Aktenzeichen J Qs 76/16 jug
Leitsatz
Der Weg des Strafbefehlsverfahrens mit Zustellung eines Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten kommt gegenüber der Anordnung der Untersuchungshaft nur dann als milderes Mittel in Betracht, wenn die Zweiwochenfrist für die Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl ab der dessen Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten zu laufen beginnen würde. Dies ist nicht der Fall, wenn der Beschuldigte unbekannten Aufenhalts ist und der Zustellungsbevollmächtigten den Strafbefehl daher nicht an den Beschuldigten weiterleiten könnte. (redaktioneller Leitsatz)
Gründe
Landgericht Landshut
Az.: J Qs 76/16 jug
Gs 750/16 jug AG Landshut
In dem Ermittlungsverfahren
…
gegen
…
Zustellungsbevollmächtigte: …
wegen Urkundenfälschung
hier: Beschwerde der Staatsanwaltschaft Landshut gegen die Ablehnung des Erlasses eines Haftbefehls
erlässt das Landgericht Landshut – Jugendkammer – durch die unterzeichnenden Richter am 24.03.2016 folgenden
Beschluss
1. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Landshut wird der Beschluss des Amtsgerichts Landshut vom 10.03.2016 aufgehoben.
2. Gegen den Angeschuldigten …, geboren am … in …, derzeit unbekannten Aufenthalts, ergeht anliegender
Haftbefehl.
Gründe:
I.
Mit Abschlussbericht der Bundespolizeiinspektion P. vom 09.01.2016 wurde bei der Staatsanwaltschaft Landshut ein Strafverfahren gegen den Beschuldigten wegen des Verdachts der unerlaubten Einreise in Tatmehrheit mit Urkundenfälschung eingeleitet. Der Beschuldigte soll am 18.11.2015 über den Grenzübergang S. nach Deutschland eingereist und zur Erstaufnahmeeinrichtung in D. verbracht worden sein. Dort soll er noch am 18.11.2015 im Rahmen seiner Registrierung einen hinsichtlich des Gültigkeitsdatums verfälschten Reisepass vorgelegt und damit, wie von Anfang an beabsichtigt, über die Gültigkeit seines Passes getäuscht haben. Der Reisepass wurde daraufhin sichergestellt. Der Beschuldigte war im Rahmen seiner polizeilichen Beschuldigtenvernehmung nach Durchführung einer ordnungsgemäßen Belehrung geständig und unterschrieb eine Zustellungsvollmacht für die Zustellungsbevollmächtigte K. am Amtsgericht P.. Der Kriminaltechnische Prüfbericht vom 14.12.2015 bestätigt eine Verfälschung des Gültigkeitsdatums des Reisepasses durch mechanische Rasur der Jahreszahl 2015 und anschließender Neueintragung der Jahreszahl 2016 mit einem vom Original abweichenden Schreibmittel. Zwischenzeitlich hat der Beschuldigte laut Auskunft des BAMF vom 02.03.2016 keinen Asylantrag gestellt und ist unbekannten Aufenthalts.
Mit Verfügung vom 04.03.2016 beantragte die Staatsanwaltschaft Landshut beim Amtsgericht Landshut – Ermittlungsrichter – den Erlass eines Haftbefehls gegen den Beschuldigten wegen des dringenden Tatverdachts der unerlaubten Einreise in Tatmehrheit mit Urkundenfälschung. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit beantragte die Staatsanwaltschaft Landshut eine Beschränkung der Dauer der Untersuchungshaft auf 90 Tage im Haftbefehl.
Das Amtsgericht Landshut lehnte den Antrag der Staatsanwaltschaft Landshut mit Beschluss vom 10.03.2016 ab. Als Begründung führte das Amtsgericht Landshut – Ermittlungsrichter – aus, dass der Erlass eines Haftbefehls unverhältnismäßig wäre, da bei der Anwendung von Jugendstrafrecht nur Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel gegen den Beschuldigten zu erwarten wären und für den Fall der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht eine Erledigung im Strafbefehlswege über die benannten Zustellungsbevollmächtigte möglich und damit als milderes Mittel im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO vorrangig wäre.
Gegen den Beschluss legte die Staatsanwaltschaft Landshut mit Schriftsatz vom 11.03.2016, eingegangen beim Amtsgericht am 14.03.2016, Beschwerde ein.
Der Beschwerde hat das Amtsgericht Landshut mit Verfügung vom 15.03.2016 nicht abgeholfen. Die Staatsanwaltschaft Landshut legte die Akten mit Verfügung vom 16.03.2016 dem Landgericht Landshut vor, mit dem Antrag, der Beschwerde vom 11.03.2016 abzuhelfen und Haftbefehl zu erlassen.
II.
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Landshut ist zulässig gemäß §§ 304 Abs. 1, 306 Abs. 1 StPO und hat in der Sache Erfolg, weil die Voraussetzung für den Erlass des beantragten Haftbefehls vorliegen §§ 112 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 113 StPO.
Der Beschuldigte ist der ihm im Haftbefehl zur Last gelegten Taten dringend verdächtigt. Der Tatverdacht beruht auf der geständigen Einlassung des Beschuldigten und wird weiter bestätigt durch den Kriminaltechnischen Prüfbericht vom 14.12.2015.
Der Beschuldigte ist unbekannten Aufenthalts, damit besteht der Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1, § 113 Abs. 2 Nr. 2 StPO)
Der Erlass des Haftbefehls ist zudem verhältnismäßig gemäß § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO. So ist der Haftbefehl im vorliegenden Fall notwendig, um die rasche Durchführung des Verfahrens einschließlich der Urteilsvollstreckung zu sichern (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58.Auflage, § 112 Rn. 8). Mildere Mittel wie die Ausschreibung des Beschuldigten zur Aufenthaltsermittlung im BZR oder die Durchführung des Strafbefehlsverfahrens unter Zuhilfenahme der unterzeichneten Zustellungsvollmacht (vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 17.08.2005, I Ws 297/05) greifen im vorliegenden Fall nicht.
Der Weg des Strafbefehlsverfahrens mit Zustellung eines Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten wäre dann ein milderes Mittel, wenn die Zweiwochenfrist für die Einlegung eines Einspruchs gegen den Strafbefehl ab Zustellung des Strafbefehls an den Zustellungsbevollmächtigten des Beschuldigten zu laufen beginnen würde. Mit Ablauf der Zweiwochenfrist würde dann unabhängig von einer tatsächlichen Kenntnis des Beschuldigten vom Strafbefehl Rechtskraft eintreten.
Laut Beschluss des EuGH vom 15.10.2015 (Az.: C-216/14) kann der Beschuldigte aber in einer solchen Situation seine Verteidigungsrechte nicht wirksam wahrnehmen. Ein faires Verfahren sei nur dann gegeben, wenn der Beschuldigte über die volle Rechtsmittelfrist verfüge, d. h., wenn ihre Dauer nicht durch die Zeitspanne verkürzt werde, die der Zustellungsbevollmächtigte benötige, um den Strafbefehl dem Adressaten zukommen zu lassen. Im vorliegenden Fall ist der Beschuldigte unbekannten Aufenthalts und die Ermittlungsbemühungen der Staatsanwaltschaft Landshut einen aktuellen Aufenthaltsort ausfindig zu machen blieben, nicht zuletzt mangels Stellung eines Asylantrages durch den Beschuldigten, ohne Erfolg. Die Zustellungsbevollmächtigte kann im konkreten Fall einen Strafbefehl daher nicht an den Beschuldigten weiterleiten. Legt man die Entscheidung des EuGH zugrunde führt dies zu einer auf unbestimmte Zeit verlängerten offenen Rechtsmittelfrist zugunsten des Beschuldigten bis dieser tatsächliche Kenntnis vom Strafbefehl und seinen Rechtsschutzmöglichkeiten erhält. Gerade bei Beschuldigten unbekannten Aufenthalts ist das Erwachsen der Entscheidung in Rechtskraft mithin unabsehbar hinausgeschoben, was zu einer empfindlichen und von Seiten der Strafverfolgungsbehörden nicht überwindbaren Lücke effektiver Strafverfolgung führt. Vor diesem Hintergrund steht die Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten im Rahmen eines etwaig möglichen Strafbefehlsverfahrens nicht als effektiv nutzbares milderes Mittel im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO zur Verfügung. Als einzige Möglichkeit bleibt der Erlass des Haftbefehls. Dieser genügt aufgrund der Beschränkung der Dauer der Untersuchungshaft auf 90 Tage auch den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO im Übrigen.
Der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Landshut daher stattzugeben und ein entsprechender Haftbefehl zu erlassen. Die Entscheidung ergeht gemäß §§ 308 Abs. 1 Satz 2, 33Abs. 4 Satz 1 StPO ohne vorherige Anhörung des Beschuldigten.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.