – Au 3 K 14.50135 – juris Rn. 31-33).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Gerichtsbescheid steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids schriftlich beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg Hausanschrift: Kornhausgasse 4, 86152 Augsburg, oder Postfachanschrift: Postfach 11 23 43, 86048 Augsburg, zu beantragen.
Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte, Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule im Sinn des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt oder die in § 67 Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
Anstelle des Antrags auf Zulassung der Berufung können die Beteiligten innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle mündliche Verhandlung beantragen.
Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen