Verwaltungsrecht

Feststellung von Abschiebungsverboten

Aktenzeichen  M 17 K 17.35427

Datum:
16.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 55473
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, § 11
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots bezogen auf Afghanistan. Er zeigt den fortschreitenden Verlauf einer psychischen Erkrankung, die zuletzt diagnostisch als schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2 ICD-10) erfasst worden ist.  (Rn. 15 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Abschiebungsandrohung ist aufzuheben.  (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Gründe

Über die Klage konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO.
1. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
2. Im Übrigen ist die zulässige Klage auch begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hinsichtlich Afghanistans. Insoweit war der Bescheid des Bundesamts vom 13. März 2017 in den Nrn. 4, 5 und 6 aufzuheben (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 ff.).
2.1. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Die Reichweite der Schutznorm des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist möglich (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5 m.w.N. der Rspr. des BVerwG und des EuGH). Humanitäre Verhältnisse verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ seien. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen seien oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen könne – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten – eine Verletzung darin zu sehen seien, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Im Anschluss hieran stellt das Bundesverwaltungsgericht darauf ab, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen sei, verletze die Abschiebung des Ausländers Art. 3 EMRK. Der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog kann von der Gesetzessystematik her allerdings nicht herangezogen werden (BayVGH, B.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 19). Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt gleichwohl ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung angenommen werden könne, weist das ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (BayVGH, B.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 19).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. B.v. 14.1.2015 – 13a ZB 14.30410 – juris Rn. 5; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 6) kann sich eine extreme Gefahrenlage in Kabul als regelmäßigem Zielort einer Abschiebung für besonders schutzbedürftige (vulnerable) Rückkehrer wie Minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben.
2.2. Ein entsprechend hohes Gefährdungsniveau liegt beim Kläger unter Berücksichtigung der nachstehenden Ausführungen vor, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger als Rückkehrer tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
Dabei kann dahinstehen, ob der fachärztlich-psychotherapeutisch-psychologische Befundbericht vom 5. August 2019 die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG erfüllt, denn jedenfalls geht aus diesem Befundbericht hervor, dass für den Kläger bereits ein fachärztliches Attest einer Fachärztin vom 3. Februar 2018 vorliegt, ein Arztbrief des …-Klinikums (…) vom 28. September 2018 nach einem Suizidversuch des Klägers im September 2018 sowie ein fachärztliches Attest des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B… vom 29. März 2019. Diese Unterlagen belegen einen fortschreitenden Verlauf einer psychischen Erkrankung beim Kläger, die zuletzt diagnostisch als schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2 ICD-10) erfasst worden ist. Unabhängig von der darüber hinausgehend gesehenen Suizidgefahr des Klägers im Falle einer Abschiebung gehört dieser jedenfalls zum Kreis besonders vulnerabler Personen, denen – anders als jungen, gesunden Männern – nicht zuzumuten ist, sich im täglichen Existenzkampf in Afghanistan zu behaupten.
Hinzu kommt, dass der Kläger auf keinerlei familiäre Unterstützung in Afghanistan zurückgreifen kann.
Ein Abschiebungshindernis gem. § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher vor.
Hierzu wird allerdings darauf hingewiesen, dass dieses kein dauerndes Bleiberecht ist, sondern den im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) maßgeblichen Verhältnissen Rechnung trägt. Weiter wird darauf hingewiesen, dass der Kläger gehalten ist, seine persönliche und gesundheitliche Situation in einem überschaubaren Zeitraum mit angezeigten Behandlungen zu stabilisieren.
3. Aufgrund dessen waren auch die Abschiebungsandrohung und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. B.v.29.6.2009 – 10 B 60/08; Juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
5. Die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens (Nr. I. des Tenors) ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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